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Kapitel 3

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Hilde, 26. September

Schon halb sechs! Hilde schlug ihre Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. So lange schlief sie sonst nie nach dem Essen. Hatte es heute etwas Besonderes gegeben, dass sie sich so zerschlagen fühlte? Eine WG Besprechung, eine Aktion im Küchengarten oder einen Arztbesuch? Sie konnte sich nicht erinnern.

Nach dem Gang zur Toilette setzte sie Teewasser auf. Zwar konnte sie jederzeit heiße Getränke in der WG Küche bekommen, aber der Wasserkocher im eigenen Zimmer gab ihr ein Gefühl von Unabhängigkeit. Sie kramte im Vorratsschrank nach der Blechdose mit den Lavendelblüten und befüllte den Siebeinsatz ihrer Kräutertasse. Hilde genoss es jedes Mal, wenn das dampfende Wasser über die getrockneten Blüten gluckerte und ihr feines Aroma frei gab. Sie atmete tief durch die Nase ein. Wunderbar, dieser Blumenduft! Vorsichtig trug sie die heiße Tasse zum Tisch hinüber und setzte sich in den Ohrensessel. Sohn Michael hatte ihn vor Hildes Umzug neu beziehen lassen. Robuster Wollstoff mit exotischem Pflanzenmuster.

Der Blick durch das Balkonfenster war heute nicht so schön. Gleichmäßiges Grau, durchzogen mit feinem Nieselregen. Von den Blättern der Geranien tropfte es hier und da. In dieser trüben Spätsommerstimmung fiel ihr die Sammlung mit den gepressten Blumen ein. Gerade als sie das Album aus dem Bücherregal ziehen wollte, klopfte es und Almut kam herein. Sie sah irgendwie besorgt aus.

„Geht es dir wieder besser?”

Hilde wunderte sich über die Frage.

„Ging es mir denn schlecht? Komm, setz dich und trink einen Tee mit mir.”

Almut lachte erleichtert.

„Gern, aber nichts aus deiner Kräutersammlung.”

„Du weiß doch, dass ich auch Earl Grey Tee für dich habe. Das Wasser müsste noch heiß sein.” Es war schön, dass Almut sich zu ihr setzte. Ein Gespräch unter Freundinnen machte das Leben gemütlicher.

„Weißt du, wo Ruth ist?”, fragte Hilde.

„Sitzt im Gemeinschaftsraum und spielt mit Herbert und der kleinen Lisa Mensch - ärgere - dich- nicht.”

„Na dann ist es ja gut.”

Almut seufzte. „Mit Ruth ist alles wieder gut, ja. Sie hat das Rührei genossen. Aber was ist mit dir? Ist bei dir inzwischen alles wieder in Ordnung?”

Hilde überlegte. Rührei? Nicht Eintopf? Verwechselte sie den Tag?

„Alles bestens, meine Liebe. Habe nur zu lange geschlafen.”

„Kein Wunder, du hast dein Mittagessen erbrochen.”

Hilde runzelte die Stirn. Ach ja, diese schreckliche Graupensuppe.

„Von dem Geruch vorhin ist mir sowas von schlecht geworden, aber hallo!”

„Ach! Das Essen roch doch heute ganz appetitlich.”

Hilde schüttelte sich. „Aber nicht die Graupen.”

„Fandest du? Nun ja, Ruth schien sie auch nicht zu mögen.”

„Wir haben halt beide den gleichen Geschmack.”

Almut nickte. „Ja, ja, aber du scheinst mir doch die Empfindlichere von euch beiden zu sein.”

„Wieso denn das?”

„Na ja, weil dir in der letzten Zeit öfter mal schlecht wird. Hast du Probleme mit dem Kreislauf?”

Hilde überlegte. Wahrscheinlich nicht. Lag wohl doch eher an den Gerüchen. Aber darüber wollte sie nicht sprechen. War zu eklig. Also schüttelte sie den Kopf. Schnell wandte sie sich dem Lavendeltee zu, zog das tropfende Sieb aus der Tasse und legte es auf einem bereitgestellten Unterteller ab. Hob die Tasse an, schupperte an dem blumigen Duft. Nippte an dem heißen Getränk. Sommerblüten. Heile Welt.

„Wie ging es denn dann weiter bei Tisch?”

Almut spielte mit ihrem Teelöffel, schwenkte ihn rhythmisch durch die Luft.

„Weißt du das wirklich nicht? Frau Wurzbach und Frau Sommerfeld haben das Malheur beseitigt. Du bist zum Frischmachen auf dein Zimmer gegangen. Jedenfalls glaubte ich das zu dem Zeitpunkt. Niemand wollte mehr ein Dessert. Ich bin dann mit Ruth in die Küche. Wir haben Rührei gemacht und sie hat es mit Genuss verdrückt.”

Die Eieruhr klingelte. Almuts Earl Grey war fertig.

„Bin ich denn nicht auf mein Zimmer gegangen? Ich bin doch jetzt hier.”

„Vielleicht ja, vielleicht nein. Jedenfalls bist du nicht auf deinem Zimmer geblieben.”

„Sondern?”

Bevor Almut antworten konnte, klopfte jemand dezent an der Tür. Frau Sommerfeld schaute herein.

„Ach, Sie kümmern sich schon, Frau Borchers. Das ist ja schön.”

Die Stationsleiterin trat näher.

„Alles gut, Frau Körner? Freut mich, dass Sie es sich beim Tee gemütlich gemacht haben.”

„Danke für Ihre Hilfe vorhin”, entgegnete Hilde. „Tut mir sehr leid, mein Magenproblem am Mittagstisch.”

Frau Sommerfeld lachte. „Ach, wenn's weiter nichts ist. Machen Sie sich da mal keinen Kopf. Für so etwas sind wir ja da. Hauptsache, Sie fühlen sich wieder besser.”

Hilde machte eine ausladende Bewegung.

„Alles wunderbar.”

„Nach der schrecklichen Sache beim Teich vorhin dachte ich ...”

Weiter kam sie nicht, denn Almut fiel ihr ins Wort.

„Schon gut, Frau Sommerfeld. Wir sind noch nicht ganz so weit.”

„Ahhh!” Frau Sommerfeld nickte verständnisvoll. „Na, dann will ich die Damen nicht weiter stören.”

Leise zog sie die Tür hinter sich zu.

Hilde schaute Almut verblüfft an.

„Was war das denn gerade? Hab' ich noch was angestellt?”

Almut berührte kurz Hildes Arm.

„Keine Sorge. Du hast gar nichts angestellt. Bist nur nach dem Essen im Teichpark herumgeirrt. Der nette Herr von der Forst hat dich dort eingefangen und dann nach Hause begleitet.”

Hilde schnappte nach Luft.

„Du meine Fresse! Wirklich? Kann mich echt nicht erinnern. Peinlich, so was.”

„Hängt vielleicht mit deinem Erbrechen zusammen.”

Gut, dass Hilde ihren Lavendeltee hatte. Sie fühlte sich entspannt damit und konnte nun besser nachdenken. Wenn sie nach diesen Kotzattacken jetzt auch noch Bewusstseinsstörungen bekam, dann musste sie in Zukunft besser auf der Hut sein.

„Meinst du, ich sollte demnächst einfach vom Tisch aufstehen, wenn es mir mal wieder komisch wird?”

„Gute Idee. Kann jedenfalls nicht schaden.”

Almuts Lachen klang verlegen. Sie wollte nicht zugeben, wie ernst ihr die Sache war, das merkte Hilde. Kein Wunder. Ihr Gedächtnis schwächelte. War ihr selbst schon unheimlich. Und dann heute auch noch der Totalaussetzer.

Sie umfasste ihre Kräutertasse. Das Getränk war inzwischen schön warm, hatte genau die richtige Temperatur. Fast gleichzeitig mit Almut nahm Hilde einen Schluck.

„Tut immer wieder gut, so ein Tee”, sagte Almut. „Überhaupt sollten wir Alten mehr darauf achten, was uns bekommt.”

„Wie stellst du dir das vor? Soll ich jetzt immer mit einem Taschentuch vor der Nase rumlaufen?”

Almut rührte eine Prise Zucker in ihren Tee.

„Natürlich nicht. Aber man könnte zum Beispiel Frau Sommerfeld bitten, Graupensuppe grundsätzlich vom Speiseplan zu streichen.”

Hilde strahlte.

„Das wäre natürlich ein Gewinn.”

Almut strich bedächtig das Tischtuch glatt.

„Erinnerst du dich an Frau Wurzbach beim Essen?”

Ihre Stimme klang irgendwie besonders. So vorsichtig und leise. Als ob sie etwas auf dem Herzen hätte.

„Natürlich erinnere ich mich an diese bescheuerte Kuh. Nach der brauchst du gar nicht so vorsichtig zu fragen. Die hat doch Ruth zum Heulen gebracht mit ihrer Herzlosigkeit.”

Oh Gott, jetzt drückte der Magen schon wieder. Außerdem kribbelten die Unterarme. Hilde fühlte sich unwohl. Sie stand auf und öffnete die Balkontür. Kühle, feuchte Luft kam ihr entgegen. Das tat gut. Sie machte einen Schritt nach draußen, wischte mit den Fingern über die feuchten Blätter der Geranien und begann auf dem Balkon hin und her zu wandern. Almut trat in den Türrahmen.

„Geht es dir nicht gut?”

„Doch, doch. Alles super.”

Hilde strich abwechselnd über ihre Unterarme. Meist gelang es ihr, auf diese Weise das Kribbeln fortzuwischen. Durch das Laufen entspannten sich Bauch und Magen. Sie lächelte die Freundin an.

„Manchmal muss ich mir den Ärger von der Seele laufen. Weißt du ja.”

Sie machte eine Kehre und lief erneut neben dem Geländer auf und ab.

„Hast du dich denn geärgert?”

„Vorhin über die Wurzbach.”

„Komm wieder rein, ich friere”, sagte Almut schließlich.

„Gern. Wollen wir uns neuen Tee machen?”

„Es gibt doch bald Abendbrot.”

Der letzte Rest in der Tasse war kalt geworden. Er schmeckte Hilde trotzdem.

„Wenn diese blöde Kuh Ruth noch einmal ärgert, dann trete ich ihr in den Arsch.”

Hilde kicherte. Merkwürdigerweise kicherte Almut nicht zurück. Im Gegenteil. Sie schaute Hilde ernst in die Augen und legte eine Hand auf Hildes Rechte.

„Ich muss dir von der Wurzbach etwas Schlimmes sagen.”

„Von der gibt es doch immer nur Schlimmes zu berichten.”

„Hilde, bitte, Frau Wurzbach ist tot.”

Hilde zog ihre Hand zurück.

„Tot? Nee! Kann nicht sein!” Sie schüttelte den Kopf. „War doch vorhin noch da.”

„Doch, leider.”

Eine Weile war es still im Zimmer. Hilde überlegte.

„Wann soll denn das passiert sein?”, fragte sie schließlich.

„Gleich nach dem Mittagessen.”

„Ist sie überfahren worden?”

„Genaues weiß man noch nicht. Sie ist vielleicht ertrunken. Deswegen war die Polizei vorhin da.

„Ertrunken? Etwa in unserem Teich?”

„Ja.”

„Die armen Enten!”

Hilde wunderte sich. Der Tod von Frau Wurzbach machte ihr überhaupt nichts aus. Lag vielleicht am Lavendeltee. Besonders christlich war es trotzdem nicht von ihr. Respektlose Kuh hin oder her, ein wenig Mitleid hätte sie doch für die Frau empfinden müssen. Schließlich war Hilde früher einmal Betreuerin im Kindergottesdienst gewesen, da wäre ein bisschen mehr Nächstenliebe schon angebracht. Aber sie fühlte rein gar nichts.

„Es gibt aber noch etwas Unangenehmes.”

„So langsam reicht es. Was denn nun noch?”

„Ich habe dir doch vorhin erzählt, dass dich Herr von der Forst im Teichpark aufgegriffen hat.”

Hilde schluckte. „Stimmt! Und zwar nach dem Essen, sagtest du. Furchtbar. Also war ich in der Nähe, als ...” Vor Betroffenheit konnte Hilde nicht weitersprechen. Almut tätschelte ihr die Hand.

„Ja, furchtbar. Ist dir da irgendetwas aufgefallen?”

„Wie denn? Ich weiß ja nicht mal, dass ich überhaupt dort war.”

Jetzt, wo sie die Sache ausgesprochen hatte, erschreckte sie Hilde plötzlich sehr. Es war, als ob ihr Verstand erst jetzt begriffen hätte, was mit ihr los war. Mein Gott, sie hatte Absencen, irrte ohne menschliches Bewusstsein wie ein Gespenst durch die Gegend. Wie sollte das bloß weitergehen? Am besten wäre es, gleich einen Termin bei der Hausärztin zu machen. Aber Hilde hatte Angst vor der Diagnose.

Draußen auf dem Gang ertönte der Gong. Frau Sommerfeld schaute ins Zimmer.

„Abendbrot, meine Damen. Na, alles in Ordnung bei Ihnen?”

Almut seufzte erleichtert.

„Ja, alles geklärt soweit.”

„Sie sehen blass aus, Frau Körner. Ist ja auch alles ganz schrecklich. Besonders für Sie. Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen nachher etwas Gutes zum Einschlafen.”

Hilde erhob sich aus Michis Sessel und stellte die Teetassen auf das Sideboard. Sie hatte mit einem Mal großen Appetit auf saure Gurken und gebuttertes Vollkornbrot mit Emmentaler.

„Danke, das ist lieb von Ihnen. Aber Sie wissen ja, ich habe meine eigenen Kräuter.”

Unverhofft tot

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