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Kapitel 2: „Was habe ich mir dabei gedacht, Muckel?“

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Nicole starrte auf die Mail, die sie aus Tschechien bekommen hatte. >Wann können Sie kommen?< stand da. Und am Ende >Hochachtungsvoll A. Cerný

„Ich habe da einen guten Freund in Tschechien. Adolar Cerný, Graf auf einer Burg, östlich von Ostrava. Jedenfalls hat der Gute ein Problem mit seiner Bibliothek.“

Die katzenhaften grünen Augen von Sondra Wieland leuchteten. Seit etwa einem Jahr war Sondra Dozentin auf der Universität. Ihr Fachgebiet war keltische Geschichte und alte Sprachen Nord- und Mitteleuropas. Nicole arbeitete in der Bücherei der Universität und irgendwann waren die beiden Frauen ins Gespräch gekommen. Schnell hatten sie festgestellt, dass sie sich sympathisch waren. Aus Sympathie wurde Freundschaft und die beiden Frauen verbrachten nicht nur die Mittagspausen zusammen sondern unternahmen auch gelegentlich etwas am Wochenende.

Es war jetzt Mitte Februar und es war ungemütlich in Hamburg. Nicole und Sondra saßen in der Mensa und aßen ihren Salat.

„Du bist mit einem tschechischen Grafen befreundet?“, fragte Nicole amüsiert.

„Ja. Ich habe ihn durch Tom kennen gelernt und Addi hat mir bei einem kleinen Problem geholfen. Jedenfalls braucht er Hilfe in seiner Bibliothek. Seit … Generationen stapeln sich da wohl die Bücher und niemand hat jemals ein Inventar geschrieben oder sie systematisch geordnet. Und jetzt sucht er ein bestimmtes Buch und weiß nicht wo es liegt.“

Nicole schmunzelte. „Von wie vielen Büchern reden wir denn?“

„Etwa zehntausend“, platzte Sondra heraus.

Die Gabel mit der aufgespießten Tomatenscheibe blieb vor Nicoles geöffneten Mund. „Was?“ Ihre Stimme, immer ein wenig rau und heiser, quietschte jetzt.

„Ja. Und da habe ich an dich gedacht.“ Schnell schaufelte Sondra ein großes Blatt von ihrem Endiviensalat in den Mund und versuchte ihre Freundin nicht direkt anzusehen.

Nicoles Gabel fand ihren Weg scheppernd nach unten auf den Tisch. „Ich wiederhole: was?“ Sie hatte ihre normale Stimmlage wieder gefunden, klang aber auch ein wenig verärgert.

„Bibliotheken sind nicht mein Ding. Jedenfalls nicht, wenn ich nicht in kurzer Zeit finde, was ich suche. Und ein System entwickeln und anwenden, um in so was Ordnung herzustellen … nee, lass mal. Außerdem muss ich mit der Nervensäge nach Irland.“

Sondra Wieland und David Berger, ebenfalls Dozent an der Universität mit Fachgebiet Anthropologie. Nicole musste schmunzeln. Allein die Vorstellung, die beiden Streithähne in einem Flugzeug sitzen zu sehen oder gar in einem Hotelzimmer ließ sie ihre Verärgerung vergessen. Jedes Mal, wenn die beiden aufeinander trafen, flogen die Fetzen und Verbalattacken der gehobenen Art waren die Folge.

„Wenn ich dich und Berger sehe, denke ich immer an eine Kobra und einen Mungo: ein ziemlich ungleicher Tanz. Dabei würdet ihr zwei ein hübsches Paar abgeben!“

Sondra starrte ihre Freundin an. „Bist du irre? Lieber poppe ich Frankensteins Monster als auch nur einen romantischen Gedanken an diesen Idioten zu verschwenden.“ Trotzdem zog eine zarte Röte über Sondras Schläfen.

„Was soll ich jetzt mit deinem Grafen zu schaffen haben?“ Nicole brachte wieder das eigentliche Thema auf den Tisch.

„Könntest du dich nicht für zwei oder drei Monate in seine Burg begeben und ihm bei dem Problem ein wenig helfen?“

Nicole sah Sondra bestürzt an. „Zwei oder drei Monate? Zehntausend Bücher! Bei der Menge braucht man mindestens drei Jahre! Außerdem habe ich hier einen Job, falls du dich erinnerst.“

Sondra nickte. „Ich weiß, das habe ich Addi auch schon gesagt. Er schlug vor, einen Ersatz für dich in der Zeit einzustellen, den er bezahlt. Er übernimmt auch deine Reisekosten und Spesen und gibt dir noch einen satten Bonus. Außerdem kannst du auf der Burg wohnen, hättest also keinen langen Arbeitsweg.“

Nicole zupfte nervös an den Spitzen ihres langen kastanienbraunen Haares. „Du hast dir das schon alles zurechtgelegt?“

„Ja. Verdammt noch mal, dich interessiert das doch. Hier gibst du doch nur Bücher an irgendwelche Studenten heraus und sortierst sie hinterher wieder ein. Bei Adolar hast du die Chance, historische Schriften in den Händen zu halten. Jahrhunderte alte Bücher. Vermutlich sind einige Bücher bei, die seit … vielen hundert Jahren nicht mehr angefasst worden sind. Gib dir einen Ruck, Nic!“

„Und was mache ich mit Pumuckel?“

„Frage Adolar doch, ob du ihn mitnehmen kannst! Er ist wirklich ein netter … Mann, Nic. Weltoffen, verständig, intelligent ….“

„Willst du mich verkuppeln oder was?“

Sondra grinste. „Wäre doch ein netter Nebeneffekt!“

Als sie jedoch Nicoles Blick sah, erlosch ihr Grinsen. „Nic, du kannst doch nicht ewig wie eine Nonne leben.“ Ein erneuter Blick von ihr ließ Sondra resignierend seufzen.

„Du bist auch nicht gerade auf Männerjagd gegangen, nachdem Andreas gestorben ist.“

Das traf Sondra ein wenig, aber Nicole hatte Recht. Sondra hatte sich regelrecht eingeigelt.

„Ich überlege es mir, in Ordnung? Was sagt denn der Dekan dazu?“

„Adolar will mit dem Dekan reden, sobald er weiß, ob du kommst und wann.“

„Das könnte schwierig sein. Der Alte geht so ungern aus seinem laufenden Schema heraus.“

Sondra grinste wieder breit. „Glaube mir, Nic. Adolar Cerný ist ein Meister in der Überre­dungskunst.“

Gestern hatte Nicole sich nun entschlossen, das Angebot anzunehmen. Sondra hatte ihr die E-Mail-Adresse und die Handynummer von Adolar Cerný gegeben. In der ersten Mail hatte Nicole sich dem tschechischen Grafen kurz vorgestellt, ihm mitgeteilt, was Sondra ihr erzählt hatte und ihn gefragt, was ihre Aufgabe denn genau umfassen würde.

Detailliert hatte Adolar Cerný geantwortet und ihr auch beschrieben, wo seine Burg lag. Nachdem Nicole sich die Mail mehrere Male durchgelesen hatte und gleichzeitig die Lage der Burg gegoogelt hatte, bekundete sie echtes Interesse an der Aufgabe, die vor ihr liegen würde.

Dann kam heute die Mail mit der Frage, wann Nicole denn kommen könnte. Es lief ihr heiß und kalt den Rücken runter.

„Was habe ich mir dabei gedacht, Muckel?“, fragte sie ihren Hund, einen roten irischen Wolfshund. Plötzlich hatte sie Angst vor der eigenen Courage. Sicher, sie wollte und brauchte eine Veränderung.

Aber Tschechien?

Gut, sie konnte ganz gut tschechisch und der Graf selbst konnte perfekt deutsch sprechen. Und schlimmstenfalls würde sie nach einigen Tagen wieder nach Hause fahren.

Pumuckel, der Wolfshund, legte seinen schweren Kopf in den Schoß seines Menschen. Er brummte leise und sah sie treuherzig an. „Himmel, ich habe ja gar nichts von dir erzählt!“

>Sehr geehrter Herr Graf, bevor ich eine definitive Zusage gebe, wollte ich fragen, ob ich meinen Hund mitbringen könnte. Falls Sie das nicht wünschen, muss ich mich erst um eine adäquate Unterkunft für Pumuckel bemühen.

Mit freundlichem Gruß, Nicole Sanders<

Nicole drückte auf >Senden< und wartete.

Nervös stand Nicole auf und ging in die Küche, goss den Rest Kaffee aus der Kaffeekanne in ihre Tasse.

Das Telefon klingelte. >Wer ruft mich denn am Sonntagnachmittag an?<

„Sanders!“

„Guten Tag, Frau Sanders. Hier ist Adolar Cerný.“

Nicole war froh, dass sie kein Bildtelefon hatte. Die Kinnlade fiel ihr runter und sie setzte hart die Kaffeetasse ab. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war warm und extrem männlich.

„Ähm.“ Mehr brachte Nicole gerade nicht heraus. Dann räusperte sie sich. „Entschuldigung, Herr Graf. Ich bin nur überrascht. Woher haben Sie denn meine Telefonnummer?“

„Von Sondra. Sie meinte, dass ich vielleicht persönlich mit Ihnen reden möchte und das stimmt.“

>Ein Mann, der die Dinge auf den Punkt bringt. Sehr gut!< Nicole setzte sich hin und Pumuckel trabte sofort wieder heran und legte erneut seinen Kopf auf ihren Schoß.

„Ja, sehr gern, Herr Graf. Was möchten Sie wissen?“

„Zum Einen möchte ich Sie inständig bitten, mich nicht ständig mit meinem Titel anzureden. Das ist mir irgendwie unangenehm. Mein Majordomus und einige Diener auf der Burg machen das und ich bekomme das nicht aus ihnen heraus.“

>Sympathisch!

„In Ordnung, Herr Cerný.“ Sie hörte ein zufriedenes Brummen am anderen Ende der Leitung.

„Sie haben also einen Hund?“

„Ja.“

„Was für eine Rasse, wenn ich fragen darf?“

„Irischer Wolfshund. Pumuckel ist ein absolut friedliches und sanftes Tier. Ich bin regelmäßig in der Hundeschule mit ihm und er gehorcht mir wirklich.“ Nicole ärgerte sich, dass sie mehr gesagt hatte, als sie eigentlich wollte.

„Sagten Sie >Pumuckel<?“

Jetzt musste Nicole grinsen. „Rotes Fell. Als Welpe fast karottenrot. Deshalb der Name.“

Es folgten einige Sekunden des Schweigens. Adolar Cerný schien nachzudenken. Nicole überlegte, ob sie zu viel von ihrem etwaigen zukünftigen Arbeitgeber erwarten würde.

„In Ordnung, Frau Sanders. Bringen Sie Ihren Pumuckel mit. Aber leinen Sie ihn außerhalb der Burg immer an. In den Wäldern hier gibt es Wölfe und vereinzelt Bären. Und Jäger gibt es hier auch. Wann darf ich Sie erwarten?“

>Mann, der hat´s aber eilig!< „Ich denke so in zwei Wochen, wenn es Ihnen Recht ist.“

Wieder ein kurzes Schweigen, sie hörte das Blättern eines Kalender.

„Mir wäre es am Wochenende des 22. März Recht. Am Wochenende davor muss ich an einer Tagung teilnehmen. Und ich würde Ihnen gern persönlich die Bibliothek zeigen und Ihre Meinung hören, wie lange Sie in etwa für eine erste Übersicht benötigen.“

>Drei Wochen also!<

„Ja! Sehr gern. Sondra sagte, dass Sie das mit dem Dekan klären wollen, Herr Cerný?“

„Morgen Vormittag werde ich mit ihm telefonieren. Aber Sie sollten vielleicht auch gleich Morgen mit ihm reden.“

„Selbstverständlich. Ich freue mich schon auf Tschechien, Herr Cerný.“

>Verdammt! Warum hast du das jetzt gesagt?<

„Das ist schön, Frau Sanders. Ach, noch etwas. Kommen Sie mit dem Zug oder mit dem Auto?“

„Ich komme mit meinem Auto. Ich denke, ich werde Freitag früh, den 21. losfahren, dann bin ich, wenn es Ihnen passt, abends da.“

„Ja. Sehr gut. Also dann, auf Wiederhören, Frau Sanders.“

„Wiederhören.“

Nicole brauchte einen Moment, bis ihr der Ton der getrennten Leitung aus dem Telefon bewusst geworden war. Dann legte sie auf.

„Pumuckel, wir machen demnächst eine Reise in die Äußeren Karpaten. Also benimm dich bitte anständig, in Ordnung?“ Nicole ergriff den klobigen Kopf des Hundes und drückte ihre Stirn an seine.

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