Читать книгу Mein wunderbarer Wedding - Heiko Werning - Страница 9

Meine Wohngemeinschaft

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Seltsam, denke ich, während ich versonnen in meiner Müsli-Schüssel herumrühre, die Rosinen sind aber klein. Und seit wann schwimmen die überhaupt in Milch? Na ja, früher war eben alles besser. Selbst die Rosinen. Für solche krumpeligen Dinger hätte man sicher nicht extra eine Luftbrücke einrichten müssen. Da hätten die Berliner den Alliierten aber schön was erzählt: »Ey, was solln ditte, die sind ja voll mickrig, wa, die nehmt ma schön wieder mit nach Westdeutschland, die Dinger, dit wolln wa nich ma jebombt ham, wa!« Ich führe den Löffel zum Mund, um die hässlichen schwarzen Trockenfrüchte einer Geschmacksprobe zu unterziehen. Schmecken irgendwie auch gar nicht richtig nach Rosinen. Schmecken eher – schwer zu sagen. Ich betrachte die Müsli-Packung. Wieso sieht die eigentlich so zerrupft aus?, grübele ich, während ich weiter intensiv kostend die seltsamen Kügelchen mit der Zunge am Gaumendach zerdrücke. Ziemlich zerfleddert sogar, und drumherum liegen auch ganz viele von diesen Mini-Rosinen. Zerfleddert? Eher – angenagt. Angestrengt starre ich auf die schadhafte Schachtel, die kleinen schwarzen Teile daneben, werte wie ein Wein­tester bedächtig kostend, schmatzend und schmeckend die Signale aus der Mundhöhle aus – och Mönsch, nee. Das sind ja Mäuseküddel!

Jetzt bloß nicht überreagieren. Das ist doch gar nichts Besonderes. Kein Grund zur Panik. Gut, ich habe den Mund halt voll ... voll Mäusescheiße. Na und? Das ist ... das macht doch ... das sind doch auch nur Kohlenstoffketten. Ganz ruhig bleiben. Ganz langsam zum Waschbecken gehen, nicht die Beherrschung verlieren, ganz ... BOAH!

Als ich eine halbe Stunde später aus dem Bad zurückkomme, weil die Zahnpastatube leer ist, beginne ich, schonungslos die Lage zu analysieren. Eine Maus. In meiner Wohnung. Vielleicht sollte ich doch mal aufräumen.

Nach einer Woche ist die Maus immer noch da, trotz regelmäßiger mahnender Ansprachen meinerseits. Genau genommen: Offenbar ist sie inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass ich keine ernst zu nehmende Bedrohung für sie darstelle. Davon hat sie dann gleich all ihren Kumpels berichtet, und allmählich beginnt die Sache, mich ernsthaft zu nerven. Völlig schamlos huschen die Viecher durch meine Wohnung, selbst am helllichten Tag. Abends hat mir sogar eine Maus an der großen Zehe herumgeschnuppert, während ich am Schreibtisch saß. Die wissen, dass sie schneller sind, und verhöhnen mich. Außerdem: Selbst wenn ich sie erwischen würde – die Op­tion, sie mit dem Telefonbuch auf dem Teppich zu zerquetschen, behagt mir auch nicht. Ich beschließe, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In den Geschäften auf der Müllerstraße stoße ich auf mitleidloses Entsetzen: »Mäuse?«, starren mich die Verkäuferinnen im Karstadt Leopoldplatz an. Sie scheinen dieses Problem für vollkommen abwegig zu halten, irgendwas von ganz früher, von dem man mal gehört hat, oder was es nur noch in diesen merkwürdigen History-Reality-Shows im Fernsehen gibt, Das Blockhaus von 1907, und nach drei Wochen hat der Regisseur noch ein paar Mäuse ausgesetzt, damit es auch richtig authentisch wird. Ebenso gut hätte ich auch in der Apotheke Tabletten gegen Pest verlangen oder sagen können, dass bei mir im Hinterhof Wölfe lauern. Offenbar bin ich der einzige Mensch im Wedding, der Mäuse hat. Das widerspricht allerdings jeder Alltagserfahrung. Na ja, vielleicht bin ich auch nur der Einzige, der Mäuse hat, und keine Ratten. Wahrscheinlich, geht es mir durch den Kopf, bin ich einfach nur der Einzige, der ein Problem damit hat, dass er Mäuse hat. Den anderen ist es wahrscheinlich vollkommen egal. Die ganzen Hartz-IVler mögen es bestimmt, wenn sie ein bisschen Gesellschaft haben. Und endlich mal Rosinen im Müsli. Und die anderen legen vermutlich einfach ihre Wumme auf die Viecher an und freuen sich, dass sie jetzt auf bewegliche Ziele schießen können. Da haben sie auch gleich was Sinnvolles zu tun. Das ist ja das ganz große Ding derzeit. Hauptsache, man hat was Sinnvolles zu tun. Dann zündet man auch keine Autos an. Im Fernsehen gibt es jetzt regelmäßig tolle Reportagen über junge Menschen in der Großstadt, die einmal in der Woche irgendwo Fußball spielen, was sie offenbar so erschöpft, dass sie den Rest der Woche zu schwach sind, irgendwo rumzuzündeln. Vor lauter Muskelkater können die bestimmt auch gar nicht ordentlich vor der Polizei weglaufen und bleiben dann nachts lieber zu Hause. Deswegen fordert jede dieser Reportagen mehr Fußball, mehr Tanzen, mehr Rappen, egal, Hauptsache, man hat was Sinnvolles zu tun. Und dass dann der nächste telegene Schritt direkt zu uns führt, war mir sofort klar. Wenn es irgendwo in Europa Unruhen gibt, in die auch nur ein Migrant verwickelt ist, beispielsweise die immer mal wieder aufflackernden Krawalle in den Vorstädten von Paris oder Rotterdam, dann tauchen sie sofort hier auf. Schön, da braucht man gar nicht bis zum nächsten Berlin-Tatort zu warten, um mal wieder was von der Stadt zu sehen. Ich gehe dann gerne rüber zum Arabischen Club: »Leute, macht die Nachrichten an, wir kommen heute im Fernsehen!« Erwartungsvoll scharen wir uns um den Apparat, dafür wird sogar Al-Dschasira unterbrochen. Fieberhaft warten wir auf heute. »Brennende Autos in Paris – kann das nicht auch bei uns passieren?«, fragt Steffen Seibert und guckt sehr sorgenvoll, »auch bei uns gibt es schließlich problematische Viertel, wo Menschen ohne Perspektive ...« Bingo! Wusst’ ich’s doch. Ich setze auf Leopoldplatz, Tariq auf den Soldiner Kiez. »Hugo Balderwin mit einer Reportage aus Berlin-Kreuzberg.« Was für eine Enttäuschung. Von den Gästen ist ein unzufriedenes Knurren zu hören. Wir warten auf die Tagesschau. Diesmal ist es Neukölln. Pfiffe im Lokal. Verärgert gehen wir nach Hause.

Am nächsten Abend haben wir mehr Glück. Gleich als zweiter Bericht in heute: der Wedding – endlich! Beifall brandet auf im Innenhof. »Erwin, kiek ma, wir sind inner Glotze!«, höre ich Frau Kaloppke noch durchs Fenster nach ihrem Mann rufen. Tanzende türkische Jugendliche am Nauener Platz. In akzentfreiem Deutsch sagen sie in die Kamera Sachen wie: »Wenn ich mich nach der Schule mal so richtig gestresst fühle, dann komme ich hierher und tanze. Das ist gut gegen meine Aggressionen und verhindert sozial geächtete Übersprungshandlungen. Danach bin ich dann wieder sehr ausgeglichen.« Schnitt. Ein paar Häuserfronten aus der Seestraße, und der Sprecher raunt: »Auch hier brodelt die gefährliche Mischung aus Perspektivlosigkeit, fehlenden Jobs und mangelnder Integration. Doch wenigstens solche Projekte geben den Jugendlichen eine sinnvolle Beschäftigung.«

Apropos sinnvolle Beschäftigung, da läuft schon wieder so eine Maus mitten durch das Zimmer. Verdammt. Auf jeden Fall scheint der Weddinger sein Mäuse-Problem selbstständig zu lösen, ohne dafür Geld auszugeben. In keinem einzigen Geschäft gibt es Mausefallen zu kaufen. Ich muss tatsächlich bis zu einem Baumarkt nach Reinickendorf fahren, um endlich Hilfe zu finden. Man bietet mir verschiedene Sorten Gift an. Die Variante gefällt mir allerdings auch nicht so recht. Wenn ein Dutzend Mäuse – auf diese Zahl schätze ich meine Popula­tion inzwischen – sich nach dem Genuss der Köder hinter irgendwelche Schränke zurückzieht, um sich würdevoll dort hinzusetzen, eine letzte Zigarette anzuzünden und zu sterben wie eine Maus – das riecht doch sicher. Andererseits bietet der Baumarkt praktischerweise auch gleich ein größeres Repertoire gegen Fliegen an. Trotzdem: lieber nicht. Bleibt also die Mausefalle, in den Varianten archaisch mit Genickschlagbügel und modern-tier­freund­lich mit niedlichem kleinen Käfig. Ich entschließe mich zur gutherzigen Variante. Sind ja irgendwie auch süß.

Zu Hause gelingt es mir tatsächlich, die Dinger mit Käse zu bestücken. Ein bisschen skeptisch bin ich ja schon. Sieht irgendwie etwas albern aus, dieser kleine Drahtkäfig. Und da sollen die freiwillig reinklettern? Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die Mäuse offenbar nicht die geringsten Bedenken haben, in diese kleinen Drahtkäfige hineinzuklettern. Völlig zu Recht zudem. Alle Köder sind ratzekahl weggefressen, trotzdem ist keine einzige Falle zugeschnappt. Aber nach einigen Tagen habe ich wertvolle mammologisch-oekotrophologische Ergebnisse gewinnen können: Speck und Erdnussbutter mögen sie gern. Auch Shoarma, Pita und Köfte werden anstandslos verschlungen. Lachsfleisch dagegen wird verschmäht. Finde am nächsten Morgen kleine Protestnoten in den Drahtkörbchen.

Na gut. Ihr habt es nicht anders gewollt, niedlich hin oder her. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Beziehungsweise an die Eingeweide. Ich hole ein ganzes Set klassischer Mausefallen. Ich erinnere mich noch an alte Donald-Duck-Comics, wo einer der Running Gags war, dass Donald ständig die zuschnappenden Dinger an den Fingern hatte. Ich bin also gewarnt. Ich fluche, als ich gleich die erste Falle am Daumen hängen habe. Okay, die funktionieren also wirklich. Die Mäuse gucken misstrauisch vom Boden zu mir hoch. Als ich am Kühlschrank stehe, um die Köder rauszuholen, und dabei versehentlich das Päckchen mit dem Lachsfleisch in der Hand habe, höre ich Pfiffe und Pfui-Rufe von unten.

Zehn Stück stelle ich auf, sicher ist sicher. Zufrieden lege ich mich ins Bett, stecke mir Ohropax in die Gehörgänge, um nicht nachts vom beständigen Zuknallen der Fallen und den Todesschreien der Mäuse geweckt zu werden, und richte mich darauf ein, am nächsten Morgen die kleinen Kadaver einzusammeln. Lege mir schon mal die Nummer von der Tierkörperverwertungsanstalt auf den Nachttisch.

Stattdessen kann ich am nächsten Morgen zehn Fallen neu mit Ködern bestücken. Keine einzige ist zugeschnappt. Aber sobald ich eine auch nur vorsichtig an­ticke, geht sie in die Luft wie eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Keine Ahnung, wie die Viecher das machen. Wahrscheinlich ein Evolutionssprung. Bin ein bisschen stolz auf meine Kleinen und kaufe für die nächste Bestückung extra den guten Cheddar-Käse, zur Belohnung. Auch nach Tagen ist immer noch keine einzige Maus in die Falle gegangen. Eines Morgens finde ich lediglich eine Leiche kurz vor der Falle. Ihr Fell ist ganz schütter und schlohweiß, sie hat einen großen Buckel, und ihre Pfötchen sind von dicken Gichtknoten gezeichnet. Keine Frage, sie hat es nicht mehr bis zur Falle geschafft. Kurz vor dem Ziel an Altersschwäche gestorben. Ich gebe auf. Ich sammele die Fallen wieder ein und füge mich in mein Schicksal. So machen die anderen Weddinger das also, denke ich. Was soll’s. Sind ja nur ganz kleine Küddel. Und die paar Lebensmittel kann ich auch problemlos im Kühlschrank lagern.

Nach ein paar Tagen stelle ich erstaunt fest, dass die Mäuse verschwunden sind. Alle weg. Spurlos. Ich habe keine Ahnung, warum. Vielleicht macht es ihnen einfach keinen Spaß mehr, jetzt, wo ich sie nicht mehr jage. Das ist keine Herausforderung mehr für sie. Bedrückt sitze ich allein an meinem Küchentisch. Es ist still in meiner Wohnung. Ich fühle mich verlassen. Ich bin sehr einsam.

Mein wunderbarer Wedding

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