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Boulette mit Fleisch

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»Einmal Boulette mit Pommes bitte«, gab ich meine Bestellung auf. Es war eine Zeit, als der Imbiss zur Mittelpromenade noch Imbiss zur Mittelpromenade hieß und nicht wie heute You kill it, we grill it. Und es war eine Zeit, in der es nie zu etwas Gutem führt, wenn man noch am Imbiss zur Mittelpromenade steht und etwas bestellt, nämlich tief in der Nacht.

Ich kam von einem Kneipenabend zurück und war schon angenehm betrunken, und vielleicht hätte ich es besser bei diesem Ergebnis des Abends belassen und schnell ins Bett gehen sollen. Vielleicht wäre ich besser sogar sehr schnell ins Bett gegangen, dachte ich im nächs­ten Moment, als nämlich der Meister der Mittelpromenade etwas zu mir sagte, das sich für mich etwa so anhörte: »Aber die Bouletten sind heute mit Fleisch.«

Ich lauschte den Worten kurz nach, dann schüttelte ich heftig meinen Kopf, damit sich dort alles wieder zurecht­ruckeln möge, und fragte anschließend hochkonzentriert: »Was?«

»Die Bouletten sind mit Fleisch. Willste trotzdem?«

Ich starrte ihn misstrauisch an. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Er war der Mann von der Nachtschicht der Mittelpromenade, eine geachtete Respektsperson hier im Kiez. Er kannte sie alle, er sah sie alle – er sah uns alle. Jede Nacht steht er in seiner hell erleuchteten Bude im Dunkel der Weddinger Nacht, umwabert von den Schwaden, die aus seinen beiden Fritteusen aufsteigen, und blickt in stoischer Ruhe über die Kreuzung Seestraße/ Müllerstraße. Ohne erkennbare Regung nimmt er jede Bestellung von jedem entgegen, er kennt unsere dunkels­ten Geheimnisse, er hat jeden hier aus der Gegend in seinen desolatesten Momenten erlebt: Wenn er volltrunken nachts an seine Pommesbude torkelt und nach Fett oder Alkohol verlangt. Die Krankenschwester vom Virchow auf dem Weg zur Frühschicht, die sich schnell noch einen Flachmann kauft ebenso wie den McFit-gestählten Jung­macho, den seine Eroberung der Nacht vor die Tür gesetzt hat, weil er zu besoffen war, um noch einen hochzu­kriegen, oder den Prediger vom Moscheeverein gegenüber, der mit drei Currywürsten seinen nächtlichen Heißhunger auf Schweinefleisch stillt – und er, der Herrscher der Weddinger Nacht, steht in seiner Bude und gibt mit dem immer gleichen Gesichtsausdruck zwischen beichtväterlicher Diskretion und vollständiger Interessenlosigkeit aus, wonach die verzweifelten Seelen vor seinem Fenster verlangen. Kurz: Er ist niemand, in dessen Augen man sich disqualifizieren möchte, indem man zu erkennen gibt, dass man die Codes nicht kennt, dass man nicht dazugehört, dass man nicht weiß, wie der Hase durch die Rehberge läuft. Also, bloß nichts anmerken lassen. Die Boulette ist also mit Fleisch heute. Ich war mir noch nicht ganz im Klaren darüber, wie ich diese Information einordnen sollte. Jetzt war allerdings rasch eine Antwort fällig, es galt, die Abläufe nicht zu stören. Schließlich hielt er die Metallzange schon in der Hand und ließ sie wie einen Geier auf der Suche nach Aas über die Auslage kreisen, also antwortete ich lässig-routiniert: »Na klar.«

Ich sah zu wie er den Klops, von dem ich nun also immerhin wusste, dass er mit Fleisch war, packte und ins blubbernde Fett gleiten ließ, auf dass er sich dort kräftig vollsaugen möge, dann stand er wieder regungslos da und wartete. Ich tat es ihm gleich.

Nur eine Frau war noch zugegen, ich bemerkte sie erst jetzt. Sie stand etwas im Dunkeln an einem der Stehtischchen. Sie sah eigentlich zu gut und zu jung aus für Uhrzeit und Ort. Und sie war etwas zu modisch gekleidet. Sie hatte so eine Retro-Schiebermütze auf, das wirkte fast ein wenig hip. Auf jeden Fall war sie kein bisschen betrunken. Sie passte einfach nicht an diesen Ort.

Sie bemerkte, dass ich sie bemerkt hatte, und lächelte mir freundlich zu. Das ist kein sozial adäquates Verhalten nachts um kurz vor drei mitten auf der Seestraße. Sie passte wirklich nicht an diesen Ort. – Sie passte doch an diesen Ort. Denn jetzt sagte sie: »Sie wollen meine Gedanken abhören! Fast hätten sie mich erwischt, aber hier ist man sicher.«

Ich nickte verstehend. Ja, hier war man sicher. Irgendwie. Hoffentlich ist die Boulette gleich fertig, dachte ich, ich sollte wirklich langsam nach Hause.

»Hier sind die Störstrahlen zu stark«, erläuterte sie, »hier können sie nichts hören.«

Der Imbisswirt stand ungerührt an seinem Fenster und sah teilnahmslos in die Nacht. Ich nickte der jungen Frau noch einmal verstehend zu, lächelte gequält, und weil ich mich genötigt fühlte, auch etwas zu sagen, sagte ich: »Ja, hier hört nur er uns, und das macht nichts – er hat sowieso schon alles gehört.« Der Imbisswirt reagierte nicht auf diesen jämmerlichen Versuch, ihn einzubeziehen. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Müllerstraße. Sie sah erst mich, dann ihn misstrauisch an. Sie dachte nach, dann flüsterte sie: »Du meinst, er gehört dazu?« Der Imbisswirt wandte sich ab, er wirkte kein bisschen beunruhigt, aber zeigte auch weiter keinerlei Interesse, sich an unserer Konversation zu beteiligen. Er zog den Gitterkorb der Fritteuse nach oben und fischte die Boulette heraus. Ich fühlte mich zunehmend unwohl. Ich wollte nicht länger reden mit dieser Frau, also schien es mir als das kleinere Übel, eine andere Front aufzumachen. Scheiß auf die Etikette, dachte ich, dann fragst du eben: »Äh«, fragte ich also, »wieso ist denn die Boulette heute mit Fleisch?«, und genauer betrachtet war das eine dumme Frage, denn was ich ja vor allem wissen wollte, war, was da sonst immer drin ist, wenn Fleisch also der Ausnahmezustand für die hiesigen Bouletten ist. Aber es schien mir irgendwie weniger peinlich, nach dem offenbar unverhofften Fleischvorkommen zu fragen als umgekehrt.

»War ’ne falsche Lieferung heute«, sagte der Imbisswirt und hielt das offenbar für eine ausreichende Erklärung. Aus seiner Sicht war sie das vermutlich auch. Ich hätte es ja auch dabei bewenden lassen, wenn nicht die junge Frau mich so eingehend gemustert und sehr den Eindruck gemacht hätte, als wollte sie jetzt gleich wieder etwas sagen. Das aber wollte ich nicht hören, also setzte ich nach: »Ehrlich gesagt – ich dachte eigentlich, die Bouletten wären immer mit Fleisch.« Der Imbisswirt sah mich überrascht an und lachte auf. »Echt? Na, du bist ja lustig. Was meinst denn du, warum die Dinger hier nur ’n Euro fuffzich kosten?« Ich kam mir vor wie der Tourist in einer Geschichte des großen Döner-Literaten Frank Sor­ge, der nicht weiß, was er auf die Frage »Knoblauchkräuterscharf?« antworten soll. Ist das peinlich! Hier würde ich mich so schnell nicht wieder blicken lassen können. Zu allem Unglück schaltete sich nun auch noch die junge Frau ein: »Man kann sich aber schützen«, sagte sie. Dann zeigte sie auf ihre Mütze. Verschwörerisch raunte sie mir zu: »Alu-Folie! Wenn du deinen Kopf mit Alu-Folie abschirmst, reflektiert das die Strahlen! Dann können sie nichts mehr hören!«

»Auf die Pommes was drauf?«, fragte der Imbisswirt. Die Situation begann mich kommunikativ zu überfordern. Ich lächelte scheu zu der Frau, dann wandte ich mich wieder dem Imbisswirt zu: »Ja, Mayo bitte.«

Während er es aus der Plasteflasche protschern ließ, hakte ich noch einmal nach: »Woraus sind die Bouletten denn sonst immer? Tofu?« Er sah mich spöttisch an. »Willste mich verscheißern? Tofu-Bouletten? Sind wir hier ’n gottverdammter Veganer-Grill, oder was?«

»Ich glaube, es liegt an den großen Alu-Rollen«, sagte die Frau, »deswegen ist die Störstrahlung so stark hier.«

»Mensch, wenn die Dinger aus Soja wären«, führte der Imbisswirt aus, »dann würden die fünf Euro das Stück kosten. Das kannste vielleicht in Kreuzberg machen, aber doch nicht hier. Nee, was weiß ich, das hat natürlich schon irgendwas mit Fleisch zu tun, also, zumindest mit toten Tieren, wa?! Pressfleisch eben, Knorpel, Fett, Separatorenfleisch, keine Ahnung, ist ja allerhand dran an so ’nem Schwein, was weiß ich, was da so abfällt. Aber heute war’n die Teile aus echtem Hackfleisch, wa?! So richtig, wie vom Fleischer. Das siehste ja. Ist halt nicht jedermanns Sache, deshalb frag ich jetzt lieber vorher. Vorhin hat einer nämlich so ’n Teil zurückgehen lassen. Die ist total bröckelig, hat er gesagt, so was isst er nicht.«

»Die sind doch total verstrahlt«, mischte sich die Frau wieder ein. »Wir sollen das doch gar nicht merken, was die uns da verkaufen. Versuch’s mal mit Alu-Folie!« Sie zog ihre Mütze hoch und hielt mir die Innenseite vor das Gesicht. Sie war tatsächlich fein säuberlich mit Alu-Folie ausgekleidet, das Licht der Laterne spiegelte sich darin.

»Hier essen oder mitnehmen?«, fragte der Imbisswirt.

»Mitnehmen!«

In aller Ruhe wickelte er das Papptablett erst in Packpapier, dann in Alu-Folie. Die junge Frau schaute mich herausfordernd an, als lauerte sie darauf, dass ich noch einen Nachschlag Alu-Folie verlangen würde.

Schnell legte ich die abgezählten Münzen auf den Tresen, nahm mein Päckchen, verabschiedete mich und ging. Als ich an die Ampel kam, an der ich vom Mittelstreifen auf die andere Seite der Seestraße zu wechseln pflege, drehte ich mich noch einmal um. Der Imbisswirt hatte sich zum Rauchen nach draußen begeben. Er stand jetzt direkt neben der jungen Frau. Ich sah seine Zigarette aufglimmen, als er einen tiefen Zug nahm. Dann setzte er seine weiße Imbissbuden-Kappe ab. Bildete ich mir das nur ein, oder blitzte es tatsächlich silbern-schimmrig auf, als er sie auf das Stehtischchen legte? Schaudernd machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Im wilden Wedding: Zwischen Ghetto und Gentrifizierung

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