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Menschenfischer

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Unsere Hardcore-Christen werden wir wohl wirklich nicht so schnell wieder los. In ihrem Palmblatt-Café bieten sie inzwischen auch eine Rechtsberatung sowie eine Sozialsprechstunde an. Mit anderen Worten: Sie sind heimisch geworden im Wedding.

Menschenfischer sollen sie sein, das verlangte schon Lukas, und meine Vorderhauschristen nehmen ihre Sache wirklich ernst. Selbst der arabische Gemüsehändler von gegenüber, der in seinem Laden gerne mal »Tod den zionistischen Verbrechern«-Zettel sowie Flyer auf Arabisch verteilt, über deren Inhalt ich hoffentlich nie etwas erfahren werde, sitzt gerne auf den Bänken vorm Palmblatt und lässt sich für fünfzig Cent eine Tasse Kaffee servieren, die vom ursprünglichen, zugegeben noch originellen Coffee to stay längst zum missionarischen Coffee to pray mutiert ist.

Der Laden ist jedenfalls immer gut gefüllt. All diese Menschen lassen sich von den Missionaren bei Kaffee, Kuchen und Nudeln zuquatschen. Einem Teil der Besucher, die jüngst erst aus dem Libanon, aus Syrien, Ka­sachstan oder von sonst wo eingetroffen sind, wird es egal sein, die verstehen sowieso nichts. Die Nächsten sind zu betrunken, um sich daran zu stören, und dem Rest geht es wohl schlicht am Arsch vorbei. Eine perfekte Symbiose. Der Wirtskörper, die Kuchenchristen, stellt die Nahrungsgrundlage zur Verfügung und bekommt dafür von seinen Symbionten das Gefühl, im Dienste des Herrn irgendwie nützlich zu sein, weshalb beide Seiten am Ende profitieren. Im Prinzip also wie bei Seeanemone und Clownsfisch. Und Clowns, das sind sie zweifellos, unsere Missionare, fischig ja sowieso.

Direkt neben den Christen hat eine Bar aufgemacht. Eine Bar, die ich nicht verstehe. Sie gehört offenkundig dem sinistren Ägypter, der auch schon den Shoarma-Grill, eines der drei 23-Stunden-Casinos und zwei der 24-Stunden-Spätkaufs des Blocks besitzt. Der Ägypter jedenfalls taufte seine neue Bar auf den Namen Wrocwaw. Das könnte man womöglich als Missverständnis interpretieren oder als etwas geheimnisvoll Ägyptisches, was weiß man denn schon. Aber um erst gar keinen Zweifel aufkommen zu lassen, führt das Wrocwaw sowohl auf dem Namensschild als auch auf den Fensterscheiben das internationale Autokennzeichen-Signet Polens, also ein PL im EU-Sternenkreis, und schenkt polnisches Bier aus. Unser Ägypter hat also eine polnische Bar eröffnet. Eine polnische Bar, die – guter alter polnischer Tradition gehorchend – Schischas für nur zwei Euro anbietet. Und am Wochenende Transvestiten-Shows präsentiert. Erst dach­te ich, ich hätte mich verlesen. Aber da stand wirklich »Jeden Samstag: Transvestiten-Show«. Vielleicht bedeu­tet »Transvestit« auf Polnisch etwas ganz anderes? Oder auf Arabisch? Aber ein samstagnächtlicher Blick durchs Fenster belehrte mich eines Besseren. Die Transen sahen aus wie Billigtransen in Billigfilmen, und so tanzen sie vor Schischa rauchendem und Bier trinkendem, reichlich herbeigeströmtem Weddinger Publikum in der polnischen Bar Wrocwaw. Wer während der Vorstellung Hunger bekommt, geht kurz nach nebenan zu den Pfingstchristen und lässt sich ein paar Verse aus dem Evangelium samt einem Salamibrötchen reichen. Die Welt ist schon ziemlich verwirrend manchmal.

Während der letzten Fußball-WM geriet die nationale Gemengelage dann völlig aus den Fugen. Immer gab es etwas zu feiern, nach jedem Spiel fuhr mindestens ein Autokorso freudig hupend über die Seestraße. Auf diese Weise erfuhr ich zu meinem Erstaunen, dass es im Wedding offenbar sogar so etwas wie eine paraguayische Community geben muss.

Auch die Wrocwaw-Bar setzte ein Zeichen und lobte Freibier aus. Tatsächlich, Freibier. Oder, um die Kreidetafel wörtlich zu zitieren: »Freibier bei jedem deutschen Endsieg.« Der deutsche Endsieg! Ein alter polnischer Traum. Klug gewählt, ohne Frage. Und sicher von großer Werbewirkung. Aber nicht nur beim deutschen Endsieg lockte Freibier, sondern auch beim portugiesischen, wie darunter zu lesen war: »Freibier auch bei Endsieg von Portugal«. Was nun Portugal damit zu tun hat, muss vorerst ungeklärt bleiben. Weiß der Himmel. Beziehungsweise der Ägypter. Vielleicht hat der ja nur das PL falsch interpretiert und Portugal zugeordnet, woher soll er das auch wissen? Wir werden es nie erfahren.

Als ich unlängst nachts nach Hause torkelte, kam mir aus dem Wrocwaw ein junger Mann, nun ja, sagen wir medienkompatibel: südländischen Aussehens entgegen.

»Guten Abend«, begrüßte er mich ausgesucht höflich, »wo gibt es denn hier in der Gegend noch Frauen?«

Ich sah ihn verblüfft an.

»Wissen Sie«, erläuterte er, »ich bin heute Abend erst angekommen, ich bin hier zu einem Wochenend-Seminar im Palmblatt. Und jetzt würde ich gerne noch Frauen treffen.«

Ach, solche Frauen meinte er. Aber die sind doch um diese Uhrzeit längst im Bett, dachte ich ratlos. Das war ihm offenbar auch schon aufgefallen: »Das Palmblatt hat ja leider schon zu. Jetzt habe ich meinen Koffer erst mal bis morgen in der freundlichen Bar da abgestellt«, er zeigte hinter sich, er meinte tatsächlich das Wrocwaw. Freundlich? Herrjeh, kein Wunder, dass diese Christen immer an das Gute im Menschen glauben – sie sind offensichtlich blind. »Ich kenne mich hier ja nicht aus«, fuhr mein Gegenüber fort, »aber ich will noch ein bisschen was erleben, wenn ich schon mal hier in Berlin bin. Irgendwo hier in der Nähe gibt es doch bestimmt noch Frauen!«

Ich war verwirrt. Was denn jetzt für Frauen? Er bemerkte meine Irritation und lächelte nachsichtig. »Na, Sie wissen doch schon: Frauen, Mädchen, ein bisschen Spaß, Sie verstehen?«

»Wie jetzt?«, entfuhr es mir, »Spaß mit Christenmädchen? Gebetskreis? Singen? Um diese Uhrzeit?«

Er lachte: »Nein, ficki-ficki natürlich, hier in Fußentfernung, muss es doch geben, ist doch Berlin!«

Ah. Ach so. Ich erklärte ihm den Weg zur Triftsauna in der Triftstraße. Die wirbt damit, dass dort »Eva Hausfrau«, »Luci Hot« und »Ramona Nymphe« auf Besucher warten: »Hier erlebst du Hausfrauen mal nicht hinter dem Herd, sondern in heißer Wäsche mit High-Heels und teilweise auch Straps und Strumpf«, wie ein Schild im Schaufenster mit einem rätselhaft pedantisch wirkenden »teilweise« verheißt – oder gibt es in der Kundschaft auch Straps-Gegner, die sonst nicht kämen? Das sind ja so Fragen, über die man eben nachdenkt, wenn man immer mal an so einem Aushang vorbeigeht. Mehr wusste ich allerdings nicht über den Laden, aber meinem Gesprächspartner genügten die Informationen offenbar völlig.

»Haben Sie Lust mitzukommen?«, fragte er mich etwas überraschend, aber ich lehnte dankend ab. Bevor er Richtung Triftstraße losging, fragte ich ihn in einer Aufwallung von Nächstenliebe noch, ob er jetzt allen Ernstes bis morgen seinen Koffer im Wrocwaw lassen wolle, aber er lächelte nur und sagte: »Man muss den Menschen trauen. Der Herr weist uns den Weg.« Dann bedankte er sich freundlichst, reichte mir die Hand zum Abschied und lief los Richtung Triftstraße. Der Menschenfischer ging auf Beutezug. Den Weg allerdings hatte nicht der Herr ihm gewiesen, sondern ich. Wenn uns das mal nicht noch allesamt ins Fegefeuer bringt.

Im wilden Wedding: Zwischen Ghetto und Gentrifizierung

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