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Tauwetter

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Draußen taut es. Im Innenhof ist ein kleiner Körper aus den Schneemassen ans Tagelicht getreten. Eine Ratte. Wochenlang tiefgefroren, unter Schnee begraben, nun ragt sie schon zur Hälfte aus dem Eis. Der Ötzi der Seestraße 606.

Im Briefkasten liegt ein Brief. Ich bin erstaunt. Denn der Brief ist ohne Absender und nicht mal in einem Briefumschlag, der Brief ist genau betrachtet ein Zettel, und auf dem wird zur Revolution aufgerufen. Wir, das Volk der Seestraße 606, sollen uns erheben gegen den Tyrannen, die Hausverwaltung Z.B.-Immobilien. Die nämlich, so erfahre ich in der anonymen Brandrede, verlange hohe Mieten, aber kümmere sich nicht um ihre Aufgaben. In der Folge verkomme das Haus, und man traue sich schon gar nicht mehr, Besuch einzuladen.

Ich bin verwundert. Dieses Schreiben wirkt nicht authentisch. Erstens: welche hohen Mieten? Oder hat sich das kürzlich aus Westdeutschland zugezogene Girl’s Camp im dritten Stock betuppen und sich den Wedding als Mitte andrehen lassen? Ansonsten wirkt die Aussage mit den hohen Mieten nämlich eher so wie die eines Querulanten beim Lidl in der Müllerstraße am Regal mit den Fleischabfällen, der sich lauthals im Selbstgespräch beschwerte: »Für das Geld kann man ja wohl auch Qualität verlangen!« Und zweitens: wieso Besuch einladen? Wer käme denn hier auf die Idee, Besuch einzuladen, der sich daran stören könnte, wie es hier aussieht?

Das Schreiben listet diverse Skandale aus der jüngeren Hausgeschichte auf. Einen Ausfall der Flurbeleuchtung, für den wir 1 % unserer Miete einbehalten sollen, was durch irgendwelche Gerichtsurteile, die gleich dazu zitiert werden, gedeckt sein soll. Der Lichtausfall war mir auch aufgefallen, und zwar vor allem deshalb, weil er überraschend schnell behoben worden war; am Sonntagnachmittag blieb es dunkel, am Freitagmittag war es schon wieder hell. So etwas ist eigentlich nicht üblich hier. Ich hatte kurzzeitig schon Angst, dass es vielleicht doch allmählich losgeht mit der Gentrifizierung.

Weitere Vorwürfe folgen: Es liege Müll herum (2 %), die Müllabfuhr komme nicht regelmäßig (4 %). Es gab einen Tag lang kein Wasser (1,5 %). Die Haustür schließt nicht richtig (1 %). Das Wetter im Innenhof ist schlecht (3 %). So was halt. Wir werden deshalb aufgefordert, unsere Miete zu mindern oder nur unter Vorbehalt zu zahlen. Wie gesagt: Ein Hauch von Umsturz liegt in der Luft.

Aber wer von den Hausbewohnern könnte hier den Aufrührer im Untergrund geben? Ich bin ratlos. Ist das Schreiben politisch motiviert? Immerhin wird die Hausverwaltung von einem Herrn mit türkisch klingenden Namen angeführt. Sind das schon die Folgen der immer exzessiveren Islamkritik? War Henryk M. Broder bei uns am Briefkasten? Oder waren es gar die Christen aus dem Palmblatt-Café im Vorderhaus? Die sind immerhin missionarisch. Wollen sie auf diese Weise die Moslems zurückdrängen? Andererseits: Wäre das nicht ein wirklich berechtigter Mietminderungsgrund, dass die da vorne im Haus residieren – mindestens 10 % für die Halleluja-Chöre, die durchs Fenster in den Innenhof dringen? 5 % für die Jesus-Filme, die sie vorne im Schaufenster laufen lassen? Das ist peinlich, wenn mal Besuch kommt!

Wer sonst könnte das seltsame Schreiben verteilt haben? Hoppe scheidet aus, der kann nicht mal schreiben. Das Künstlerpaar scheidet aus; ich sehe durch mein Schreibtischfenster, wie es kopfschüttelnd den Brief in den Altpapiercontainer wirft. So macht es auch ein weiterer Hausbewohner nach dem anderen. Langsam wird es eng. War es doch Robert Rescue, unser Hartz-IV-Bezie­her aus Leidenschaft? Haben sie ihm das in seiner letzten Maßnahme vom Jobcenter beigebracht? Ist das deren neuster Trick zum Sparen bei den Hartz-IV-Bezügen, dass sie die Kunden einfach anhalten, die Miete zu mindern, damit der Staat weniger Wohnungskosten übernehmen muss? Ich werde ihn im Auge behalten.

Ich kann das Rätsel letztlich nicht lösen. Nur eines ist klar: Wir haben einen Querulanten im Haus. Eine undichte Stelle. Einen Maulwurf.

Mein Blick fällt auf die inzwischen gänzlich aufgetaute tote Ratte. Direkt dahinter ist der Innenhofgletscher zu einem beachtlichen Berg aufgetürmt. Da könnte durchaus noch ein ganzer Mann im Eis eingeschlossen sein. Vielleicht ein Mitarbeiter der Kammerjägerfirma Rentokill, die seit Jahren im Auftrag der Hausverwaltung einen vergeblichen Kampf gegen die Nagetiere der Umgebung führt, von der wir jetzt aber schon auffällig lange niemanden mehr gesehen haben, wie das Aufrührerschreiben bemängelt (Schädlingsbefall, 2 %). Das ist vielleicht gar nicht die Schuld der Hausverwaltung. Vielleicht ist die letzte Runde einfach unentschieden ausgegangen. Wenn es weiter so taut, wird der Mann morgen frei im Hof liegen. Ich denke, dafür ist dann aber wirklich eine ordentliche Mietminderung fällig.

Im wilden Wedding: Zwischen Ghetto und Gentrifizierung

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