Читать книгу Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko Hentschel - Страница 12

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Die Tür des Wagens schwang auf und Konstanze flog in Moritz’ Arme. Sie zitterte am ganzen Leib. Auf dem Pflaster stand Dr. Julius Mehltau und starrte hinauf zum Dach des Dampfwagens. Seine Körperhaltung ließ erkennen, dass er das Mädchen in den Wagen gestoßen hatte, um es vor irgendetwas zu schützen.

Ein Geräusch hallte vom Dach. Krallen schabten über Metall. Dann schoben sich bleiche Klauenhände um die Oberkante des Türrahmens. Ein gewaltiges Biest sprang herunter. Sein Fell schimmerte weiß wie Schnee, sein Körper füllte die schmale Tür mühelos aus. Es war fast zwei Meter groß. Eisblaue Augen funkelten wie Diamanten und eine lange, spitze Schnauze stieß ein raues Heulen aus.

»Ein Werwolf!«, brüllte Moritz. Er stolperte rückwärts und zog Konstanze mit sich. Er fiel über Käfige, Bücherstapel und Körbe, während das weißhaarige Biest seine breiten Schultern durch die Tür zwängte. Der Werwolf fletschte die Zähne und setzte zum Sprung an, als ihn etwas am Hinterkopf traf: ein Herrenschuh mit verschnörkelter Schnalle.

Die Bestie wandte langsam den Kopf. Ihr Blick ruhte auf Dr. Mehltau. Der junge Arzt wollte soeben den zweiten Schuh zur Hand nehmen, um ihn in ein Wurfgeschoss zu verwandeln, erkannte aber scheinbar, wie albern die Idee war, denn er ließ den Schuh fallen und rannte davon.

Moritz zerrte Konstanze, Helene und die Elster tiefer in den Wagen hinein – die Bestie stürzte hinterher. Sie drängten sich in der letzten Ecke des Dampfwagens an die Wand, der Werwolf vor ihnen füllte den Raum bis unter die gebogene Decke aus.

Moritz fischte einen Teleskopstock aus einem Werkzeugkorb und betätigte einen der Knöpfe. KLICK! Der Stab verlängerte sich und traf die Bestie auf die Brust. Das Ungeheuer rang nach Luft. Für Moritz Zeit genug, um sich zu orientieren. Da, der Vor­hang zu Edgars früherem Arbeitszimmer! Der Schrecken ließ ihn jegliche Schmerzen vergessen und er hetzte los – der Werwolf japsend hinterher. Im Laufen löste Moritz den dritten Knopf aus und verwandelte den Stock in eine Klinge. Mit einem Hieb durchtrennte er die Vorhangschnur, die den Durchgang markierte. Der Stoff schwang in einer Welle aus Purpur und Gold in den Raum. Die Bestie krachte hinein und riss den Vorhang von der Stange. In einem zappelnden Wust aus Brokat und Kordel schlug sie der Länge nach hin.

»Wir brauchen Silber! Schnell!«

Helene ergriff eine der dicken Stricke, die wie Schlangen über den Boden tanzten. Die Elster krallte sich eine weitere im Flug und ließ sie in ihre Hände fallen. Helene packte die Enden und zog. Mit einem Ruck raffte sich der Stoff und der Oberkörper des Wolfes steckte wie in einem Sack fest. Er knurrte und wehrte sich unbändig. Dabei schnürte er sich immer weiter ein. Eine Klaue bohrte sich durch den Stoff und zerfetzte ihn mit einem scharfen Geräusch. Helene wich zurück.

Unterdessen kauerte Konstanze unter einer Werkbank und wühl­­­te in Körben und Kisten. »Verdammt, wo steckt das Ding bloß?« Sie fand einen tiefen Kasten und verschwand darin.

Moritz hingegen leerte die Schubladen an Edgars altem Ar­­beits­­­­platz. Wo war der Silberbolzen? Schon tausend Mal hatte er die uralte Pistole in den Händen gehabt – groß, sichelförmig, aus purem Silber. Moritz’ Kopf dröhnte und sein Körper schmerzte. Alles schien sich an der falschen Stelle zu befinden. »Wo nur? WO?!«, fluchte er.

Der Kopf des Werwolfes drückte sich durch den Vorhangstoff. Zuerst die Nase, dann die hochgezogenen Lefzen, schließlich der Rest des Schädels. Der Kopf war frei. Kalte Augen suchten den Wagen ab und entdeckten Helene. Eine Kralle zwängte sich durch das Loch am Maul vorbei und langte nach ihr. Mit den Hinterläufen kratzte das Untier über den Boden. Ein Ruck stoppte den Wahnsinnigen, als der Vorhangstoff zwischen Dielen­­­­­brettern und Metallplatten hängen blieb.

Helene wich zurück, bis sie gegen ein Regal stieß. »Beeilt euch!«

»Ich hab’s gleich«, schrien Moritz und Konstanze gleichzeitig von gegenüberliegenden Seiten.

Die Bestie riss am Stoff und seine Krallen erwischten Helenes Unterarm. Schützend zog sie ihn zurück.

Konstanze sprang hinter der Werkbank hervor, als der Wer­wolf einen weiteren Vorstoß wagte. Er schnappte nach Helene, wieder und wieder. Die Elster flatterte aufgeregt dazwischen, ver­­suchte nach den Augen des Monsters zu hacken, doch sie konnte nichts ausrichten.

Moritz sah, wie Konstanze mit einer Waffe in der Hand auf das Fellbiest zurannte. »Nein, warte, das ist –«

Der Werwolf wandte ihr den Kopf zu.

PAFF!

»Nachtschattenpulver!«, würgte Moritz hervor, als Konstanze den Abzug betätigte. Eine Ladung Dunkelheit explodierte in der Schnauze des Werwolfs. Beißende Schwärze hüllte den Wagen in Sekunden ein. Moritz’ Lungen füllten sich mit Qualm.

»Ich weiß«, hustete Konstanze.

Der Werwolf röchelte stoßweise. Er winselte in der Dunkelheit und schien die Orientierung verloren zu haben, so wie Moritz.

»Konstanze? Helene? Wo seid ihr?«

»Hier!« Wieder ein Husten. »Hier drüben!«

Langsam lichteten sich die blauschwarzen Schwaden. Sche­men­­haft konnte Moritz die Umrisse von Helene und Konstanze erkennen. Sie kauerten hinter einem umgekippten Regal, während die Elster herumflatterte. Der halb eingewickelte Werwolf befand sich zwischen ihm und den Mädchen. Die Bestie wälzte sich auf dem Boden, zog und zerrte am eingeklemmten Stoff und verknotete sich weiter. Seine Schnauze spie schwarzen Speichel aus.

Moritz musste ohne Silberbolzen zu Helene und Konstanze. Er spannte die brennenden Muskeln an, setzte zurück und stieß sich ab. Mit einem Satz war er in der Luft und sauste über das zuckende Fellbündel hinweg. Auf dem Höhepunkt seines Sprungs bäumte sich der Werwolf auf. Ein Gebiss, das wie eine Bären­­falle aufklappte, schnappte nach Moritz’ Bauch und verfehlte ihn um Haaresbreite.

Moritz krachte gegen das Regal, hinter dem sich die Mädchen verschanzt hatten, überschlug sich und landete auf der anderen Seite der Barrikade. Nach Luft schnappend suchte er das nächstbeste Bullaugenfenster, das groß genug war, um hindurchzukriechen, und ließ seinen Teleskopstab darauf zuschnellen. Es zer­­brach mit einem Klirren.

»Raus da, los!«, brüllte er, während der Vorhang hinter ihm voll­­­ends riss und der Werwolf frei war.

Das Monstrum sprang, als die Mädchen zu klettern begannen.

Moritz blieb nichts anderes übrig: Er breitete die Arme aus und warf sich dem Ungetüm entgegen. Der Aufprall nahm ihm schier den Atem. Er krallte sich im Pelz der Bestie fest und wurde hin- und hergeworfen. Klauen gruben sich in sein Fleisch und fügten ihm Schmerzen zu, die seinen Körper in Brand steckten. Dann wurde Moritz fortgeschleudert und blieb zwischen Käfigen und Büchern liegen. Der Werwolf drehte sich verwirrt um sich selbst, bis sein Blick auf Moritz fiel – die Zecke in seinem Fell.

Das Untier heulte und röchelte in blanker Raserei. Seine vom Nachtschattenpulver geschwärzte Schnauze senkte sich herab und Moritz roch fischigen, heißen Atem.

Ein heiseres Wimmern entrang sich Moritz’ Kehle. Er fürchtete, die Kreatur würde ihm in nächsten Moment das Gesicht wegreißen – doch sie biss nicht zu. Sie schnüffelte nur, inhalierte, tastete ihn mit ihrem Geruchssinn von oben bis unten ab.

Dann verharrte der Werwolf. Sein Schnüffeln wurde sanfter, fast zärtlich, als fürchtete er, sich die Nase zu versengen. Er witterte etwas, tastete sich mit all seinen Sinnen voran. Was auch immer er wahrnahm, hielt ihn gleichzeitig auf Abstand. Ehe Moritz einen weiteren Gedanken fassen konnte, hob der Wer­wolf seinen Kopf und richtete sich zu voller Größe auf. Er warf Moritz einen letzten Blick zu, dann zwängte er sich durch die schmale Hintertür und verschwand in der Nacht.

Moritz zitterte. Er versuchte, sich zu bewegen. Seine Arme wa­­ren schwer wie Blei. Langsam wandte er den Kopf. Die Schmer­­zen raubten ihm fast den Verstand.

Der Wagen war nicht wiederzuerkennen. Käfige waren aufgebrochen, Regale umgekippt, Stoff hing in Fetzen von der Decke, Glasscherben lagen überall verstreut.

Quälend langsam drehte er sich auf die Seite und kroch durch den Wagen. Zentimeter für Zentimeter schob er sich voran, durch Scherben, Holzsplitter und Dreck. Seine Finger krallten sich in die Fugen der Dielen und zogen den schmerzenden Körper vorwärts. Er musste zu Konstanze und Helene, musste sie beschützen!

Tränen schossen ihm in die Augen. Die Hintertür kam langsam näher. Die kühle Nachtluft wehte in den zerstörten Wagen und durchbohrte seine Lunge. Sie schien brennende Löcher in seinen Körper zu stanzen.

Mehrere Augenpaare beobachteten ihn. Einige der Kreaturen, die vor ihren zerbeulten Käfigen hockten, sahen interessiert zu, wie er sich bäuchlings vorwärtsbewegte. Langsamer als langsam. Selbst ein Scheußlich-schädlicher Schnickschnack hätte ihn in seiner derzeitigen Verfassung überholt.

Moritz gab nicht auf. Die Hintertür kam in Reichweite. Er streck­­­te seinen rechten Arm aus, umfasste den Rahmen und zog sich nach vorn. Sein Schädel drohte zu zerspringen. Halb hing er aus dem Wagen, dann versuchte er, ein Bein anzuwinkeln. Er fand Halt an einem Regal und schob sich heraus. Wie ein nasses Wäsche­stück klatschte er auf das Pflaster und blieb auf dem Bauch liegen.

Moritz wandte den Kopf, so gut es ging, und spähte unter dem Wagen mit seinen riesigen Speichenrädern die Straße hinauf. Schatten bewegten sich. Schmutzig weiße Pfoten. Der Werwolf drehte sich um sich selbst. Ein Schnüffeln hob an.

Plötzlich ein Poltern, gefolgt von einem unterdrückten Schrei.

»Konstanze …«

Moritz kniff die Augen zusammen, dann entdeckte er sie im fahlen Mondlicht. Seine Schwester stand keine zwanzig Meter entfernt an einer hohen Mauer, mitten auf einer kleinen Schutthalde. Kisten, Bretter, Fässer und Müll stapelten sich dort. Helene und die Elster waren bei ihr. Sie halfen Konstanze, den unter ihren Füßen nachgebenden Berg zu erklimmen und versuchten sich gemeinsam über die Steinwand zu retten.

Moritz hörte Schritte über das Pflaster patschen. Dr. Mehltau rannte auf den Werwolf zu. Er hatte offensichtlich seinen Mut wiedergefunden und hielt etwas Rasselndes in der Hand: eine Eisenkette. Der Doktor lief am Dampfwagen entlang, stoppte auf halber Strecke und hantierte am Fahrzeug herum. Schließlich hastete er weiter.

Der Werwolf sprang den Mädchen hinterher. Die Elster sauste ihm entgegen und attackierte ihn im Flug. Die Bestie schnappte nach ihr und krachte ungebremst in den Schutthaufen. Die Hinterbeine des Untiers strampelten und seine Krallen schabten übers Pflaster. Der Werwolf sprang an Kisten und Fässern hoch und versuchte die Mädchen zu schnappen, als sich unvermittelt eine Kette um seinen Hals legte.

Dr. Mehltau stieß einen hellen Triumphschrei aus – und zuckte zurück. Der Werwolf riss an der Kette, verlor den Halt und krachte vom Schutthaufen auf die Straße vor die Füße des Arztes. Der schrie auf und rannte in entgegengesetzter Richtung die Straße hinunter – vorbei am Wagen und an Moritz. Die Bestie wetzte mit klirrender Kette hinterher.

Moritz sah den beiden kurz nach, aber dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Die Kette, die immer noch um den Hals des Werwolfes hing, spannte sich mit einem metallischen Ruck und der Wagen geriet ins Rollen.

Moritz versuchte fortzukriechen, doch es gelang ihm nicht. Seine Arme protestierten und die Beine waren wie gelähmt. Mühsam blickte er über die Schulter und sah, dass seine Füße genau in der Fahrrinne lagen. Sie würden überrollt und zerquetscht werden.

Der Wagen knirschte auf dem Pflaster. Die Räder holperten erst über einen Stein, dann noch einen und noch einen. Sie kamen auf Moritz zu. Ein Stück weiter die Straße hinunter zog der Werwolf wie von Sinnen an der Kette und brachte das Fahr­zeug in Schwung.

Moritz krallte sich in den Lücken der Steine fest und versuchte sich fortzuziehen. Fort von den Rädern, fort von dem malmenden Geräusch, das sie erzeugten. Doch er hatte keine Kraft mehr. Jede Bewegung schmerzte und raubte ihm fast die Sinne. Weg hier, schnell!, brüllte die Stimme in seinem Kopf, doch sein Körper war taub.

Hilflos sah er die Räder auf sich zukommen, als er gepackt und fortgezerrt wurde. Ein Schmerz raste durch seinen Körper und ließ ihn aufschreien. Tränen schossen ihm in die Augen. Das Fahrzeug glitt außer Reichweite, bis es keine Gefahr mehr dar­­­stellte. Das kolossale Vehikel aus Holz, Metall und Glas rollte die leicht abschüssige Straße hinunter, begleitet von brachialem Scheppern.

Moritz’ Körper kam zum Liegen. Da waren große Hände, ein gerötetes Gesicht und dunkle Haare. Rita. Sie hatte ihn behutsam auf den Stufen der Schwarzen Katze abgelegt.

»Beweg dich nicht«, sagte sie.

Ein guter Witz – der beste heute Nacht. Doch Moritz’ Gal­gen­humor erstarb, als er Ritas Augen sah. Sie verrieten ihm, dass er übel zugerichtet war. Ihre Hände glänzten von seinem Blut.

»Der Wagen«, keuchte er.

Rita schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht wichtig.«

Moritz versuchte, sich zu erheben. »Unsere Aufzeichnungen …«

Schritte näherten sich. Helene und Konstanze kamen herbei. Und die Elster. Sie krächzte aufgeregt.

Moritz hörte gar nicht, was sie sagten. Er starrte die ganze Zeit nur Rita an und Rita starrte zurück. »Der Wagen«, flehte er. »Bitte!«

Ritas Ausdruck war so voller Mitleid, dass er glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, biss sich auf die Unterlippe und rannte dem Wagen hinterher.

Moritz wollte erleichtert seufzen, doch er hielt sofort inne, denn es bereitete ihm Höllenqualen. Konstanze streichelte ihn mit tränenüberströmtem Gesichtchen. Jede ihrer Berührungen ließ ihn vor Schmerz aufstöhnen. Er konnte Helenes zerfetzten Ärmel sehen und die Wunde, die der Werwolf in ihren Arm geschlagen hatte, doch sie blutete nicht.

Moritz drehte den Kopf, so weit er konnte. Am unteren Ende der Straße flammte ein gelber Blitz auf. Eine Stichflamme schoss in den Nachthimmel hinauf. Der Dampfwagen! Er lag umgekippt und verkeilt zwischen den Häusern. Aus seinem schweren Metallbauch loderte eine Feuersäule empor. Moritz spürte die Hitzewelle selbst hier an den Stufen des Wirtshauses.

»Nein«, murmelte er schwach. Die vielen Monster, die Boogel­bies, der kleine Fips, die Aufzeichnungen und Er­­inne­run­gen an Edgar … alles brannte.

Rufe vermischten sich mit dem Heulen des Werwolfes, das irgendwann abriss. Moritz glaubte, unheimliche Geschöpfe zu erkennen, die sich aus dem brennenden Wrack befreiten und seelenruhig über das Pflaster spazierten. Sie vermischten sich mit fremden, menschlichen Schemen, die aus ihren Häusern gestürmt kamen und nach Löschwasser riefen.

Doch in all dem Chaos achtete Moritz nur auf Ritas gewaltige Silhouette: Sie stand wie angewurzelt da und starrte in die Feuers­brunst. Sie kam zu spät.

Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2)

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