Читать книгу Das flüsternde Glas (Glas-Trilogie Band 2) - Heiko Hentschel - Страница 9
ОглавлениеWo war Moritz? Helene ließ die Armbrust sinken. Die vereisten Fangarme erstarrten vor ihrem Gesicht und bildeten eine unheimliche Skulptur. Sie erinnerten an geschwungene, mit Dornen verzierte Schwanenhälse. Das Eis zerbrach, als sich die Fangarme bewegten, und ließ nur abgebrochene Tentakelspitzen zurück. Die Mimose heulte auf.
Helene spähte durch das Dickicht. Das Durcheinander wand sich ohne erkennbares Muster und schien nur auf Zerstörung aus. Und mittendrin steckte Moritz! Er kämpfte sich vor, schnitt und hackte in die Tentakel und versuchte zum Zentrum des Monsters zu gelangen. Seinem Kopf.
Helene schloss sich ihm an, feuerte die Glasgeschosse ab und sah zu, wie ihre selbstgebraute Mixtur wahre Wunder wirkte.
BLAMM-BLAMM!
Sofort stießen neue Dornenarme nach. Sie schlugen nach ihr, schnappten nach ihren Füßen und ihrer Waffe – doch Helene ließ sich nicht beirren. Sie lief weiter, auch wenn die Stacheln ihr blutrotes Kleid zerfetzten und ihre Haut aufritzten. Sie spürte keinen Schmerz. Einer der Vorteile, wenn man untot war.
BLAMM!
Die Ranken vereisten zwar, doch augenblicklich wuchsen wieder neue empor.
»Moritz, das funktioniert nicht«, rief sie in das Gewühl. »Es sind zu viele!«
Moritz wandte den Kopf. »Ich kümmere mich darum!«, brüllte er. »Hilf Konstanze!«
BLAMM!
Helene versuchte ein weiteres Mal, durch die Ranken zu gelangen. Es hatte keinen Sinn. Sie brauchten etwas Stärkeres.
RATT-TATT-TATT!
Die Fangarme vor ihr zerplatzten wie Kohlköpfe. Pflanzenfasern spritzten überall hin.
»Brauchst du Hilfe, mein Täubchen?«, fragte eine Stimme.
Helene drehte sich um und entdeckte eine kolossale Frau. Sie trug eine Waffe um den Hals, die eine Mischung aus Schnapsfässchen, Zapfhahn und doppelläufigem Ofenrohr war. Das Gebilde wirkte tonnenschwer, doch die Frau hatte Oberarme wie Baumstämme. Neben der Fremden stand Konstanze. Sie hatte eine ähnliche Waffe in der Hand – allem Anschein nach die kleinere Schwester dieses wuchtigen Schießeisens.
In Helenes Kopf entstand ein Bild: Es war, als ob hier Zukunft und Vergangenheit aufeinanderträfen. Konstanze und die fremde Frau schienen vom selben Schlag. Beide wirkten aufgeweckt, entschlossen und angriffslustig. Rotwangige Schönheiten, mit denen nicht zu spaßen war.
»Ich brauche keine Hilfe«, sagte Helene, »aber er.« Sie deutete auf den Tumult, in dem Moritz kämpfte.
»Dann sind wir hier richtig«, sagte die Frau und nickte Konstanze zu. »Los, junge Dame!«
Das ohrenbetäubende Geräusch knatternder Waffen vermischte sich mit den Schreien der Mimose, als das Fleisch der Ranken in Fetzen gerissen wurde. Konstanze rannte nach rechts, während die Frau die linke Seite übernahm. Gemeinsam umrundeten sie das Pflanzenwesen und beschossen es aus allen Winkeln. Die Elster segelte über sie hinweg und wich geschickt zwei Querschlägern aus.
Helene konzentrierte sich auf die Fangarme, an denen die Männer hingen, und schoss.
BLAMM!
Die Mimose erzitterte. Ihr Kreischen und Wehklagen wurde stetig lauter.
Moritz’ Kopf dröhnte. Sein Körper war mit Rissen und Kratzern übersät und sein Gesicht brannte wie Feuer. In den vergangenen zwei Jahren waren ihm unterschiedlichste Kreaturen begegnet, aber diese hier schien entfesselter zu sein, als alle, die er bisher erlebt hatte.
Auf Moritz’ Rücken pleurrte Brummi in seinem Käfig. Der altersgraue Boogelbie hielt sich tapfer. Wo dieses besonnene Exemplar sonst nur brummte und grummelte – weshalb ihm Konstanze diesen Namen gegeben hatte –, machte es heute Nacht seinen Artgenossen alle Ehre.
Mehrere Rankenarme knallten immer wieder gegen den Käfig und versetzten ihm heftige Schläge. Doch Moritz ließ sich nicht beirren.
Am zweiten Tag, als Moritz von seinem Freund und Meister Edgar van Lichtholm in die Wissenschaft der Monsterkunde eingeführt worden war, hatte er gelernt, dass der Kopf einer Mimose einen wunden Punkt besaß: das Horn. Es saß mitten auf der Stirn, direkt über den Augen und dem Schnabel, und war das Kraftzentrum der Bestie.
Wenn er es abschlagen konnte, wäre der Kampf beendet und die Männer gerettet.
Moritz kämpfte sich voran, hackte und stach mit dem Schwert und versuchte zum Haupt des Untiers vorzudringen. Es lag verborgen unter Tentakeln, Dornen und wuselndem Gewirr.
Er bemerkte nicht, wie die Kreatur begann, ihre inneren Arme einzudrehen und einen Kokon um ihn und ihren Kopf zu bilden. Dornige Schlingen flochten ein zwiebelartiges Gefängnis. Eng und tödlich.
BLAMM!
Die Mimose zuckte. Helene beobachtete, wie sich die Struktur der Fangarme veränderte. Von einer zur anderen Sekunde ließ das Monstrum die gefangenen Männer los und sammelte sämtliche Ranken aus dem Wirtshaus über dem Loch. Während die Losgelassenen kopfüber auf dem harten Trümmerboden landeten, pressten sich die Pflanzenarme aneinander und schufen einen Käfig, der sich wie ein Dutt zusammendrehte. Moritz verschwand darin.
Konstanze und die Frau namens Rita stellten das Feuer ein und rannten zu den bewusstlosen Männern. Helene jedoch blieb ruhig stehen. Sie hatte begriffen, was vor sich ging. Die Kreatur hatte ihre Beute freigegeben, weil sie ein neues Ziel hatte – Moritz. Sie wollte ihn ersticken.
Moritz klammerte sich an den Ranken fest, die ihn umgaben, schob sich kopfüber nach unten und spürte, wie die Dornen seine Hände durchstachen. Er wusste, dass sie nicht giftig waren, aber sie verursachten brennende Schmerzen. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom Kopf des Monsters.
Auf seinem Rücken wurde es plötzlich still. Brummi hatte aufgehört aus vollem Halse zu pleurren. Vermutlich hatte ihn die Anstrengung so erschöpft, dass er in Ohnmacht gefallen war. Moritz musste sich beeilen. Tentakel schlugen ihm im immer finsterer werdenden Licht entgegen und leckten ihm über das Gesicht. Ein Schwall ekligen Gestanks traf ihn, faulig und gärend wie ein Kadaver. Das Maul!
Moritz zog sich voran, spürte, wie die spitzen Ranken in sein Gesicht schnitten. Er versuchte, seine Klinge nachzuziehen, doch die Dornen hielten sie fest. Wild zerrte und riss er daran und sorgte dafür, dass sich immer neue Stacheln in seine Hände gruben. Mit einem Ruck befreite er sein Schwert – die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Weiter! Das Biest aufhalten!
Moritz schlug nach vorne, hoffte, den Kopf blind zu treffen, doch er verfehlte sein Ziel. Schmale Ranken zischten ihm entgegen und ohrfeigten ihn. Er kniff die Augen zusammen und spürte im selben Moment, wie spitze Dornen seine Lider trafen. Moritz schrie auf. Der beißende Schmerz ließ die Tränen unkontrolliert hervorquellen – oder war es Blut? Sein Blick war verschwommen, doch das machte keinen Unterschied. Je tiefer er gelangte, desto dunkler wurde es. Der Kokon aus Armen, der ihn gefangen hielt, schirmte das Licht vom Wirtshaus ab und schickte ihn hinab ins pechschwarze Nichts.
Helene hörte einen Schrei und sah Konstanze an. »Dein Bruder«, war alles, was sie sagte.
Konstanze, die Rita dabei half, die Männer zur Eingangstür der Schwarzen Katze zu schleifen, erstarrte mitten in der Bewegung. Zusammen traten sie näher an die eingedrehte Mimose heran, die sich mehr und mehr einwickelte. Die Knolle erinnerte an einen Kochtopf, der kurz davor stand zu explodieren.
Helene kniete nieder und legte ihre gläserne Armbrust ab. Auf allen vieren kroch sie voran und näherte sich dem Loch, das die Kreatur in den Holzboden des Wirtshauses gerissen hatte. Die Öffnung in den Dielen war so riesig, dass Helene an dem Wesen vorbei in die staubigen Schatten unterhalb des Wirtshauses starren konnte. Steine, Holzbalken, Erde und Schutt waren in zwei Metern Tiefe beiseitegeschoben – alles, um dem Pflanzenwesen Platz zu machen. Es musste sich mit seinen Fangarmen meilenweit durch die Erde gewühlt haben, auf der Suche nach frischer Beute. Nun hockte es wie eine fette Zwiebel im Dreck – das Haupt gut geschützt unter Dutzenden eingedrehter Tentakel.
»Haltet meine Beine fest!«, befahl Helene.
Rita und Konstanze packten zu und ließen sie in die Tiefe hinab. Helene hing kopfüber neben dem rauen Körper des Monsters. Die Abmessungen des Gewächses waren gewaltig: Fünf ausgewachsene Männer hätten problemlos darin Platz gefunden. Nun beherbergte es neben all seinen kleinen und großen Dornenranken auch Moritz. Hätte sich die Mimose jetzt schlagartig ausgedehnt, hätte sie Rita, Konstanze und sie selbst mühelos zerquetscht. Es gab wenige Gedanken, die Helene in ihrem untoten Zustand zu einer menschlichen Regung veranlassten, aber die Vorstellung, von einer riesenhaften Pflanze zerschmettert zu werden, gehörte mit Sicherheit dazu.
Am unteren Ende des Geflechtes, der Wurzel, gab es keine Dornen. Nicht ohne eine gewisse Faszination streckte Helene die Hand aus und berührte die Pflanzenhaut. Die Mimose ächzte und knarzte wie ein Baum im Feuer, doch Helene spürte nichts. Ihre untote Hand übertrug zwar die Vibration auf ihren Arm, doch sie empfand weder Kälte noch Wärme. Aber was hatte sie erwartet? Dass die Berührung ihr plötzlich die ganze Welt der Gefühle eröffnen würde? Dass sie das Zittern eines anderen Körpers wahrhaft spüren könnte? Lächerlich.
Ein weiterer, gedämpfter Schrei riss sie aus ihren Gedanken. Moritz’ Stimme, wie unter dicken Ballen aus Stoff begraben. Versteckt im Wehklagen der Mimose.
Helene sah nach oben. »Reichen Sie mir bitte die Armbrust, Frau Rita.«
Moritz blinzelte gegen die Dunkelheit und den Schmerz an. Er tastete sich im Trüben voran und hoffte auf etwas zu stoßen, das ihm half, sich zu orientieren. Der Kopf mit dem Horn musste direkt vor ihm sein. Doch je mehr er vorankam, desto mehr Schlingen wickelten sich um seinen Körper. Mehrmals versuchte er, mit dem Schwert die Ranken zu durchstoßen, damit Licht ins Dunkel fiele, aber das führte nur dazu, dass ihn Fangarme packten und er unabsichtlich die Knöpfe des Teleskopstabs drückte.
KLICK! KLICK! KLICK!
Die Tentakel um sein Handgelenk zogen sich weiter zu, bohrten ihre Stacheln in sein Fleisch, bis sich seine Hand öffnete und ihm die Waffe entglitt.
»Nein! NEIN!«
Eine Ranke legte sich um seinen Hals. Langsam und bedächtig. Sie wickelte sich um seine Kehle und fuhr ihre Dornen aus. Nur ein Ruck genügte und es würde vorbei sein.
BLAMM!
Ein kühler Windhauch strömte ihm entgegen.
BLAMM-BLAMM!
Die Kälte nahm zu. Etwas splitterte. Ein dünner Lichtstrahl erhellte die Finsternis. Moritz blinzelte. Seine Augen tränten, aber er konnte Schemen und Umrisse erkennen. Urplötzlich war da eine Hand. Sie bahnte sich ihren Weg hinein ins Innere des Kokons und verschwand dann wieder.
BLAMM!
Frische Luft, wie eisiger Atem, blies im entgegen und kühlte sein Gesicht. Die Hand tauchte erneut auf und brach die vereisten Stücke der Ranken auseinander. Das Loch wurde größer und die Lichtstrahlen erhellten mehr und mehr von seinem Gefängnis.
Moritz riss die Augen auf, so weit er konnte. Er entdeckte sein Messingschwert, es klemmte zwischen einigen Dornen fest. Doch selbst als er sein Gewicht verlagerte, sich streckte und danach langte, reichte er nicht heran. Er ergriff die erstbeste Ranke, um sich in Richtung des Schwertes zu ziehen. Die Schlinge um den Hals zog sich enger. Er japste und schnappte nach Luft. Wilde Punkte tanzten vor seinen Augen und Schwärze kroch auf ihn zu. Ein drohender Schatten vernebelte seine Sinne. Seine ausgestreckte Hand tastete ein Stück weiter, stieß auf Metall, schloss die Hand und bediente einen der Knöpfe. KLICK! Der Teleskopstab verlängerte sich und durchstieß die Ranken vor und hinter ihm. Licht flutete durch die Löcher. KLICK! Mit einem weiteren Knopfdruck verwandelte sich der Stab zurück in ein Schwert. Moritz keuchte. Langsam wurden die Punkte vor seinen Augen träge. Etwas Heißes umspülte seinen Kopf. Es fühlte sich an wie schlimmstes Fieber. Sein Schädel stand in Flammen. War das der Tod?
Auf einmal hörte er eine Stimme. Es war Helene, die aus einem langen Tunnel zu ihm herüberrief: »Moritz … pass auf … ich schieße.«
Er schloss die Augen. Ein frostiger Blitz raste auf ihn zu. Zuerst dachte er, Helene hätte auf ihn geschossen, doch schlagartig lockerte sich die Schlinge um seinen Hals. Etwas knirschte und brach, dann rutschten ihm Eissplitter über Nacken und Rücken. Das tat so unendlich gut.
Moritz konnte wieder atmen, auch wenn seine Brust und seine Beine weiterhin von den Ranken umschlugen wurden. Er schnaufte zwei, drei Mal und bewegte vorsichtig den Kopf. Sein Genick war nicht gebrochen. Er sah das Schwert in seiner Hand, spürte, wie Luft seine Lungen füllte. Da war der Kopf der Mimose – sie schrie und klagte in einem Gewirr aus Armen. Der Kopf zog sich zurück, versuchte in der Tiefe zu verschwinden. Ranken schoben sich schützend davor. Moritz schnitt sie mit einem kräftigen Hieb durch. Die Bestie quiekte und schrie. Ihre kleinen, schrumpeligen Äuglein glänzten im Zwielicht wie dunkle Perlen. Das Horn war in Reichweite, es stach ihm entgegen. Das Maul klappte auf und zu, kläglich und hilflos.
Moritz schluckte. Da war etwas im Blick der Kreatur, das ihn zögern ließ. Ihr borkengleiches Antlitz sah gequält aus. Da waren Risse, feine rote Linien, die ihr Gesicht verunstalteten. Als ob sie sich selbst verletzt hätte. Moritz entdeckte seltsame Pusteln und Narben überall, sogar an den Ranken. Sie schimmerten violett und erinnerten an Blutergüsse. Was hatte das zu bedeuten?
Die Mimose knurrte und schrie, dann ruckte sie herum und öffnete erneut ihr Maul. Eine dunkle Zunge war zu sehen, ebenfalls mit violetten Pusteln. War das eine Krankheit? Bevor Moritz einen weiteren Gedanken fassen konnte, bäumte sich das Wesen auf. Der kleine Kopf wuchs in die Höhe und spie giftigen Atem aus. Moritz’ Arm zuckte nach vorn und das Schwert trennte das Horn mit einem sauberen Schnitt vom Kopf ab.
Das Wesen erstarrte. Der eingedrehte Kokon aus Ranken hielt inne und vertrocknete in rasender Geschwindigkeit. Ein bedrohliches Knacken war zu hören, bevor die Kreatur zu modrigem Staub zerfiel.
Eine giftige Wolke wirbelte empor, als Moritz inmitten der in sich zusammenfallenden Bestie unter dem Wirtshaus im Schutt aufschlug.