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Ein Dorf in der Dauphiné. Die Vorfahren der Marie Hassenpflug
ОглавлениеLudwig XIV. hob 1685 das Edikt von Nantes auf, mit dem sein Vorfahre Heinrich IV. 1598 den calvinistischen Protestanten Religionsfreiheit und volle Bürgerrechte gewährt hatte. Daraufhin flüchteten viele Hugenotten nach Deutschland. Die deutschen Fürsten und der König von Preußen bemühten sich – auch im wohlverstandenen Eigeninteresse – um die Ansiedlung von Flüchtlingen. Nach Hanau kamen etwa 70 Familien aus Besançon, Metz, Lyon, Nîmes, Straßburg, Sedan, dem Elsass, der Champagne, der Dauphiné oder der französischen Schweiz. Einige Familien siedelten auch in Offenbach, Waldorf oder Friedrichsdorf.
Die aus Frankreich und der französischsprachigen Schweiz stammenden Hugenotten – das Wort wurde wahrscheinlich aus ‚Eidgenossen‘ verballhornt – waren nur eine Gruppe der neuen Bürger der Hanauer Neustadt und nicht die erste. Das waren protestantische Glaubensflüchtlinge, die seit 1552 die Spanischen Niederlande auf der Flucht vor den grausamen Verfolgungen verlassen hatten und auch nach Frankfurt gekommen waren. Karl V. hatte beschlossen, die Protestanten in seinen Hauslanden auszurotten, und sein Sohn Philipp II. (1556–1598) setzte die Verfolgungen in verschärftem Maß fort. 1567 trat Herzog Alba, Philipps niederländischer Statthalter, seine brutale Herrschaft in den Niederlanden an. Unter diesem Druck verließen viele Protestanten die Spanischen Niederlanden. Aus Frankreich zogen jetzt zunehmend Hugenotten in die Niederlande und verstärkten dort die Zahl der Anhänger der Lehre Calvins. Am 17. August 1585 kapitulierte Antwerpen nach heftigen Kämpfen vor Albas Nachfolger Alexander Farnese. Von den 40.000 lutherischen oder reformierten Christen wanderten viele aus, nachdem sie vor die Wahl gestellt worden waren, entweder katholisch zu werden oder das Land zu verlassen.14
Auch die Motive von Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg, die Gründung der Hanauer Neustadt zu befördern, waren nicht zuletzt religionspolitischer Natur. Er hatte aus seinem Land das lutherische Bekenntnis verdrängt, alle Kirchen von den bis dahin geduldeten katholischen Altären und Kultgeräten säubern lassen und die calvinistische reformierte Lehre zur Staatsreligion gemacht. Den Lutheranern waren alle Ämter der Grafschaft verschlossen. Deshalb wurden viele zu Calvinisten oder sie verließen Hanau. In Frankfurt verlief die Entwicklung konträr. Dort wurden die Glaubensflüchtlinge gerade wegen ihrer handwerklichen Innovationen misstrauisch beäugt. Die calvinistische Lehre wurde von den lutherischen Kanzeln herab missbilligt, innerhalb der Stadtmauern durften die Reformierten ihre Religion nicht mehr ausüben. Seit 1590 wanderten dann viele reformierte Familien aus, nicht wenige in die Grafschaft Hanau. „Die Gründung der Neustadt Hanau geht in erster Linie auf die Initiative niederländischer reformierter Kaufleute und Unternehmer zurück, die Ende des 16. Jahrhunderts von Frankfurt aus mit den Herren der benachbarten Grafschaft Hanau-Münzenberg Unterhandlungen wegen einer Ansiedlung aufnahmen.“15
Etwa die Hälfte der Frankfurter Reformierten, vor allem Niederländer und Wallonen, wanderten nach Hanau aus. Das waren etwa 1000 Personen.16 So waren es vor allem auch Frankfurter Calvinisten, die am 1. Juni 1597 mit Philipp Ludwig II. als einst „verjagte und verfolgte Christen aus den Niederlanden und Frankreich“17 die ‚Capitulation der Neustadt Hanau‘ schlossen. Der Historiker Heinrich Lapp bemerkt dazu: „Fast nur diesen Reformierten hat Hanau seinen industriellen Aufstieg zu verdanken. Sie brachten die Gewerbe nach Hanau, die die Stadt in der Welt berühmt gemacht haben: in erster Linie die Gold- und Silberschmiedezunft, die Diamantschleiferei, die Edelsteinbearbeitung und die Seiden- und Tuchmacherei.“18 Allerdings blieben die reichen Reformierten überwiegend in der Reichsstadt, während die weniger Bemittelten nach Hanau gingen.19
Einer der französischen Glaubensflüchtlinge war der am 7. November 1695 geborene Prediger Etienne Droume, der französische Urgroßvater von Marie Hassenpflug. Er lebte in Guillestre, einer kleinen Gemeinde in den französischen Hochalpen in der Dauphiné, am oberen Rand einer Schlucht, die sich über dem Wildwasserfluss Guil erhebt. Etienne Droume war offenbar ein entschiedener Calvinist gewesen. Im Schutz der Abgelegenheit seines Dorfes beschloss er, nach der Aufhebung des Toleranzedikts erst einmal zu bleiben. Dann aber verschärfte sich die Lage. Öffentliche Gottesdienste wurden verboten. Pfarrer, die dennoch predigten, wurden mit der Todesstrafe bedroht.
1730 verließ Etienne seine Heimat zusammen mit seiner ältesten Tochter Lucrèce Madelaine (oder Lukretia Magdalena), die am 11. November 1724 geboren worden war. Zwei jüngere Brüder, Alexandre und Etienne, blieben in Guillestre bei ihrer Mutter, Marie Reynaud.20
Ludwig Hassenpflug, Etienne Droumes Urenkel, beschreibt in seinen Jugenderinnerungen die Fluchtszene:
„Die Spannung, in der man lebte, die Gefahr des drohenden Unglücks mag wohl alle Sinne wach erhalten haben. So muß man sich die Lage denken, die durch heranziehende Militair Macht jeden Augenblick verändert werden konnte und danach die Situation sich vorstellen, wie in einer Nacht auf einmal dem Etienne Droume ein Freund von ihm an sein Fenster klopft und leise eine Warnungsstimme vernehmen lässt: ‚Monsieur le Curé‘, sagt die Stimme, ‚Sauvez vous, La Marechausse vient s’approcher!‘“21 („Herr Pfarrer … retten Sie sich, die Polizei ist im Anmarsch!“)
Etienne Droume lebte dann in Deutschland zunächst recht umtriebig, bevor er sich in Hanau niederließ und dort am 22. Februar 1742 in zweiter Ehe Marie Magdeleine de Belly (oder Madelaine Debely) heiratete. Er hatte zunächst in Marburg Theologie studiert und ging dann über Hannover als calvinistischer Pfarrer nach Mariendorf bei Hofgeismar, heute Ortsteil des nordhessischen Immenhausen, von wo aus er 1740 nach Hanau zog. Das Kasseler Konsistorium hatte er wegen ‚schwächlicher Konstitution‘ um Entlassung gebeten. Das Entlassungsschreiben aus dem Dienst der calvinistischen Gemeinde Mariendorf datiert vom 26. Dezember 1739. Als Pfarrer hatte er dort zuletzt noch zwei Patenstellen übernommen.
Etienne Droume hatte um 1739 in Mariendorf seinen Onkel, den Major Michel Droume getroffen, der gerade über eine größere Geldsumme verfügte, die er Etienne übergab. Der Onkel war Witwer geworden und ging mit Etienne nach Hanau. In der Neustadt kaufte Etienne Droume ein großes Haus. Der Onkel verfügte über so viel Geld, dass er etliches für den Bau eines Waisenhauses stiften konnte. Im Familiengedächtnis der Hassenpflugs ist verankert, dass ebendieser Onkel Michel seinen Neffen dazu überredete, sich von seiner ersten, in Guillestre gebliebenen Frau Marie Reynaud scheiden zu lassen. Jedenfalls tat er es. Und nun nimmt der Grad der verwandtschaftlichen Wirrungen zu. Seine zweite Frau, Marie Madelaine Debely, stammte aus dem kleinen Schweizer Bauerndorf Cernier im damals preußischen Fürstentum Neuenburg. Der Ort gehört heute zur neuen Gemeinde Val-de-Ruz im Neuenburger Jura. Laut Familienbuch der Protestanten von Guillestre lebte Marie Madelaine Debely seit 1736 in Hanau. Sie hatte dort eine Tante, die am Hof der Prinzessin von Hanau tätig und mit einem Professor Bernhardy verheiratet war. Michel Droume hatte Madame Debely seinem Neffen nachdrücklich empfohlen und der, eben Etienne Droume, war sehr angetan von ihr. Am 22. Februar 1742 wurde geheiratet.22 Auf die Gefahr hin, die Unübersichtlichkeit der Beziehungen zwischen Neu-Hanau, Guillestre im französischen Dauphiné und dem preußisch-schweizerischen Cernier zu steigern, sei noch angemerkt, dass Onkel Michel Marie Madelaine und ihre Hanauer Tante aus eigener Anschauung als gewesener königlich preußischer Major in Neuenburg kannte. Die Tante war eine geborene Vefve. Sie war an den Hof der Landgräfin Maria gekommen und hatte dort den Professor der Theologie an der Hohen Landesschule Johann Heinrich Bernhardy geheiratet. Maria war die Frau von Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel und die Mutter des hessischen Erbprinzen Wilhelm IX. Von 1760 bis 1764 regierte sie für ihren noch minderjährigen Sohn die Grafschaft Hanau.
Ludwig Hassenpflug als dekorierter kurhessischer Minister, nach 1832. Karikatur von Ludwig Emil Grimm: „Pütters Reichsgeschichte vermiße ich. Sollte sie mein Ludwig mitgenommen haben“.
Dies alles wird hier erwähnt, weil es zum Geschichten-Fundus gehört, aus dem später Marie Hassenpflugs Mutter schöpfen wird, um ihren Kindern von ihren Vorfahren zu erzählen, die sich – wie man merkt und gleich noch mehr merken wird – für episches Rankenwerk außerordentlich eignete.
Ludwig Hassenpflug berichtet in seinen Jugenderinnerungen davon, dass die Mutter ihren Kindern häufig von ihren religiösen Überzeugungen und den Schicksalen ihrer Vorfahren erzählt habe. So wuchs Marie keineswegs in einer sprachlosen Familie auf, Erzählstoff gab es ja auch in Hülle und Fülle.
Auch scheinen schon Märchenmotive auf, wie etwa der plötzliche Reichtum des Glaubensflüchtlings Etienne Droume sowie reichlich höfisches Personal. Das wird später in Marie Hassenpflugs Leben eine große Rolle spielen.
Wichtiger werden aber die unterschiedlichen Herkünfte der den Brüdern Grimm erzählten Märchen. Schon jetzt bahnt sich eine hessisch-französische Mixtur an, in die mit der zweiten Frau Etienne Droumes nun auch ein wenig Schweizer Kolorit geriet.
Es fällt auf, dass die zerklüftete Kleinstaaterei, durch die strategische Heiratspolitik der kleinen und großen Herrscher ständig durcheinandergebracht, von der Untertanen oft wechselnde Loyalitäten verlangt. Oder auch Konfessionswechsel, wenn der Herrscher etwa vom lutherischen zum reformierten oder katholischen Glauben übertrat. Das gilt besonders für die ehemals französischen Bürger, die in Hanau nun Untertanen des Landgrafen von Hessen-Kassel wurden.
Etienne Droume starb im Alter von 56 Jahren am 14. Juli 1751 in Hanau. Madame Droume, seine Witwe, überlebte ihn um 40 Jahre. Sie starb am 7. Januar 1791 mit 79 Jahren. Marie Hassenpflug hatte also als Kleinkind für kurze Zeit eine Urgroßmutter. Umso mehr ragten deren Geschichten in ihr Leben hinein. Sie, die am 23. Oktober 1712 in Cernier auf die Welt gekommen war, hatte es in besonderem Maße mit Loyalitätskonflikten zu tun. Im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) etwa waren die Franzosen unter Prinz Soubise und Marschall Broglie Gegner des preußischen Königs. Zur Erinnerung: Onkel Michel, der Etienne Droumes Frau Marie Madelaine Debely ‚vermittelt‘ hatte, war einst preußischer Major in Neuenburg gewesen. Jetzt, im Siebenjährigen Krieg, bezog Broglie mit seinem Generalstab im Haus der Witwe Droume in der Neustadt Quartier. Sie waren bei einer ehemals preußischen Bürgerin aus Cernier in der Schweiz untergekommen. Das Königreich Preußen war in diesem Krieg mit der Landgrafschaft Hessen-Kassel verbündet. Gemeinsam ging es gegen Frankreich und seine Alliierten. Witwe Droume hatte also den Feind im Haus. Wenigstens konnte sie sich mit ihm gut verständigen.
Ganz vorsichtig sei hier schon einmal die Frage gestellt, ob Märchen, in denen nie von einem bestimmten König die Rede ist, auch nicht von Franzosen, Schweizern oder Deutschen, sondern immer vom König als einem guten oder bösen Herrscher in irgendeinem Land ohne Namen, nicht entlastend wirken konnten. Musste es da für jemanden wie Madame Droume, die ohne ihr Zutun ständig zwischen den Fronten und Staaten, den Grafen, Fürsten, Königen und Kaisern herumgeschubst wurde, nicht wünschenswert und angenehm sein, wenigstens im Märchen nicht von einem ständigen Durcheinander von Herrschern verwirrt zu werden?