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Geschichten und Gerüchte über Madame Droume und ihren Mann Etienne
ОглавлениеÜber Madame Droume erzählte man sich in der Familie allerhand Geschichten. Als Broglie bei ihr Quartier gemacht hatte, wohnte dort auch ein Duc de Loynons. Sein Kammerdiener war von der Dienstmagd der Hausherrin begeistert, stellte aber offenbar ziemlich viel dummes Zeug an. Von Madame Droume einmal zur Rede gestellt, fragte er sie, ob sie denn überhaupt von Adel sei. Dem Duc, von ihr als Schlichter zu Rate gezogen, fiel auch nichts anders als die freche Frage nach ihrem Adel ein. „Jetzt höre ich von Ihnen dieselbe bescheuerte Frage wie von Ihrem Kammerdiener!“, so oder so ähnlich antwortete sie. Der Duc wurde wütend und drohte mit seinen Grenadieren, die sie auf die Hauptwache bringen würden. Daraufhin setzte sie sich in den Sessel des Herzogs, der verdutzt fragte, was das denn solle. „Ich erwarte Ihre Grenadiere“, antwortete sie, und schon herrschte wieder Frieden im Hause.
Mit Etienne Droume lebten außer seiner ältesten Tochter und seiner Mutter Lucrèce-Marie de Pinchinat seine Schwester Isabeau bis an ihr Lebensende in der Hanauer Neustadt. So kann man von einer französischen Großfamilie sprechen, die in der Neustadt gewiss auf markante Weise präsent war. Die Präsenz der Madame Droume war es gerade, die Ludwig Hassenpflug später in seinen Jugenderinnerungen geißelte:
„Meine Urgroßmutter lebte nur in dem Kreise der durch die refugiers gebildeten Gemeinde, meist steif und förmlich sich betragenden Franzosen, die, wie sie selbst, eine eingefleischte Französin, auf alles Deutsche mit tiefer Verachtung herabsahen.“ 23
Überhaupt kommt sie in Ludwig Hassenpflugs Jugenderinnerungen stets schlecht weg.
Über Etienne Droume wurde in der Familie kein schlüssiges Bild überliefert. Einerseits ein Held seines calvinistischen Glaubens, ließ er aber seine beiden Söhne Alexandre und Etienne bei der ersten Frau Marie Reynaud in Frankreich zurück. Die wichtigsten Entscheidungen seines Lebens überließ er offenbar seinem Onkel Michel. Der drängte ihn, mit ihm nach Hanau zu gehen und dort eine Frau zu heiraten, die er ihm empfohlen hatte. In den Gemeindeunterlagen von Guillestre ist vermerkt, er habe seine Pfarrerstelle in Mariendorf auf eigenen Wunsch wegen „schwächlicher Konstitution“ verlassen. Da war er gerade einmal 44 Jahre alt. Mag sein, dass er trotz der Stärke seines Glaubens einen etwas schwachen Charakter und eine angegriffene Gesundheit besaß. Umso stärker sticht seine zweite Frau hervor. Sie geht als eigensinnig-starke, jedoch ‚böse‘ Großmutter in die Familien-Chronik ein. Und das liegt vor allem an der Härte, mit der sie den Heiratswunsch ihrer Tochter quittierte. Von allen Geschichten, die später im Hause Lossow über die Vorfahren der mütterlichen Seite erzählt wurden, ist die folgende die bei weitem wichtigste. Sie hatte das Leben von Maries Mutter geprägt. Ihre Varianten und Versionen entschieden darüber, wer unter den Vorfahren zur guten, wer zur bösen ‚Partei‘ gehörte.
Sophia Charlotte, die 1746 in Hanau geborene jüngere Tochter von Etienne und Marie Madelaine Droume, wird von Ludwig Hassenpflug als eine Art schwer erziehbares Kind beschrieben:
„Sophia wächst heran und entwickelt sich zu einer heiteren, vergnügungssüchtigen aber auch starrköpfigen jungen Dame, die ihren Willen durchzusetzen pflegte. Durfte sie abends nicht ausgehen, zog sie sich trotzdem zurück, putzte sich heraus und wenn sie beim Herausschleichen von der Mutter am Fenster ertappt wurde, drehte sie sich keck um […] und machte gegen sie einen schönen Knix.“ 24
Ihr Vater starb, als sie sechs Jahre alt war. Entscheidend aber war, dass sie als ‚vergnügungssüchtig‘ galt. Offenbar tanzte sie allzu gern. Und sie schaute nach den Männern. In einen, den Fähnrich, später Leutnant und Kapitän, Christian Friedrich Dresen verliebte sie sich bei einem Maskenball. Der Fähnrich tat seinen Dienst im hannoverschen Infanterieregiment von Rheden, das zum Schutz der Landgräfin Maria nach Hanau abgeordnet war. Der aus Nienburg an der Weser stammende Dresen wohnte gegenüber von Witwe Droume und liebte deren Tochter so sehr wie sie ihn.
Ludwig Hassenpflug berichtet von der Aversion seiner Schweizer Urgroßmutter Marie Madelaine Droume gegen alles Deutsche oder alle Deutschen, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich bei seinen Jugenderinnerungen um eine Rechtfertigungsschrift handelt, die er gegen alle gegen ihn gerichteten „Verzerrungen und Carricaturen“25 verfasste. Der später als ‚Hessen-Fluch‘, gar ‚Conservativer Teufel‘ verschriene, in der Tat arg konservative bis reaktionäre Politiker unterbrach sein Studium der Rechtswissenschaft 1813/14, um an den Befreiungskriegen teilzunehmen. Als Burschenschaftler im Kampf gegen Napoleons Truppen wird er es nicht leicht gehabt haben, seine eigene, zur Hälfte französische Herkunft zu akzeptieren.
„Bei dieser resoluten Frau, die zwischen den verachteten Deutschen in dem kleinen Hanau in der nur von Franzosen bewohnten Neustadt sich noch besonders gehoben fühlte, brachte meine Mutter ihre erste Kinderzeit zu, aber wie entgegen jene allem deutschen Element war, zeigte sich darin besonders, wenn meine Mutter einige deutsche Worte vorbrachte, die sie von der Umgebung und von ihrem Vater, den sie bis ihr 8tes Jahr sah, gelernt hatte, sie nicht unterließ ‚ce diable allemand‘ [dieser deutsche Teufel] ihr zuzurufen und wenn sie dem deutschen Gebrauch gemäß häufig die Anrede ‚Frau Pfarrin‘ zu hören bekam, sich gegen ihre Tochter dahin aussprach ‚ces bêtes allemandes me disent toujours ‚Frau Pfarrin‘ j’ai jamais prêché.‘“26 („Diese deutschen Tiere nennen mich immer ‚Frau Pfarrin‘. Ich habe nie gepredigt.“)
Die Hanauer Neustadt war keineswegs nur von Franzosen bewohnt, aber Ludwig scheint mit den französischen Anteilen seiner Herkunft ein erhebliches Problem gehabt zu haben. Jedenfalls lehnte Madame Droume den Fähnrich nicht ab, weil er Deutscher war, sondern eher, weil er Fähnrich war. Ihr wurde eine Aversion gegen das Militär nachgesagt.27
Dresen bat sie ganz offiziell um die Hand ihrer Tochter. Statt dieser Bitte nachzugeben, ließ Mutter Droume ihre Tochter zu ihrer älteren Schwester Margaritta Isabelle, die am 28. Mai 1744 auf die Welt kam, nach Homburg vor der Höhe bringen oder entführen. Im Mai 1762 hatte Margaritta dort den berühmten Arzt Wilhelm Kämpf geheiratet. Von ihm wird noch ausführlich die Rede sein.
Fähnrich Dresen versuchte in anhaltender Liebe zu Sophia Charlotte ihren Aufenthaltsort herauszufinden, was ihm erst dadurch gelingen sollte, dass er die Magd der Witwe Droume bestach. Nun ging es geschwind nach Homburg. Durch insgeheim gewechselte Briefe vorbereitet, schlich sich Sophia Charlotte aus dem Haus ihrer Schwester, als sie in den Keller geschickt wurde, um Wein zu holen. Der Fähnrich nahm seine Geliebte vor sich aufs Pferd und in einem nächtlichen Ritt ging es nach Oppenheim am Rhein. Dort fanden die beiden einen katholischen Geistlichen, der sie Hals über Kopf traute.
Deutsch, Fähnrich und nun auch noch katholisch getraut. Das war für Madame Droume entschieden zu viel. Sie dachte jetzt erst recht nicht daran, in die Ehe einzuwilligen. Erst als am 18. Juli 1766 die junge Frau Dresen Zwillinge auf die Welt brachte, wurde ihre Mutter weich. Die Zwillinge aber starben gleich darauf am 10. und 13. August. Die Einigung von Madame Droume mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn wurde in einem gerichtlichen Vergleich vom 31. Juli 1766 niedergelegt. In der Tat muss es sich bei Madelaine Droume, geborene Debely, um eine etwas problematische Dame gehandelt haben; denn sie gab zu Protokoll: „La Dame, veuve Droume née Debely donne son entier consentement au marriage contracte contre son gré […]“28 („Die Dame, verwitwete Droume, geborene Debely, erklärt ihr vollständiges Einverständnis mit dem Heiratsvertrag gegen ihren Willen …“)
Die Geschichte endet sehr traurig und wieder mit einer Maskierung. Am 28. September 1767 bekam das Ehepaar Dresen eine Tochter: Maria Magdalena (oder Marie Madelaine), die spätere Mutter ‚unserer‘ Marie Hassenpflug. Im Winter 1770/71 verkühlte sich Sophia Charlotte bei einer ‚Schlittenmaskerade‘, bei der sie als die römische Göttin Flora verkleidet war, und sie wurde dann so krank, dass sie am 19. April 1771 im Alter von 24 Jahren starb. Maria Magdalena verlor ihre Mutter mit viereinhalb Jahren. Sieben Jahre später starb ihr Vater. Er war aus Hanau abkommandiert worden, war dann auf Menorca und in Gibraltar stationiert, wo er im Rang eines Kapitäns am 31. November 1778 am Gelbfieber starb. Der im Dienst des englischen Königs gestorbene Christian Friedrich Dresen verschwand aber nicht aus dem Familiengedächtnis. Amalie Hassenpflug, Maries jüngste Schwester, hat ihren Großvater ebenso wenig gekannt wie Marie. Er scheint aber in seiner witzigen Art einen Kontrast zu der oft erwähnten Steifheit seiner Schwiegermutter, Madame Droume, gebildet zu haben. In ihren Kindheitserinnerungen hat sie ihn beschrieben:
„So kam mein Großvater ein junger schöner lustiger Leutenannt nach Hanau. Er lernte die jüngste Tochter der Madame Droume kennen, u beide gefielen sich wohl. […] Sein Andenken, als des lustigsten schönsten u liebenswürdigsten unter den Offizieren lebte noch lange bei seinen Kameraden.“ 29
Gleich nach dem Tod ihrer Mutter kam Maria Magdalena zu ihrer Großmutter, Madame Droume, bei der sie aufwuchs.
Maries Mutter war demnach in einen regelrechten deutsch-französischen Kulturkleinkrieg im Hause der Hanauer Großmutter verwickelt. Die Erzählungen bargen genügend Zündstoff, um die deutsch-französischen Konflikte immer wieder zu schüren. Jedes Kind dieser Familie musste später seinen eigenen Frieden in diesen Kleinkriegen finden, die sich in der großen Geschichte oft genug in schrecklichen Konflikten spiegeln sollten.
Ludwig Hassenpflug, der die ‚Politik des Kurfürstentums Hessen ein Jahrzehnt lang maßgeblich bestimmte‘30 schrieb seine Jugenderinnerungen in seinen letzten Lebensjahren in Marburg. Er starb dort am 10. Oktober 1862.
In den Passagen, die er seiner Mutter, Marie Madelaine Hassenpflug, widmete, wird der Versuch deutlich, sie aus der Verklammerung mit der ‚bösen Großmutter‘ und damit von der ‚französischen Seite‘ zu lösen. So wichtig sind ihm die deutschen Anteile der Mutter, dass er vom ‚deutschen Wesen‘ spricht, das der französischen Großmutter so sehr fremd geblieben wäre. So ähnelt dieser Versuch einem Exorzismus des Französischen, einer nachträglichen Reinigung der Familiengeschichte, um dem ‚deutschen Element‘ wenigstens im Nachhinein zum Durchbruch zu verhelfen:
„Daß bei dieser so gearteten, allem deutschen Wesen verschlossenen Frau, die deutsches Element genug in sich hatte, in dem Kreise ihrer Großmutter voll steifer Förmlichkeit, nicht wohl fühlen konnte, leuchtet eben so ein, wie sie sich besonders zu dem Mann ihrer Tante, dem Onkel Kämpf, der zu der Zeit, als meine im eben vollendeten 11ten Lebensjahr stand, 1778 aus Diez, wo er von 1770 an gewesen, aus Nassau-Oranischen Diensten als Leibarzt nach Hanau kam, sich besonders hingezogen fühlte. Er, der 1726 geborene, 52 Jahr zählende repräsentirte ihr das deutsche Element auf das Angenehmste, wie er sich denn auch als genialer, über der Bildung, die sein Beruf ihm eingab, stehender Mann durch ein anonym erschienenes Schriftchen ‚Peter Squenz oder die Welt will betrogen sein‘, legitimirt hat.“ 31
Der hier genannte Onkel Kämpf wird im Leben von Marie Madelaine Dresen/Hassenpflug eine bedeutende Rolle spielen. Mit ihm und seiner Familie öffnet sich ein Fenster, das einen ganz anderen Blick auf Maries Mutter erlaubt als der ihres Sohnes Ludwig.
Wie war bei diesem Arzt das ‚deutsche Element‘ beschaffen, das er in Maries Mutter gleichsam erweckt haben soll? Zwar war er ein berühmter Arzt, Leibarzt und Geheimrat am Hof des Fürsten von Hessen-Homburg, Badearzt von Ems, Leibarzt am Hof des Prinzen von Oranien-Nassau, er hat aber nicht nur das Lustspiel Peter Squenz32 geschrieben – eine freie Nachahmung von Molières Le Malade imaginaire in Anlehnung an Gryphius33 –, sondern auch die Operette Der Poltergeist und eine Fülle höchst interessanter naturwissenschaftlicher, vor allem medizinischer Abhandlungen etwa über Barometer, die Temperamente, die Tollwut, die Beerdigung Scheintoter und manches mehr. Weit über seine Region hinaus bekannt wurde er durch eine Theorie der überragenden Bedeutung von Unterleibserkrankungen. Diese Einschätzung hatte er von seinem Vater, dem hochberühmten Arzt Johann Philipp Kämpf aus Zweibrücken übernommen und sich dann erfolgreich um neue therapeutische Verfahren bemüht. Seine Lehre von den ‚Unterleibs-Infarkten‘ war lange Zeit große medizinische Mode. Die hartnäckigsten Krankheiten – meinten beide Doktoren Kämpf – säßen im Unterleib, vor allem die Hypochondrie.
Das medicinische Lustspiel stammt von Johann Kämpf
Dieser Doktor Kämpf also lebte – mit Unterbrechungen – von 1778 bis zu seinem Tod im Jahre 1787 in Hanau als Erster Leibarzt von Graf Wilhelm IX.
Ludwig Hassenpflug nistet sich in den Jugenderinnerungen regelrecht ein in dem fleißig dramatisierten Widerspruch zwischen französischem, prätentiösem ‚Réfugié-Leben‘ und deutschem ‚schmackhaftem Brot der wirklichen Bildung‘.34
Durch den Rat des Dr. Kämpf – berichtet Ludwig Hassenpflug – gelangte Maries Mutter an Heinrich Stillings Jugend von 1777, welches Buch dabei geholfen haben soll, dass sich ‚in ihr eine Art aristokratische Gesinnung ausbildete, die nach Höherem strebte, jedoch von aller Vornehmtuerei entfernt‘.
Heinz Rölleke bemerkt, dass die Brüder Grimm diesem Buch später drei Märchen entnehmen sollten, darunter Jorinde und Joringel.35
Nun hatte dieser offenbar sehr gesellige und außerordentlich belesene Herr aber noch andere Seiten. Wenn er, was weiter unten klar wird, für Maries Mutter eine Art väterlicher oder großväterlicher Bildungs-Patron war, der ihren Horizont weitete und sie an seiner intellektuellen Sphäre teilhaben ließ, dann wird er nicht nur seinem deutsch-aristokratischen Habitus gefolgt sein, sondern auch die anderen Facetten seiner Persönlichkeit ausgespielt haben.
Es geht hier nicht darum, über mögliche Einflüsse auf Maries Mutter und damit auf die Sphäre, in der Marie Hassenpflug aufwuchs, bloß zu spekulieren. Maria Magdalena verlor ihre Mutter, als sie vier Jahre alt war. Ihr Vater, Christian Friedrich Dresen, starb 1778 im Rang eines Kapitäns in Gibraltar. Marie Magdalene Dresen wuchs – so kann man sagen – ohne ihre Eltern auf. Wenn man in Ludwig Hassenpflugs Jugenderinnerungen die knorrig deutschen Töne überhört und die Ausfälle gegen die Réfugié-Großmutter etwas abmildert, bleibt das Bild eines recht unglücklichen, einsamen Mädchens, einer jungen Frau, die sich in Hanau heimisch fühlt, weil Onkel Kämpf für sie da ist. Was hat es auf sich mit ihm? Er teilte die Lage von Maries Mutter zwischen den Kulturen; denn er war mit der älteren Schwester von Sophia Charlotte, mit Margaritta Isabelle verheiratet. Kämpf war also ihr Schwager.
Es gab noch jemand, der den Hanauer Leibarzt ‚Onkel‘ nannte. Auf die Gefahr hin, dass zwischen ‚deutschen‘ und ‚französischen‘ Hanauern gar nicht mehr zu unterscheiden ist, zwischen Altstadt und Neustadt, muss daran erinnert werden, dass Etienne Droume zwar seine erste Frau Marie Reynaud, die 1693 auf die Welt kam, in Guillestre zurückgelassen, die älteste Tochter aus dieser Ehe aber 1723 mit nach Deutschland genommen hatte. Marie Reynaud, die im Familienbuch von Guillestre 1763 fälschlicherweise als 70-jährige Witwe von Etienne Droume geführt wurde36. war wie auch Etienne Droume katholisch getauft worden, trat dann zum protestantisch-calvinistischen Glauben über, um schließlich abzuschwören und wieder katholisch zu werden. Das kam in Hanau bei Etiennes zweiter Frau Marie Madeleine Droume gewiss nicht besonders gut an. Es hinderte sie aber nicht daran, nach dem Tod ihres Mannes Etienne offenbar auch mit den Kindern aus dessen erster Ehe freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Sie scheint sich keineswegs im Kokon ihrer ‚französischen‘ Familie eingesponnen zu haben. Eher avancierte sie zu einer Art Patronin der Großfamilie.
Das geht ausgerechnet aus Briefen hervor, die Christian Friedrich Dresen an seine einst so feindselig agierende Schwiegermutter Marie Madeleine Droume schrieb, als er 1776 bis 1778 in der Fremde diente. Auch wenn man alle Floskeln der Briefdiplomatie abzieht, bleibt das Zeugnis eines Mannes und Vaters, der offenbar bemüht war, den Kontakt zu seiner Familie keinesfalls abzubrechen. Die bei Ludwig Hassenpflug abgedruckten Briefe aus Dresens letzten Lebensjahren sind in bestem Französisch abgefasst. Wir zitieren aus den beigefügten deutschen Übersetzungen. Alle Briefe beginnen mit sehr freundlichen Anreden: „Meine sehr liebe Mutter“ oder „Geehrte Frau und sehr liebe Mutter“. Zum Abschied heißt es: „Adieu sehr geliebte Mutter“ oder „auf ewig Ihr sehr ergebener Schwiegersohn“. Auch an seine Tochter, Marie Hassenpflugs Mutter, schreibt er liebevoll. Vielsagend sind seine Grußaufträge: „Beste Grüße an Herrn Kämpf und seine Frau und Frau Jung“, „Richten Sie Herrn Kämpf und seiner Gattin, Frau Jung, ihren Kindern […] meine untertänigsten Grüße aus“.37
Herr Kämpf war der Mann von Madame Droumes älterer Tochter, Frau Jung die Tochter von Etiennes erster Frau in der Dauphiné. Eines ihrer Kinder war Franz Wilhelm Jung. Offenbar verkehrte man miteinander und Madame Droume war die Garantin dieses Umgangs.
Franz Wilhelm Jung, geboren am 5. Dezember 1757 in Hanau, verlor mit elf Jahren seinen Vater Johann oder Jean Philipp Jung. Seine Mutter Lucrèce Madelaine Jung, geborene Droume, war die Tochter von Etienne Droume und dessen in Guillestre gebliebener ersten Frau Marie Reynaud. Maries Mutter Sophia Charlotte, ihre ältere Schwester Marguérite Isabelle und die Mutter von Franz Wilhelm Jung, Lucrèce Madelaine, waren also Halbgeschwister: Sie hatten mit Etienne Droume denselben Vater. Doktor Johann Kämpf übernahm die Erziehung seines Neffen Franz Wilhelm Jung, als dessen Vater gestorben war. Onkel Kämpf wollte, dass sein Neffe ebenfalls Arzt würde. Wegen dessen Abneigung gegen die Anatomie scheiterte jedoch die medizinische Ausbildung. Später erhielt er von dem Ökonomen Johann Friedrich von Pfeiffer in ‚Staatswirtschaft‘ Privatunterricht. Eine öffentliche Schule oder Universität hat er nie besucht. Kämpf ging bald nach seiner Promotion im Jahre 1753 als Leibarzt mit seinem Pflegesohn an den Hof der Landgrafschaft von Hessen-Homburg, wo er bis 1769 blieb, um ihn 1770 mit nach Diez an der Lahn zu nehmen, wo er Leibarzt des Prinzen von Nassau-Oranien und Badearzt von Ems wurde. Dort setzte er die Privatausbildung von Franz Wilhelm fort.
Es ist wahrlich nicht einfach, sich in der verzweigten Familie zurechtzufinden, deren ‚Oberhaupt‘ zunächst Etienne Droume war. Da er schon 1751 gestorben war, scheint seine Witwe, die ‚böse Großmutter‘ von Marie Hassenpflugs Mutter, doch nicht so streng, steif und deutschfeindlich gewesen zu sein, wie sie von Ludwig Hassenpflug geschildert wurde.
Seit März 1766 regierte in Homburg vor der Höhe Landgraf Friedrich V. Ludwig (1748–1820), der für Onkel Kämpf, viel mehr aber noch für Franz Wilhelm Jung bedeutsam werden sollte. Er ernannte den Leibarzt Kämpf zum Hofrat, pflegte aber zu dessen Ziehsohn Franz Wilhelm Jung eine sehr viel engere Beziehung. In Diez wurde Jung etwa 1767 auf Vermittlung von Kämpf in den Freimaurerorden aufgenommen. Kämpf war es auch, der Franz Wilhelm vom Homburger Landgrafen und dessen Freimaurerei erzählte und wahrscheinlich dafür verantwortlich war, dass sein Ziehsohn am 18. Februar 1786 in den Dienst des Landgrafen trat.
1780 ging Franz Wilhelm Jung für kurze Zeit als Hauslehrer nach Holland, um danach nach Hanau zurückzukehren, wo er seine spätere Frau kennenlernte. Johann Kämpf war 1778 nach Hanau gegangen, um dort auch als Leibarzt von Erbprinz Wilhelm von Hessen-Kassel tätig zu sein. Kämpfs Söhne Johann Wilhelm, Gustav und Franz Wilhelm Jung wurden als ‚Vettern‘ bezeichnet, obwohl sie es nicht waren. Die Verwandtschaft beruhte auf den beiden Ehefrauen von Etienne Droume.
Nun überschneiden sich die Kreise von Maries Mutter und Franz Wilhelm Jung. Er kam nach seiner Zeit als Hauslehrer in Holland nach Hanau zurück, wo er wohl bis zu seinem Fortgang nach Homburg – spätestens bei seinem dortigen Dienstantritt am 18. Februar 1786 – blieb. Also lebten Onkel Kämpf, Maries Mutter und Franz Wilhelm Jung von etwa 1780 bis 1786 zusammen in Hanau.
Franz Wilhelm Jung (1757–1833). Eine Ähnlichkeit mit Goethe ist unverkennbar und wohl der Absicht des Porträtisten Georg von Kügelgen zu verdanken
Sowohl für Maries Mutter als auch für Franz Wilhelm Jung war Johann Kämpf der prägende Onkel. Nun aber hatte sich ab Januar 1786 Maries Mutter mit der außergewöhnlichen Entwicklung von Franz Wilhelm Jung am Homburger Hof auseinanderzusetzen.
In den Jahren 1786 bis 1794 hatte Landgraf Friedrich V. Ludwig von Hessen-Homburg eine Reihe von republikanisch bis radikaldemokratisch gesonnenen Männern in seinen Diensten. Darunter Johann Wilhelm Kämpf und Franz Wilhelm Jung. Zu Recht wurden sie ‚Hofdemokraten‘ genannt, weil sie eben Demokraten im Dienst des Hofes waren. Von dieser ziemlich einmaligen Konstellation soll hier nicht näher die Rede sein; dass aufgeklärte Dichter und Denker zur Zeit der Französischen Revolution an deutschen Höfen wirken konnten, ist nichts Ungewöhnliches. In Homburg aber ist schwer zu erklären, dass ein dezidierter Gegner der Revolution und nicht gerade liberaler Landesherr eine Gruppe von Demokraten über Jahre an seinem Hof, der auch den Namen ‚Musenhof‘trug, wirken ließ.
Der Radikalste unter ihnen scheint Johann Wilhelm Kämpf gewesen zu sein. Er war von 1786 bis 1794 in Homburg als Stadtkonsulent tätig, als beratender Jurist des Stadtrates. Es ist nicht geklärt, ob er als Jakobiner bei der Mainzer Republik (21. Oktober 1792 bis 23. Juli 1793) mitwirkte, jedenfalls aber lag gegen ihn ein preußischer Haftbefehl vor.
Weniger radikal, dafür bis 1792 freundschaftlich verbunden mit dem Landgrafen und besonders auch seiner Frau, war Franz Wilhelm Jung. Als unbesoldeter Hofrat, enger Vertrauter und Berater des Landgrafen, als Verwaltungs- und Finanzfachmann, vor allem aber auch als produktiver Kritiker der literarischen Versuche seines Fürsten und in vielen weiteren Funktionen spielt er eine wichtige Rolle am Hof. Er war später Mentor des jungen Isaak Sinclair, korrespondierte mit Fichte, Jean Paul und vielen anderen republikanisch gesonnenen Autoren und übersetzte Rousseaus Contrat social. Fichte sorgte 1800 für den Druck der Übersetzung. Er traf Lavater, wohl auch Schiller und soll 1796 bis 1798 zum Freund Hölderlins geworden sein.
Er galt als schwärmerischer, revolutionärer Geist und war Johann Wilhelm Kämpf ‚wie einem Bruder‘ zugetan. Auch den Landgrafen ‚liebte‘ er. Er war wohl davon überzeugt, unter dessen Fittichen revolutionär-aufgeklärte Veränderungen anstoßen zu können. Dem Landgrafen indes wurde es zu viel mit seinen ‚Hofdemokraten‘. Im Januar/Februar 1794 entließ er sie allesamt. Zuerst den Radikalsten unter ihnen, Johann Wilhelm Kämpf, über den Homburger Bürger ihrem Unmut in Beschwerdeschreiben Luft gemacht hatten. Jung kündigte daraufhin von sich aus. Er blieb noch bis 1798 in Homburg, fand dann nach vielen anderen Betätigungen im französisch gewordenen Mainz eine Stellung als Bürochef des neu geschaffenen Département Donnersberg und starb am 25. August 1833 in Mainz. Gegen Ende seines Lebens, nach revolutionären Hoffnungen, die schwärmerisch grundiert waren, und vielen Enttäuschungen darüber, dass die Menschen es offenbar noch nicht gelernt hätten ‚frei und glücklich‘ zu leben, resümierte er: „Ich habe nie an der öffentlichen Vernunft, nie an der Republik gezweifelt.“38
Franz Wilhelm Jung wie auch Johann Wilhelm Kämpf waren radikale Befürworter der Französischen Revolution.