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Das Haus Lossow wird wiederentdeckt
ОглавлениеAm 2. Februar 2012 ist es eiskalt in Hanau. Wer da auf die Straße geht, muss schon einen triftigen Grund haben. So wie der Oberbürgermeister, der an diesem Tag mit hochgeschlagenem Mantelkragen quer über den Marktplatz auf ein unschönes Haus zugeht, dessen Bedeutung für die märchenhafte Stadtgeschichte erst kurz vorher entdeckt worden war. Bevor Oberbürgermeister Kaminsky das Haus Ecke Lindenstraße/Marktplatz erreicht, müssen ein paar Daten und Fakten genannt werden, die seinen Gang mit märchengeschichtlicher Symbolik aufladen.
Einer seiner Vorgänger, wenn auch in etwas schwieriger Traditionslinie, war diesen Weg einst täglich gegangen. Als Johannes Hassenpflug nach Bestimmung vom 14. Oktober 1789, dem Jahr der Französischen Revolution, Stadtschultheiß – also Bürgermeister – der Neustadt Hanau wurde, war das Neustädter Rathaus seit gerade einmal 56 Jahren in Betrieb. Einen „tüchtigen, pflichttreuen Beamten“1 brauchte man im Rathaus der Neustadt, weil die von französischen und Schweizer Hugenotten sowie von flämischen und wallonischen Calvinisten und aus Frankfurt kommenden Reformierten bewohnte Stadt nach Ausbruch der Revolution in Frankreich zum Fluchtort vieler Revolutionsgegner geworden war.
Schwierig ist die bürgermeisterliche Traditionslinie, weil es seit dem 1. Juni 1597 Hanau zweimal gab: Hanau Altstadt und Hanau Neustadt. Philipp Ludwig II. hatte an diesem Tag einen Vertrag mit calvinistischen Glaubensflüchtlingen aus den Spanischen Niederlanden und der Wallonie sowie Frankfurter Reformierten geschlossen, die ‚Kapitulation der Neustadt Hanau‘. Sie gilt als Gründungsakt des zweiten Hanau. Bis 1821 dauerte die Zweistädtezeit.
Der Oberbürgermeister ist immer noch nicht am Haus angekommen. Er musste erst noch einmal kurz zum Brüder-Grimm-Denkmal des Bildhauers Syrius Eberle von 1896 schauen, als hätte er sagen wollen: ‚Jetzt gehe ich zu einem Haus, das ihr ganz bestimmt gekannt habt. Wir werden da gleich eine Tafel anbringen für eine Frau, mit der ihr einmal befreundet wart.‘ Wo auf dem Neustädter Marktplatz seit 1896 das Nationaldenkmal der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm steht, hatte sich seit 1768 der Röhrenbrunnen mit dem hessischen Löwen obendrauf und Leda mit dem Schwan am Sockel befunden.2 Der Brunnen wich dem Grimm-Denkmal, kam auf die Philipp-Ludwig-Anlage am Paradeplatz, dem heutigen Freiheitsplatz, und wurde dann am 19. März 1945 beim alliierten Luftangriff auf Hanau zerstört.
Haus Lossow heute. Im zweiten Stock wohnt Elfriede Lossow
Mag der Weg über den kalten Markt auch ungebührlich gedehnt werden, so passt es doch gut zu der noch viel längeren Geschichte des Vergessens, der Unklarheit über das Wohnhaus der Hassenpflugs.
Auch der Verweis auf die Glaubensflüchtlinge in der Neustadt gleich zu Beginn dieses Buches ist durchaus berechtigt. Er macht nämlich klar, dass die Märchensammlung der Brüder Grimm auch eine ‚deutsch-französische‘ Angelegenheit war. Viel stärker, als man bis heute oft noch meint und als die Brüder es erkennen ließen. Das vorliegende Buch über Marie Hassenpflug erzählt von dieser deutsch-französischen Angelegenheit, und schon am Anfang sind wir mitten drin; denn Claus Kaminsky kommt jetzt am Haus Lossow an, leider nicht direkt an diesem Haus, sondern am – wie gesagt – ziemlich schlichten Nachfolgebau.
Das Fachwerkhaus mit Strebenkreuzen im ‚Wilden-Mann‘-Muster, mit Schnitzwerk verzierten Eckbalken und einem spitzen, schiefergedeckten Dach mit Gauben und einem schönen Giebel ist selbst Zeuge der Neustadtgründung. Es wurde nämlich gleich 1597 von Johann de Hollande, einem ‚Käskrämer‘ (Käsehändler) als Haus Amsterdam erbaut, kaum später als das erste Gebäude der Neustadt, das Haus Zum Paradies. Jean oder Johann de Hollande oder Hollandt kam ursprünglich aus Valenciennes, ging dann in die Niederlande und war seines reformierten Glaubens wegen nach Frankfurt ausgewandert. Der Frankfurter Rat verbot zunächst den Reformierten den Umzug nach Hanau. Johann de Hollande musste eine Geldstrafe von 500 Gulden wegen verbotenen Bauens in Hanau zahlen. Was ihn aber nicht daran hinderte, sich dort weiträumig anzusiedeln. Er wurde Gehilfe des ersten Bürgermeisters, Festungs- und Kirchenbauleiters René Mahieu und einer der Gründer der Hanauer Neustadt. Bald gehörte er zu den höchstbesteuerten Bürgern der Neustadt. Das Haus Marktplatz Nr. 13 gehörte zu den wenigen Bauten, die über dem steinernen Erdgeschoss einen unverputzten Fachwerkaufbau hatten.
In diesem seinerzeit für den niederländischen Neubürger gebauten Haus hatte der Hofkonditormeister Carl Joseph Lossow dann mit seiner Frau Katharina, geb. Reiffschneider, 1788 eine ‚Specereyhandlung‘ gegründet, die mit ihren Gewürzen, Süßigkeiten, Zigarren und anderen Genusswaren in Hanau bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg ein wohlklingender Begriff blieb. „Das Beste an der Hanauer Luft, ist Lossows Kaffeeduft“, wurde gesagt.
Aber nicht für den Konditor wird die Tafel angebracht. Im Oktober 1789 bezog die Familie des Stadtschultheißen Hassenpflug die Wohnung über dem Lossow’schen Laden. Man war zu dieser Zeit zu dritt: Vater Johannes Hassenpflug,
Haus Lossow 1937
seine Frau Maria Magdalena (auch Marie Madelaine) Hassenpflug, geborene Dresen, und das erste von fünf Kindern, Maria Magdalena Elisabeth Hassenpflug, geboren am 27. Dezember 1788 in Altenhaßlau, das heute zur Gemeinde Linsengericht bei Gelnhausen gehört.
Nun endlich wird die Gedenktafel vom Oberbürgermeister enthüllt. Die trotz klirrender Kälte erschienenen Hanauer Märchen-Enthusiasten rücken zusammen und lauschen seiner kurzen Rede. Unter den Einweihungsgästen ist auch Elfriede Lossow, eine ältere, sehr freundliche und lokalgeschichtsbewusste Dame, die nach dem Tod ihres Mannes allein die Wohnung im zweiten Stock des Lossow-Nachfolgehauses bewohnt. Ihr kommt an diesem Tag die Rolle Dornröschens zu. Sie weiß, dass die Hassenpflugs im Hause Lossow gewohnt hatten. Es war in all den Jahren, in denen man nach dem Zuhause von Marie Hassenpflug in Hanau gesucht hatte, niemand über den Marktplatz zu den Lossows, zu Elfriede Lossow vorgedrungen, um nach Marie (Maria Magdalena Elisabeth) Hassenpflug zu fragen. Dann aber, nach vielleicht hundert Jahren, hatte jemand in den Jugenderinnerungen von Maries Bruder Ludwig Hassenpflug das Zauberwort gefunden. ‚Lossow‘ hieß es selbstverständlich und Martin Hoppe aus dem Rathaus, der als Vorsitzender des Geschichtsvereins darauf spezialisiert ist, in der Gegenwart Vergangenes zu erkennen, wusste gleich, wo das Schloss zu finden war, wo Lossows Spezereien-Handlung einst gestanden hatte: ein paar hundert Meter vom Rathaus entfernt.
Und dann kam wieder Leben in die Sache. Über Marie Hassenpflug wurde seit dem Jahr 1975 viel geforscht. Sie wurde wiederentdeckt als eine der wichtigsten Beiträgerinnen der Brüder Grimm in Kassel. Im Ortsteil Breitenbach, das zur Gemeinde Schauenburg bei Kassel gehört, hat man 1997 eine Feuerwache in eine Märchenwache umgewandelt, in der seitdem aufs Schönste besonders auch das Andenken Marie Hassenpflugs gepflegt wird. Warum dort? Das wird später erzählt, und zwar ausführlich. Jetzt wird erst einmal daran erinnert, dass Jacob und Wilhelm Grimm3 am 4. Januar 1785 und am 24. Februar 1786 an der Südseite des alten Paradeplatzes (‚die Parad‘), am heutigen Freiheitsplatz 1, in Hanau auf die Welt kamen. Um 1787/88 zog man in das Haus zur Grünen Linde – heute Langstraße 41 – neben dem Hintergebäude des Neustädter Rathauses um.4 Vater Philipp Wilhelm war 1782 Stadt- und Landschreiber für die Altstadt Hanau und das Amt Büchertal geworden. 1791 wurde er nach Steinau an der Straße versetzt. Der Stadtschreiber wird den Schultheißen der Neustadt gekannt haben. Vom Paradeplatz zum Marktplatz der Neustadt war und ist es ein Katzensprung.5
Die Großeltern der Brüder Grimm, der Kanzleirat Johann Hermann Zimmer und seine Frau Anna Elisabeth, geborene Boppo, wohnten im ‚Dienald’schen Haus‘ bei der lutherischen Kirche am Johanneskirchplatz. Großvater Johann Hermann starb 1798, Großmutter Anna Elisabeth lebte nur bis 1792. Das sind vom Markt- und vom Freiheitsplatz, vormals Paradeplatz, auch nur ein paar hundert Meter. „Beide behandelten uns mit jener großen Zärtlichkeit, die Enkeln gewöhnlich zu Theil wird, und ich erinnere mich noch sehr gut, wie der Großvater, wenn wir späterhin ihn von Steinau aus besuchten, oft stundenlang sich zu uns setzte, seine zitternden Hände auf den Tisch legte und zusah, wie wir aus Niebuhrs arabischer Reise6 die Kupfer kopierten. Bis zu seinem Ende erteilte er uns in Briefen die liebreichsten Lehren“7 schreibt Wilhelm Grimm in seiner Selbstschilderung.
Marie Hassenpflug war also nur etwa vier und fünf Jahre jünger als Jacob und Wilhelm Grimm. Sie zog mit ihren Eltern am 15. April 1799 nach Kassel. Die Grimms blieben bis 1791 in Hanau. Ihr ‚Revier‘ in der Stadt teilten die Buben also zwei Jahre lang mit den Hassenpflugs. Dort lag auch das Wohnhaus von Tante Schlemmer. Juliane Charlotte Friederike Grimm, geborene Schlemmer, hatte bis zu ihrem Tod im Jahr 1796 in der Fahrgasse 11 gewohnt. Auch ganz in der Nähe von Parade- und Marktplatz. Bei der ältesten Schwester des Vaters, die keine eigenen Kinder hatte, lernten Jacob und Wilhelm als Vier- und Fünfjährige Lesen und Schreiben. Wilhelm in seiner Selbstschilderung: „Die Tante war eine verständige, wohlmeinende, aber ernste Frau, die uns den ersten Unterricht gab und einen großen Einfluß ausübte, da ihre Autorität unbedingt galt.“8
Zwei gemeinsame Jahre zwischen Markt- und (heutigem) Freiheitsplatz bzw. der Langen Gasse hinter dem Rathaus boten kaum die Gelegenheit, sich zu treffen. Besonders nicht, wenn Marie noch ein Baby war. Diese zwei Jahre aber genügten gewiss, um später, als Marie Hassenpflug und ihre Schwestern Jeanette und Amalie, genannt Malchen, die Grimms in Kassel regelmäßig sahen, Erinnerungen wach werden zu lassen. Besonders, wenn die Märchen-Brüder auf so eindringliche wie sprachmächtige Weise sich ihrer Kindheiten erinnern konnten.
Die beiden Familien sollten noch sehr viel mehr miteinander zu tun bekommen; denn Maries Bruder Ludwig Hassenpflug, inzwischen Obergerichtsrat und später kurhessischer Minister, heiratete am 2. Juli 1822 Charlotte Grimm, genannt Lotte, die einzige Schwester der fünf Brüder. Neben Jacob und Wilhelm hatten von den insgesamt neun Kindern von Dorothea und Philipp Wilheim Grimm Carl Friedrich (geboren 1787), Ferdinand Philipp (geboren 1788), Ludwig Emil (geboren 1790) und eben Charlotte Amalie (geboren 1793) das Säuglingsalter überlebt.
Marktplatz mit Brüder-Grimm-Denkmal, Haus Lossow, um 1940
Hier soll zunächst nur festgehalten werden, dass die Hanauer Kindheit der Brüder Grimm ihr Gelände in der Neustadt fand, wo die Hugenotten und die holländischen und wallonischen Bürger, nicht zuletzt mit der wallonisch-flämischen, auch ‚französisch‘ genannten Kirche, ein Zentrum hatten, in dem die Erinnerungen an die jeweilige Herkunft sehr lebendig geblieben war. Dazu gehörte unter anderem auch, dass man selbstverständlich – wie in der Familie Hassenpflug – Französisch konnte und auch sprach. Wir wollen mit Marie Hassenpflug das ‚französische Erbe‘ untersuchen und dieses Erbe kräftig in das ‚ächt hessische‘ Märchenprojekt der Brüder Grimm mischen. Niemand eignet sich hierzu besser als jene Marie, für die auf dem Grundstück des vormaligen Hauses Lossow am 2. Februar in großer Kälte eine Gedenktafel enthüllt wird.
Die frierende Märchen-Gemeinde zog an diesem Tag übrigens weiter in die Fahrgasse, um auch Tante Schlemmer mit einer Tafel zu ehren. Bleibt noch ein ‚jemand‘ und eine Frage. Jemand hatte das einst so prächtige alte Haus Lossow gesucht und gefunden, eine Art bürgerliches Schloss voller verlockender Spezereien aus märchenhaft fernen Ländern und zehn Jahre lang bewohnt von den Hassenpflugs, die in ihrer Familie eine französisch-hessische Doppelkultur lebten. Diese ‚jemand‘ muss hier nicht unbedingt verraten werden. Sie steht ohnehin auf dem Titel dieses Buches. Und die Frage? Warum wurde über Marie erst seit 1975 intensiver geforscht? Weil da erst Heinz Rölleke, der große Märchenforscher und selbst begnadete Erzähler, der in Hanau in Sachen Grimm ein und aus geht, die wahre Identität von Marie Hassenpflug als Beiträgerin zu Grimms Märchen nach wiederum etwa hundert Jahren (wieder)entdeckte. Zuerst also wurde sie entdeckt und dann ihr Hanauer Wohnhaus. Jetzt widmen wir ihr dieses Büchlein.