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Dornröschen

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Die Hinweise auf Dornröschen mögen ein wenig seltsam anmuten und aufgesetzt. Seit den Forschungen von Heinz Rölleke und Albert Schindehütte über den Zusammenhang zwischen den Biographien der Beiträgerinnen und Beiträger und ihrem jeweiligen Märchen-Repertoire schaut man aber gründlicher hin.9 Die bisher angedeuteten, eher der Fantasie geschuldeten Parallelen zwischen Marie Hassenpflug und Dornröschen sollen nun ernsthaft überprüft werden.

Dornröschen befand sich schon unter den Märchen-Manuskripten, die am 17. Oktober 1810 von Kassel aus nach Berlin zu Clemens Brentano geschickt wurden. Den größten Teil hatte Jacob Grimm aufgeschrieben, gefolgt von Wilhelm und anderen Gewährsleuten. ‚Aufgeschrieben‘ oder abgeschrieben; denn ein Teil dieser Urfassungen von Grimms Märchen stammte aus literarischen Quellen.10 Clemens Brentano hatte die Brüder Grimm zwar ermuntert, für ihn Märchen zu sammeln, so wie ein paar Jahre zuvor die Beiträger zu Des Knaben Wunderhorn11 alte deutsche Lieder; mit den ihm überlassenen Manuskripten aber hat er niemals etwas angefangen. Jacob hatte zwar vorausschauend Abschriften anfertigen lassen. Sie wurden aber verbrannt, nachdem sie für den Druck ausgewertet worden waren.

Unter den an Brentano geschickten Manuskripten gingen 16 auf Erzählungen der Schwestern Hassenpflug zurück. So stammten also die meisten der mündlich überlieferten Märchen in dem Konvolut der Urfassungen von drei jungen, sehr jungen Frauen. Sie waren gebildet, an Literatur interessiert und hatten durch ihre Mutter einen ‚französischen Hintergrund‘.

Bevor Dornröschen doppelt belegen mag, wie sehr es zum Leben von Marie Hassenpflug passt, folgt hier die Urfassung des Märchens, die als 19. Manuskript von den Brüdern Grimm nach Berlin zu Clemens Brentano gesandt wurde:

„ein König und eine Königin kriegten gar keine Kinder. Eines Tags war die Königin im Bad, da kroch ein Krebs aus dem Wasser ans Land u. sprach: du wirst bald eine Tochter bekommen. Und so geschah es auch und der König in der Freude hielt ein großes Fest u. im Lande waren dreizehn Feen, er hatte aber nur zwölf goldene Teller und konnte also die dreizehnte nicht einladen. Die Feen begabten sie mit allen Tugenden und Schönheiten. Wie nun das Fest zu Ende ging, so kam die dreizehnte Fee u. sprach: ihr habt mich nicht gebeten u. ich verkündige euch, daß eure Tochter in ihrem funfzehnten Jahr sich an einer Spindel in den Finger stechen u. daran sterben wird. Die andern Feen wollten dies so gut noch machen, als sie konnten u. sagten: sie sollte nur hundert Jahre in Schlaf fallen.

Der König ließ aber den Befehl ausgehen, daß alle Spindeln im ganzen Reich abgeschafft werden sollten, welches geschah, u. als die Königstochter nun funfzehnjährig war u. eines Tages die Eltern ausgegangen waren, so ging sie im Schloß herum und gelangte endlich an einen alten Thurn. In den Thurn führte eine enge Treppe, da kam sie zu einer kleinen Thür, worin ein gelber Schlüßel steckte, den drehte sie um u. kam in ein Stubchen worin eine alte Frau ihren Flachs spann. Und sie scherzte mit der Frau u. wollte auch spinnen. Da stach sie sich in die Spindel u. fiel alsbald in einen tiefen Schlaf. Da auch in dem Augenblick der König u. der Hofstaat zurückgekommen war, so fing alles alles im Schloß an zu schlafen, bis auf die Fliegen an den Wänden. Und um das ganze Schloß zog sich eine Dornhecke, daß man nichts davon sah.

Nach langer langer Zeit kam ein Königssohn in das Land, dem erzählte ein alter Mann die Geschichte, die er sich erinnerte von seinem Großvater gehört zu haben, u. daß schon viele versucht hätten durch die Dornen zu gehen, aber alle hängen geblieben wären. Als sich aber dieser Prinz der Dornhecke näherte, da thaten sich alle Dornen vor ihm auf u. vor ihm schienen die Blumen zu seyn, u. hinter ihm wurden sie wieder zu Dörnern. Wie er nun in das Schloß kam, küsste er die schlafende Princeßin u. alles erwachte von dem Schlaf u. die zwei heiratheten sich und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch.“ 12

Doppelt mit dem Leben der Marie Hassenpflug ist das Märchen verwoben, weil es zum einen in seiner deutlich erkennbaren Verwandtschaft mit Charles Perraults Märchen La Belle au bois dormant ihrem deutsch-französischen Hintergrund entspricht und zum andern ein behütetes, bürgerlich erzogenes Mädchen sich damals durchaus vorstellen konnte, auf den Mann ihres Lebens einfach nur zu warten. Eine weitere Parallele wird später genannt. Dann wird auch erklärt, wie sehr gerade dieses weltberühmte Märchen, das in Opern, Filmen oder Comics weiter- und weiterlebt, dem sogar mit der nordhessischen Sababurg ein touristisch hoch entwickelter Originalschauplatz zugewiesen wurde, auf die Abwehr des allzu offensichtlich Französischen bei den Brüdern Grimm stieß. Dornröschen wurde den Brüdern Grimm von Marie Hassenpflug erzählt, sie hat also Teil an der Autorschaft dieses Weltmärchens in der überall bekannten Grimm’schen Fassung. Man kann davon ausgehen, dass sie das Märchen schon im Hanauer – später so genannten – Haus Lossow kennenlernte. Wenn Märchen eine Heimat haben, wenn sie einem Ort zuzuordnen sind, dann käme hier allenfalls Hanau in Betracht; denn Hanau war, als die Familie Hassenpflug dort wohnte, eine, zugespitzt formuliert, deutsch-französische Doppelstadt, in der Hybriden wie Dornröschen von Perrault und den Brüdern Grimm an der Tagesordnung waren. Da Märchen aber grundsätzlich keine Adresse haben, keinen Ort in Hessen, Niedersachen und nirgendwo13, behält das Schloss mit dem alten Turm seinen Sitz im Märchen und nur dort. Hanau darf aber dennoch stolz sein: Eines der berühmtesten Märchen der Welt hat von dort aus seinen Weg genommen, und der ist noch lange nicht beendet.


Urfassung von Dornröschen in der Handschrift von Jacob Grimm, vor 1810, Ausschnitt

Marie Hassenpflug

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