Читать книгу ZEN und die großen Fragen der Philosophie - Heinrich Lethe - Страница 7

Оглавление

Kapitel 1 - Zen-Buddhismus und Philosophie

Dieses Buch unternimmt den Versuch, einige fundamentale Fragen der Philosophie aus dem Blickwinkel des Zen zu betrachten. Der Zen-Buddhismus (bzw. Zen1) beinhaltet interessante Einsichten, die eine große Nähe zu einigen klassischen Fragen der abendländischen Philosophie aufweisen. Auch in der Zen-Tradition gibt es grundlegende Fragen, die oftmals in Form der geheimnisvollen Koans formuliert werden. Können diese rätselhaften Koans etwas zur Beantwortung unserer wesentlichen Fragen des Daseins beitragen?

Die Fragen nach dem eigenen Selbst („wer bin ich?“), nach der Welt („was ist die Welt?“), nach der Wahrheit, nach der Wirklichkeit, nach der Freiheit oder nach dem Tod gelten seit alters her als die „Klassikerfragen“ des philosophischen Denkens. Philosophische Fragen sind nun aber keineswegs eine rein akademische Angelegenheit, sondern sie tauchen auch in unserem alltäglichen Denken und Handeln immer wieder auf. Insofern haben wir alle mehr oder weniger Erfahrung im Umgang mit diesen Fragen – sie sind uns nicht fremd. Jeder stellt sich Fragen über das Leben oder geht von Annahmen aus, die seine Handlungen bestimmen. So haben wir alle unsere eigenen Antworten und Erklärungen und damit eine Art „Alltagsphilosophie“ entwickelt, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Fragen über die Rätsel und Geheimnisse des Lebens gelten jedoch auch als Ursprung des philosophischen Denkens schlechthin. So steht für den griechischen Philosophen Platon das staunende Fragen über die Geheimnisse des Lebens am Anfang des philosophischen Denkens. Die Philosophie als Wissenschaft versucht nun, die andrängenden Fragen mittels des Denkens, mittels Logik, Sprache und Vernunft zu ergründen.

Ein großer Teil des Denkens im Anschluss an die antike Philosophie war von der Grundannahme geleitet, dass der Mensch vor allem durch seine Vernunft ausgezeichnet ist („animale rationale“). Demnach können wir im Denken und nur im Denken der Wahrheit nahekommen. Das, was den Menschen eigentlich ausmacht, wurde in der Entfaltung dieser Fähigkeit gesehen. Und selbst der Leitspruch der späteren Aufklärung lautete: "Sapere aude!" oder "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!". Die Vernunft und die darauf aufbauende Entfaltung dieser Fähigkeit in Wissenschaft und Technik wurden so zum grundlegenden Maßstab für unser Verständnis der Welt und von uns selbst. Dieser sogenannte westliche Weg ist fest in unseren kulturellen und individuellen Vorstellungen und Grundüberzeugungen verankert. Für uns heute klingt das alles auch ganz logisch und ganz und gar selbstverständlich.

Auf den ersten Blick steht das alles geradezu in direktem Gegensatz zu dem Vorgehen im Zen-Buddhismus bzw. Zen. Darin wird dem rationalen Denken und den Urteilen der Vernunft keine Bedeutung für das Erkennen der Wahrheit zugeschrieben. Im Zen würde man aber auch nicht von Erkennen der „Wahrheit“ in dieser Bedeutung sprechen. Es hat nichts übrig für begriffliches Philosophieren und Nachdenken, für Spekulationen oder für philosophische Dialoge - ja es ist geradezu gekennzeichnet durch ein tiefes Misstrauen gegenüber allem begrifflichen Denken.

Dies verdeutlicht auch eine überlieferte Geschichte von einer Begegnung zwischen dem historischen Buddha (563/483) und einem philosophisch eingestellten Schüler mit dem Namen Malunkya. Dieser suchte ihn auf und stellte ihm einige metaphysische Fragen: Ist die Welt endlich oder unendlich, ewig oder nicht ewig, ist der Geist identisch mit dem Körper oder nicht, existiert ein Erwachter nach dem Tode weiter oder nicht? Buddha schwieg zu den Fragen. Er erklärte ihm jedoch, dass er seine Zeit nicht mit philosophisch-metaphysischen Fragen verschwenden soll, sondern mit ganzer Kraft an seiner Befreiung arbeiten sollte. Er vergleicht diesen metaphysisch eingestellten Schüler mit einem Mann, der von einem vergifteten Pfeil getroffen wurde, der sich aber erst dann behandeln lassen will, wenn er weiß, was für ein Pfeil das war, woher er kam, wer ihn abschoss, warum er ihn abgeschossen hat usw.. Wenn er aber mit seiner Behandlung wartet, bis alle diese Fragen beantwortet sind, dann wird er wohl nicht mehr lange leben.

Durch diese Geschichte soll zum Ausdruck kommen, dass bloße philosophische Spekulation in Bezug auf diese Fragen, eine sinnlose Zeitverschwendung ist und uns der Wahrheit keinen Schritt näher bringt. Keine begriffliche Antwort wird uns jemals zufrieden stellen und womöglich übersteigt auch eine mögliche Antwort das Auffassungsvermögen unseres menschlichen Geistes. Diese Aussage lässt nun in philosophisch angehauchten Kreisen aufhorchen. In dem Moment, wo die Fähigkeit unseres Verstandes bestimmte Probleme zu lösen in Zweifel gezogen wird, steht relativ schnell der Vorwurf des Irrationalen oder gar des völlig Absurden im Raum. Worum geht es also im Zen-Buddhismus? Ein uralter Vers zu diesem Thema besagt:

„Eine Überlieferung ganz eigener Art außerhalb der Schriften, nicht gegründet auf Wörter und Buchstaben;

sie zielt direkt ins Herz der Wirklichkeit, so dass wir in unsere eigene Natur schauen und erwachen können.“

Es ist ein fundamentales Merkmal des Zen-Wegs, dass die grundlegende Wahrheit immer nur in sich selbst gesucht wird und niemals in irgend etwas Äußerem (also auch nicht in den Antworten von Experten und Wissenschaftlern oder aus gelehrten Büchern). Vielmehr wird auf die Erforschung des Grundes zurückverwiesen, wo alles seinen Ausgang nimmt: Auf die eigene innere Erfahrung, auf die unmittelbare Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst2, die jeder nur selbst erfahren kann. Damit ist nun nicht gesagt, dass wir unsere eigene Natur bereits kennen, sondern dass man in sie hineinschauen kann bzw. soll. In diesem Zusammenhang wird gerne das Bild vom „Schatz im eigenen Acker“ verwendet. Dies bedeutet, auf dem Boden der eigenen Erfahrungen seine Nachforschungen anzustellen, also gewissermaßen „da zu graben, wo man selbst steht“.

Nach zen-buddhistischer Auffassung können wir die „Wahrheit“ nur durch die direkte und unmittelbare Erfahrung selbst erfassen. Fragen, Nachdenken oder Diskussionen gründen sich dagegen auf Begriffe (Sprache), Verstehen und logischen Argumenten. Allem Wissen, dass auf diese Weise erworben wird, fehlt gewissermaßen die Unmittelbarkeit. Unmittelbar ist nur das, was direkt, also ohne einen Prozess oder Erklärung verständlich gemacht wird und daher ursprünglich ist. Das Verstehen oder Begreifen verfehlt damit den entscheidenden Punkt. Die Erkenntnis, auf die es im Zen ankommt, ist das Ergebnis einer tief gehenden eigenen „ Einsicht“. Bezugnehmend auf das zuvor aufgeführte Bild würde das bedeuten: Der gesuchte „Schatz“ liegt im Acker verborgen und kann nicht woanders gefunden werden. Alles, was von außen kommt, ist etwas anderes. Zen entzieht sich somit dem Zugang durch die Vernunft, auch weil es sich jeder begrifflichen Bestimmung verweigert.

Wenn nun im Zen auf die direkte Erfahrung selbst verwiesen wird, dann darf man nicht die Erwartung damit verbinden, dies mit außergewöhnlichen Erfahrungen oder geistiger Entrücktheit gleichzusetzen. Vielmehr ist in erster Linie eine Einfachheit und Klarheit des Geistes3 gemeint, die auf die Erfahrung und das Tun im gegenwärtigen Augenblick gerichtet ist und ohne unnötige Gedanken und Ablenkungen auskommt. Leider ist für die meisten modernen Menschen dieser einfache Geist oder Bewusstseinszustand nur mehr schwer vorstellbar. Er wurde weder gefördert, noch genießt er in unserem rational-technischen Zeitalter einen besonderen Stellenwert.

Der (Übungs-)Weg der Einfachheit und Klarheit des Geistes führt in die tiefe Alltäglichkeit, in die Welt der Menschen und des Umgangs mit den alltäglichen Dingen. Dabei geht es um ein waches und konzentriertes Aufgehen im einfachen Tun, ohne ein darüber hinaus liegendes Ziel oder einen bestimmten Nutzen anzustreben. Das klingt nun wahrlich nach nichts Besonderem. Und dennoch: Darin kann das gesamte Universum, die Einheit und Ganzheit der Phänomene, also alles aufscheinen. Die Besonderheit liegt daher auch darin, dass dabei auf eine Form der unmittelbaren Erfahrung gezielt wird, bei der noch nicht zwischen Ich und Anderem unterschieden wird. Darin sind Innenwelt und Außenwelt gewissermaßen vereint – eins.

Das verstandesmäßige Denken kann es sich nicht vorstellen, die Begriffe können es nicht erfassen. Und warum nicht? Durch die Verwendung von Begriffen treffen wir Unterscheidungen. Dadurch unterteilen wird die Wirklichkeit in lauter einzelne Teile (Dinge), die unabhängig voneinander zu existieren scheinen. Demzufolge gelangen wir zu täuschenden Vorstellungen über die Dinge und über uns selbst. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhaltes möchte ich ein einfaches Beispiel anführen:

Sitzen im Garten

Ich sitze auf einem Holzstuhl und betrachte den vor mir liegenden Garten. Ich habe mir vorgenommen, an nichts zu denken und mich auf meine eingehenden Wahrnehmungen einzulassen und sie möglichst genau zu registrieren. Mein Gesichtsfeld ist mit den Farben und Formen des Gartens ausgefüllt. Ich sehe die Bäume, Sträucher, Blumen, Pflanzen und das satte Grün der Wiese vor mir. Mein Blick schweift scheinbar ziellos umher. Der Schatten des Kirschbaums verbreitet an diesem Spätsommernachmittag eine angenehme Kühle. Die auf dem Boden liegenden feuchten Holzspäne wecken einen Geruch von Moder und Erde, der für einen Moment meine Nase ganz ausfüllt. Ich bemerke das immer wiederkehrende Gezwitscher der Vögel und ein leises Blätterrauschen. Ein leichtes Druckgefühl im Rücken lässt mich etwas unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen. Dabei fällt mir auf: Meine geschilderten Wahrnehmungen und Empfindungen, die ich mir während meines Sitzens bewusst vergegenwärtigt habe, sind alle schon sprachlich sortiert und eingeordnet. Durch die Einordnung meiner Wahrnehmungen wurde der Gesamteindruck in einzelne Teile zerlegt, den mir bekannten Begriffen zugeordnet4 und dadurch habe ich bestimmte „Dinge“ erkannt. Das klingt auf den ersten Blick unschuldig und auch ganz selbstverständlich. Ich nehme die mich umgebende Welt fast ständig auf diese Weise wahr: als eine Ansammlung von getrennten und voneinander unabhängigen Dingen.

Die genaue Betrachtung dieses Vorgangs legt nun einen bestimmten Verdacht nahe. Die Art und Weise, wie wir die Welt mittels der Sprache beschreiben, muss einige Vorannahmen und Voraussetzungen enthalten, die wir unbewusst unseren Erfahrungen überstülpen. Unsere Sprache ist eine Sprache der Gegenstände und Dinge. Mit dem begrifflichen Denken übernehmen wir damit wohl auch stillschweigend einige Vorstellungen über die Welt und über uns selbst. Diese prägen unsere Sichtweise und unser gegenwärtiges Bewusstsein. Dieser Sachverhalt lässt sich vielleicht am Bild einer Brille etwas veranschaulichen. Die Sprache bildet quasi die Gläser einer Brille, durch die hindurch wir die Welt sehen und verstehen. Unsere gewöhnliche Wahrnehmung bewegt sich immer schon in dem Rahmen einer begriffenen und verstandenen Welt. Auf diesen Punkt werde ich in den späteren Ausführungen noch ausführlich zu sprechen kommen.

Nun ist unser gegenwärtiges Bewusstsein aber nichts ein für allemal Feststehendes, sondern ein über viele Jahre gewachsenes Bewusstsein. Unsere individuelle Entwicklung, die Sprache, die Kultur und das gesellschaftliche Umfeld haben dazu beigetragen, eine Form des Bewusstseins zu entwickeln, dass man auch als dualistisches Bewusstsein charakterisieren könnte. Hierzu gehört auch die immer gegenwärtige Trennung zwischen der Welt auf der einen Seite und demjenigen, der die Welt mit seinen Sinnen wahrnimmt. Das dualistische Bewusstsein legt sich wie ein Schleier über alles und bestimmt dadurch grundlegend alle unsere Erfahrungen. Die Unmittelbarkeit, Einheit und Ganzheit der Wirklichkeit geht dadurch verloren. Wenn man jedoch zu dieser einen und ungeteilten Wirklichkeit vordringen möchte, muss man alles begriffliche Wissen hinter sich lassen - so zumindest die Forderung im Zen.

Wenn aber nun alles begriffliche Wissen trügerisch ist, welche Möglichkeiten bestehen dann überhaupt um philosophische Fragen zu beantworten? Es soll hier ja nichts anderes als der Versuch unternommen werden, aufzuzeigen, welche Antworten zustande kommen, wenn man philosophische Fragen stellt. Dies wäre nur dann möglich, wenn die Antworten nicht die klassischen Antworten im herkömmlichen begrifflichen Sinne wären, sondern eine zugrunde liegende mögliche Erfahrung beschreiben würden – also die Perspektive der Einheit und Ganzheit wiedergeben. Diese Perspektive der Einheit und Ganzheit lässt sich phänomenologisch beschreiben. Die Erfahrung selbst kann nur jeder selbst machen. Darin liegt ja gewissermaßen der Wahrheitsausweis dieser Methode. Mit der Beschreibung wird jedoch gleichzeitig die Möglichkeit eines grundlegend anderen „Vernehmens“ der Phänomene, jenseits des gewöhnlichen Verstehens, offengelegt bzw. gezeigt. Damit einher geht eine kritische und sachliche Analyse der beobachtbaren Phänomene. Auf diese Möglichkeit der Betrachtung (in Ergänzung der eigenen Übungspraxis) wird in vielen spirituellen Schulrichtungen als notwendiges Mittel zur Entfaltung von Weisheit hingewiesen.

Es handelt sich somit bei den Antworten um den Versuch einer Beschreibung der Perspektive der Einheit und Ganzheit, die in Zusammenhang mit einer bestimmten Fragestellung realisiert werden kann. Im Rahmen der Übungspraxis im Zen geht es dabei immer um die Verwirklichung der zugrundeliegenden Einsicht, das heißt um ein tiefer gehendes unmittelbares Verstehen, an denen der rationale Verstand nicht beteiligt ist. In der konkreten Verwirklichung dieser Einsicht und nur in der Verwirklichung dieser Einsicht liegt die zen-buddhistische Antwort oder besser: die (Auf-)Lösung der gestellten Frage. Alles, was darüber hinaus auch noch gesagt werden kann, resultiert aus dieser Einsicht.

Zu den klassisch philosophisch-begrifflichen Antworten auf diese Fragen (wie man sie in jedem „Lehrbuch“ der Philosophie nachlesen kann) möchte ich nur kurz anmerken, dass sie zumeist derselben Dimension angehören, wie die zugrunde liegenden Fragen. Sie lösen daher die Frage in der Regel nicht auf bzw. führen nicht darüber hinaus, sondern verfestigen in vielen Fällen nur das zugrunde liegende Problem. Sie führen je nach Gewichtung der verwendeten Argumente zu unterschiedlichen „Standpunkten“ und Meinungen. Das traditionelle philosophische Denken hat letztendlich nie den theoretischen „Standpunkt“ verlassen, wo der Fragende und das Gefragte voneinander unterschieden sind und der Fragende selbst in (die) Frage gestellt wird.

Im Gegensatz dazu hat die Zen-Tradition eine Reihe von Übungsweisen und Methoden entwickelt, um den Schüler für die nichtverbale Erfahrung der Wirklichkeit zu öffnen. In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere das geschichtlich überlieferte Koan-System heranziehen. Die Schulung mittels Koans wird im Rahmen der traditionellen Zen-Schulung insbesondere von der sogenannten Rinzai-Schulrichtung praktiziert (im Gegensatz zur Soto-Linie des Shikantaza = „nur Sitzen“).

Koans sind nun Fragen, Anweisungen oder kleine Begebenheiten, die sich nicht mithilfe des Denkens auflösen lassen. So lautet beispielsweise eine bekannte Zen-Frage: „Zeige mir dein ursprüngliches Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden“5. In diesem Koan geht es darum, diejenige Sichtweise zu zeigen, die noch nicht in die Unterscheidung eingetreten ist (um unser ursprüngliches „Ge-sicht“). Diese scheinbar absurde Frage zielt auf damit auf eine tiefe Wahrheit. Bevor wir in eine bestimmte Lebenswelt mit seinen moralischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und religiösen Vorstellungen hineingeboren wurden, waren wir ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Wer oder was sind wir, wenn wir alle diese erworbenen Vorstellungen über uns beiseite lassen? Die Frage zielt somit darauf ab, den Prozess der gedanklichen Erfassung der Wirklichkeit (den „unterscheidenden Geist“) hinter sich zu lassen und zu einer unmittelbaren Erfahrung der Wirklichkeit selbst zu kommen.

Nun sind aber Koans nicht vergleichbar mit philosophischen Fragen, die in der Regel ein ganz bestimmtes Thema haben. Der Sinn aller Koans ist annähernd der gleiche: nämlich der, dass die Welt eine zusammenhängende Ganzheit ist und dass jeder Einzelne von uns eben dieses Ganze ist. Auch wenn nun alle Koans diese Einheit und Ganzheit zum Ausdruck bringen, so liegt doch jedem Koan eine bestimmte Perspektive, eine Frage oder Situation zugrunde, die sich zumindest in einigen ausgewählten Fällen in Form einer philosophischen Frage formulieren lässt. Diese Fragen zu stellen und die mögliche „Antwort“ im Zen aufzuzeigen, ist das Thema dieses Buchs.

Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über den weiteren Ablauf geben: Zu Beginn des Buches erfolgt eine kurze Darstellung des methodischen Vorgehens, der phänomenologischen Methode. In dem nächsten Abschnitt wird auf die Notwendigkeit einer Erweiterung dieser Methode hingewiesen, um dem Anliegen im Zen auch gerecht werden zu können. Als Ausgangspunkt für die weiteren Betrachtungen dient dabei in erster Linie unser gegenwärtiges dualistisches Bewusstsein. Dieses Bewusstsein wird im Hinblick auf seine (denk-) geschichtlichen Wurzeln einer genaueren Prüfung unterzogen. Die Ausführungen in diesem Teil orientieren sich in erster Linie an den philosophischen Gedanken von Immanuel Kant und Rene Descartes. Dabei soll das, was wir als die Welt und unser Selbst bezeichnen, einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Über die philosophischen Gedankengänge und Analysen soll damit der Boden bereitet werden, um einen angemessenen Zugang zu den späteren Fragen zu ermöglichen. Anhand des philosophischen Gedankenexperiments von Johann Gottlieb Fichte soll das Phänomen des „inneren Beobachters“ einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Im Anschluss an diese Erläuterungen wird versucht, anhand von ausgewählten Koans einige grundlegende philosophische Fragen zu beleuchten. Mithilfe der Koans soll die Perspektive der Einheit und Ganzheit in Bezug auf die gestellte philosophische Frage zum Ausdruck kommen.

Ich möchte nicht versäumen den Hinweis hinzuzufügen, dass diese Wahrheit auf dem Wege der sprachlichen Vermittlung nicht zu erlangen ist, dass es sich dabei allenfalls um Fußnoten zu diesem Wissen handeln kann, also um den Finger, der auf den Mond zeigt. Der Finger, der in Richtung des Monds zeigt, ist nicht der Mond. Doch er ist dem Mond nicht so fremd, dass man auf ihn verzichten könnte.

1 Zur begrifflichen Vereinfachung werde ich im Folgenden nicht zwischen Zen und Zen-Buddhismus unterscheiden und beide Begriffe in komplementärer Weise verwenden.

2 Wie später noch zu zeigen sein wird, muss sich dieser Ansatz in unserer unmittelbaren Erfahrung erweisen – er ist somit radikal phänomenologisch.

3 Zur Kultivierung dieser Fähigkeit verfügen asiatische Kulturen über gesellschaftlich verankerte Übungswege. Zu dem Zen-Weg nahestehenden Künsten gehören Bogenschießen (Kyudo), die japanische Teezeremonie (Chado), die Kalligraphie (Shodo), das Blumenstellen (Ikebana) sowie der Schwertweg (Kendo). All diesen Wegen gemeinsam ist das aufmerksame Tun im „Jetzt“ und das Ausschalten von störenden Ablenkungen.

4 Durch das begriffliche Denken kommt es zu Unterscheidungen und dadurch grenze ich ein Ding von den anderen ab. Ein Begriff, der nicht unterscheidet und abgrenzt, also nicht dualistisch ist („Bäume“ und „Nicht-Bäume“), ist sinnlos (siehe auch Punkt 4.1: Koan vom Stock). Wenn wir im Denken Begriffe verwenden, so greifen wir einen Teil (z. B. einen Baum) aus einer Gesamtheit heraus. Wenn wir denken haben wir es somit immer nur mit Teilen zu tun, aber niemals mit der Ganzheit. Deshalb kann es – wenn überhaupt – nur zu Teilwahrheiten führen. Ein ganzheitliches Erkennen der Welt ist auf diese Weise nicht möglich.

5 Dieses Koan hat eine fast identische Entsprechung in der abendländischen Überlieferung im Johannesevangelium in der Aussage: „Ehe Abraham war, bin ich“. Mittels des dualistischen Denkens ist der Zugang zu dieser Dimension jedoch grundlegend verschlossen.

ZEN und die großen Fragen der Philosophie

Подняться наверх