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Kapitel 2 – Der Weg: methodische Vorüberlegungen

Zur Methode: Das Wort entstammt dem griechischen „methodos“ und setzt sich zusammen aus den Wörtern „meta“ = „entlang“ und „hodos“= „Weg“. Der „Methode“ kommt also in etwa die Bedeutung von „Entlanggehen eines Weges“ zu. Die Methode ist also das Verfahren, welches einen bestimmten Weg aufzeigt, mit dem ein Vorhaben durchgeführt werden soll.

Zu Beginn möchte ich kurz auf das methodische Vorgehen aufmerksam machen. Die Methode ist die jeweilige Hinblicknahme bei der Betrachtung eines Sachverhaltes. Darin zeigt sich die Art und Weise, wie vorgegangen wird, also das, was jemand tut bzw. tun muss, um zu den jeweiligen Erkenntnissen bzw. Einsichten zu kommen.

Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Kapitel enthalten einige Anmerkungen zu der Vorgehensweise. Es enthält einige grundlegende Überlegungen, um zu zeigen, wie bestimmte Hinblicknahmen bzw. Bewusstseinsweisen zustande kommen. Für den Fall, dass diese Ausführungen zu ausführlich bzw. zu theoretisch erscheinen, kann der Leser dieses Kapitel auch überspringen und gleich zu den philosophischen Betrachtungen (Kapitel 3) übergehen.

Kapitel 2.1 – Die phänomenologische Methode

Ich habe im vorangegangenen Kapitel davon gesprochen, die Perspektive der Einheit und Ganzheit möglichst genau beschreiben zu wollen. Nun gibt es auch in der neueren Philosophie eine methodische Schule, die eine möglichst unvoreingenommene Beschreibung der in unserer Erfahrung beobachtbaren Phänomene zum Ziel hat: die Phänomenologie. Die klassische Phänomenologie ist eine philosophische Methode und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Edmund Husserl begründet. Ihr Leitspruch lautet: „Zurück zu den Sachen selbst“ - damit ist nichts anderes gemeint, als eine möglichst genaue und vorurteilslose Beschreibung unserer tatsächlichen Erfahrung.

Phänomenologisch gehe ich also immer dann vor, wenn ich das beschreibe, was ich gegenwärtig erlebe. Eine solche unvoreingenommene Beschreibung meines Erlebens ist jedoch nicht einfach. Wir gehen ständig von unausgesprochenen Annahmen, Vorurteilen und Überzeugungen über die Dinge aus. In einem Roman über den philosophischen Existenzialismus beschreibt Sara Bakewell die phänomenologische Methode anhand einer Tasse Kaffee. Wie kann man das Geschmackserlebnis der Verkostung einer Tasse Kaffee phänomenologisch überhaupt beschreiben? In Zusammenhang mit diesem Phänomen gibt es doch viele Sichtweisen und Perspektiven, die einem dazu einfallen können. So kann ich beim Gedanken an eine Tasse Kaffee an die verwendeten Kaffeesorten, an die Anbauländer und die Anbauverfahren denken. Ich kann mir über die Verarbeitungsverfahren der Bohnen und die Art und Weise der Zubereitung von Kaffee Gedanken machen. Ich kann darüber Überlegungen anstellen, ob eine (weitere) Tasse Kaffee meiner Gesundheit zuträglich ist oder über den weltweiten Kaffeehandel nachdenken. Offensichtlich gibt es eine Anzahl von unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Phänomen und je nach der ausgewählten Zugangsweise erhält es eine andere Bedeutung. Bei all diesen Aussagen handelt es sich um meine Gedanken über den Kaffee, aber nicht um meine direkte Erfahrung des Phänomens. Wenn ich jedoch die Verkostung einer Tasse Kaffee in den Mittelpunkt stelle, dann zählt alleine das reine sinnliche Geschmackserlebnis. Darüber kann ich nur im Augenblick des direkten sinnlichen Kontaktes etwas erfahren. Mit den Worten von Sara Bakewell:

„Dieser Kaffee ist ein volles Aroma, duftend und robust zugleich; er ist die träge Bewegung eines Dampfkringels, der aus der Tasse aufsteigt. Wenn ich sie an meine Lippen führe, ist er eine sich träge bewegende Flüssigkeit und das Gewicht meiner Hand, die das schwere Porzellan umfasst. Dieser Kaffee ist der leicht bittere Geschmack auf meiner Zunge und eine wohltuende Wärme, die sich langsam in meinem Körper ausbreitet mit dem Versprechen von Wachheit und Erfrischung. All dies gehört zum Kaffee als Phänomen und offenbart sich durch die Erfahrung. Wenn ich nur rein „subjektive“ Elemente darin sehen würde, die ich besser außer Acht lassen sollte, um „objektiv“ über meinen Kaffee zu sprechen, müsste ich feststellen, dass von meiner Tasse Kaffee als Phänomen – dass mir durch meine Erfahrung als Kaffeetrinker vor Augen tritt – nicht mehr viel übrig bleibt.“ (Das Cafe der Existenzialisten/Bakewell/31).

Damit ich nun eine Tasse Kaffee phänomenologisch exakt beschreiben kann, muss ich von allen meinen Vorannahmen, Meinungen und Wissensinhalten, aber auch von meinen Gedanken und Gefühlen in Bezug auf Kaffee absehen, damit die „Sache selbst“ zum Vorschein kommen kann. Diese Verfahren der vorübergehenden Einklammerung aller Meinungen und Vorannahmen bezeichnete Husserl auch als „epochè“ („Enthaltung“, „Innehalten“) - eine bereits von den antiken Skeptikern verwendete Methode, um von unseren vorgefassten Meinungen und Urteilen Abstand zu nehmen. Erst durch diese inhaltliche Reduktion komme ich in den Genuss des reinen sinnlichen Geschmackserlebnisses6. Übrig bleibt dann der intensive und unmittelbare Geschmack des Kaffees: das Phänomen „an sich“, wie die Phänomenologen sagen würden – so zumindest der Grundgedanke.

Die prinzipielle Frage, die sich in diesem Zusammenhang aber stellt, ist folgende: Inwieweit kann ich in mich „hineinschauen“ und dabei mir selbst und den Dingen auf den Grund schauen? Der introspektive Versuch, sein eigenes inneres Erleben zu betrachten und gleichzeitig „von sich selbst“ (also von den eigenen Neigungen, Erwartungen und Gefühlen) völlig abzusehen, stellt sich in der Praxis als äußerst schwierig dar. Er dürfte normalerweise eher zu Verwirrung und Ratlosigkeit führen und das Bewusstsein nur umso mehr mit Gedanken, inneren Dialogen und Bildern füllen. Dieser Sachverhalt lässt sich auch durch ein einfaches Wahrnehmungsexperiment, wie z. B. der Beobachtung des Tickens einer Uhr, leicht überprüfen: Wenn ich dem Ticken einer Uhr zuhöre und dabei versuche von mir selbst abzusehen, wird es mir in der Regel nicht ohne weiteres gelingen, dass ich nur noch das Ticken wahrnehme, dass ich mich dabei völlig selbst vergesse. Meine Konzentration auf diesen Vorgang wird wohl immer wieder durch andere Wahrnehmungen und Gedanken gestört oder unterbrochen werden. Wenn dies der Fall ist, dann muss ich zugeben, dass ich nicht vollständig im Akt des „reinen“ Hörens bin und nicht ganz „Hören“ werden konnte. In der Regel nehmen wir auch gar nicht einfach nur das wahr, was ist, sondern wir nehmen die Dinge durch die „getönte Brille“ unserer gewohnten Denk- und Empfindungsweisen wahr. Wie später noch genauer aufgezeigt wird, kommt dabei dem begrifflichen Denken eine zentrale Bedeutung zu.

Kapitel 2.2 - Der Schritt über die klassische Phänomenologie hinaus: die phänomenologische Praxis der Einheit und Ganzheit

Die klassische Methode der Phänomenologie, wie sie von Edmund Husserl beschrieben und selbst praktiziert wurde, beabsichtigt jede Beteiligung des Ich auszuschalten, um so zu den Phänomenen an sich zu gelangen. Sie kommt dabei aber nicht über einen rein denkerischen Versuch hinaus und will mittels der Methode der Innenschau das eigene Denken hinter sich lassen. In den Grundzügen erinnert das sehr stark an den wohl vergeblichen Versuch, „sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen“. Bei der weiterführenden Betrachtung wird daher der methodische Schritt über die klassische Phänomenologie bzw. über das rein philosophische Denken hinaus erforderlich werden.

Der Grundgedanke der phänomenologischen Methode, der introspektive Blick auf die eigenen Wahrnehmungen und die Notwendigkeit einer Reinigung (Befreiung) von unseren üblichen Denk- und Sichtweisen (der Beteiligung des Ich), kommt jedoch dem Anliegen im Zen schon sehr entgegen. Auch im Zen sollen diejenigen Sichtweisen wegfallen, die täuschende bzw. verzerrende Vorstellungen über uns selbst und über die Dinge beinhalten. Dadurch soll eine tiefer liegende, grundlegendere und ständig präsente Realitätsebene zum Vorschein kommen. Die weitere Vorgehensweise bei der Durchführung dieses Projekts unterscheidet sich daher auch grundlegend.

Im Gegensatz zur klassischen Phänomenologie wurde im Zen jedoch eine Methode oder Übungsweise und damit eine Form der phänomenologischen Praxis entwickelt, um das Selbst wirklich hinter sich zu lassen. Da dies mittels unserer bewussten Absicht (also willentlich) nicht möglich ist7, geht es im Zen darum, mittels anhaltender Aufmerksamkeit auf ein Übungsobjekt (Atem/Koan) das herkömmliche Ich bzw. Selbst zu „vergessen“. Nur wenn das herkömmliche Selbst vergessen wird, ist ein unverstellter Blick auf die Dinge und das eigene Selbst möglich und die wahre Natur der Phänomene kommt zum Vorschein. Darin wird gleichzeitig, worauf ich später noch zurückkomme, die Perspektive der Einheit und Ganzheit realisiert. Oder mit den bekannten Worten des Zen-Meisters Dogen (1200/1253):

„Den Buddha-Weg zu studieren bedeutet, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, sich selbst wahrnehmen – in allen Dingen.“ (Dogen Zenji/Shobogenzo)

Zu der klassischen phänomenologischen Methode kommt im Zen also noch ein praktischer Aspekt hinzu. Im Nachvollzug einer Übungsanweisung8 liegt gewissermaßen der Wahrheitsausweis dieser Methode („tue dies, dann wirst du zu jenem Ergebnis kommen…“). Ziel dieses meditativen Übungsverfahrens ist die Erfahrung der Einheit und Ganzheit (Nichtdualität). Dabei können wir die wesenhafte Zusammengehörigkeit bzw. Nicht-Getrenntheit zwischen Ich und Welt erfahren. Diese nicht-dualistische Erfahrung kann jedoch mit Worten oder Begriffen nicht angemessen mitgeteilt werden, sondern erfordert die unmittelbare Erfahrung der Sache selbst. Die Qualität dieses Zustands muss direkt selbst erfahren werden.

Dieser Sachverhalt, dass niemand einem anderen, eine Erfahrung, die er selbst nie gemacht hat, mitteilen kann, ist uns auch bei alltäglichen Phänomenen durchaus bekannt: Wer noch nie eine tropische Frucht, wie z. B. eine Maracuja probiert hat, weiß nicht, wie diese schmeckt. Daran können auch viele weitere Informationen nichts ändern. Man kann zwar einen Vergleich ziehen, zu einer anderen bekannten Frucht oder man kann versuchen, die Geschmacksrichtung mittels Worten zu beschreiben. Je nach Reifegrad der Frucht hat ihr Fruchtfleisch und die darin enthaltenen schwarzen Kerne einen süß-säuerlichen-fruchtigen Geschmack, der vielleicht entfernt an eine Mischung aus einer Himbeere und einer Ananas erinnert. Der einzig jedoch wirklich erfolgversprechende Weg, den Geschmack einer Maracuja zu erfahren, besteht jedoch darin, selbst eine Maracuja zu verkosten. Habe ich sie probiert, dann weiß ich, wie eine Maracuja schmeckt. Zu dieser Erkenntnis komme ich jedoch nur, indem ich etwas Bestimmtes tue (also eine Maracuja zu probieren). Ich gebe zu, dass sich diese Erkenntnis auf den ersten Blick etwas banal anhört. Es ist aber auch nicht immer so einfach, wie im vorliegenden Fall.

Um den Kontext der Überlegungen etwas zu erweitern und zu vertiefen, möchte ich noch darauf hinweisen, dass jede empirische Wissenschaft nicht auf der reinen Beschreibung der Wirklichkeit, sondern in der Regel auf festgelegten Anweisungen beruht, etwas Bestimmtes zu tun und dadurch bestimmte Unterscheidungen zu treffen. Die jeweiligen Erkenntnisse, Überzeugungen und empirischen Wahrheiten ergeben sich erst dann, wenn die festgelegten Handlungsanweisungen nachvollzogen wurden. Somit besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der jeweiligen Zugangsweise und dem Erkanntem – ein Zusammenhang zwischen dem Beobachter und dem Beobachtetem.

„Der englische Logiker G. Spencer-Brown weist darauf hin, daß jede Experimentalwissenschaft auf der Befolgung solcher Anweisungen beruht: Schaue in ein Mikroskop und du wirst dieses oder jenes erkennen! Doch auch Logik und Mathematik basieren auf dem Prinzip des Kochrezepts: Tue dieses und du wirst dieses und jenes Ergebnis erhalten. Wenn du drei und drei zusammenzählst, dann erhältst du sechs. Schlag ein Ei in die Pfanne und du erhältst (nach einigen Momenten des Wartens) ein Spiegelei. … Um zu einer bestimmten Beschreibung der Welt zu gelangen, müssen sie etwas Bestimmtes tun. Und da man sich nicht nicht verhalten kann (auch das sprichwörtliche süße Nichtstun ist ein Verhalten), wird man auf jeden Fall irgendeinen Geschmack daran finden. Wird etwas nicht getan – beißt man nicht in die Papaya -, dann gelangt man auch nicht zu der damit verbundenen Erkenntnis – dann weiß man nicht, wie sie schmeckt. So ist auch die Tatsache, daß mancher manches nicht erkennt, häufig nur als das mühsam erreichte Ergebnis strebenden Bemühens (d. h. Vermeidens) zu erklären. Die kirchlichen Gegner Galileis weigerten sich durch das Fernrohr zu schauen, weil sie sich nicht dadurch in Schwierigkeiten bringen wollten, daß sie etwas erkannten, was nicht sein konnte, weil es nicht sein durfte (die Jupiter Monde)…“ (Simon/Meine Psychose, mein Fahrrad und Ich/55).

Wenn in den folgenden Ausführungen auf die Übungsmethode im Zen Bezug genommen wird, so handelt es sich dabei um ein praktisches Vorgehen, zur empirischen Erforschung des eigenen Geistes. Der Buddhismus hat sich in den einzelnen Schulrichtungen seit nunmehr 2500 Jahren lang sehr intensiv mit der Erforschung des Geistes beschäftigt und dabei eine Vielzahl an Erkenntnissen gewonnen. Dabei wird großer Wert auf den Zugang über die eigene Erfahrung gelegt. Die dabei auftretenden empirischen Erfahrungen und Erkenntnisse werden in einem zweiten Schritt von erfahrenen Praktizierenden überprüft.

„Nimm das Beispiel von Mathematik oder theoretischer Physik. Zunächst mußt du dich auch hier auf die Behauptung der Wissenschaftler verlassen, sie hätten dies oder jenes Elementarteilchen gefunden oder eine bestimmte Gleichung gelöst, ohne diese Behauptung gleich selbst überprüfen zu können. Aber du könntest dich in Mathematik und Physik ausbilden lassen und die Behauptung dann selbst überprüfen. In den kontemplativen Wissenschaften ist es dasselbe. Du mußt erst dein geistiges Teleskop verfeinern und die Beobachtungstechniken über viele Jahre hinweg verbessern, um dann selbst bestätigen zu können, was die kontemplativen Forscher entdeckt und worauf sie sich geeinigt haben“ (Singer/Ricard/Hirnforschung und Meditation/25).

Im Fortgang der Übungspraxis soll zum Ausdruck kommen, dass Phänomene, die zunächst nicht unmittelbar einsichtig sind bzw. durch täuschende Vorstellungen, Annahmen und Überzeugungen verdeckt werden, zum Vorschein kommen. Der zen-buddhistische Weg zum Erkenntnisgewinn erfolgt in Form einer phänomenologischen Übungspraxis. Mittels dieser praktischen Übungsmethode wird es möglich, die Ebene des ursprünglich vorhandenen dualistischen Bewusstseins aufzubrechen und zu der Ebene der Einheit durchzubrechen. Durch die Übungspraxis wird es möglich, die grundlegendste Ebene der eigenen Erfahrung zugänglich zu machen, also die Weise, wie sie sich zeigt, wenn der Geist vom Ballast seiner Täuschungen befreit ist – der bewusste Geist im Hier und Jetzt.

6 Im Rahmen der phänomenologischen Methode wird in diesem Zusammenhang von „Selbstgegebenheit“ gesprochen. Dadurch wird ein bestimmter Sachverhalt unmittelbar einsichtig - „selbst gegeben“.

7 Der Versuch, die aufkommenden Gedanken, Gefühle, Bilder, und Assoziationen willentlich zu unterdrücken, kann nur in einer Verkrampfung enden. Dieser Sachverhalt ist auch leicht zu überprüfen, indem man versucht, die nächsten Sekunden nicht an einen Marienkäfer zu denken.

8 Die Grundlage des buddhistischen Übungswegs sind klare Anweisungen (so z. B. die Konzentration auf die Atmung): Sie dienen als Handlungsanleitung oder Übungsanweisung und ihre Nachvollziehbarkeit macht ihre Wahrheit oder Wirksamkeit aus. Die Instruktionen sind direkt und für gewöhnlich auch sehr einfach, aber man muss die zugehörigen Prozesse erst einüben und entwickeln.

ZEN und die großen Fragen der Philosophie

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