Читать книгу Die kleine Stadt - Heinrich Mann - Страница 4
II
ОглавлениеUm fünf, bevor es heiß ward, machte der Advokat Belotti, schon im schwarzen Rock, der hinten spitz abstand, seinen Morgenspaziergang. Wie gewöhnlich wollte er, um auf die Straße zu gelangen, durch den Garten des Palazzo Torroni hinabsteigen; hinter einer Säule im Flur kam aber Saverio hervor, der Hausmeister, Kammerdiener und Gärtner, und stellte die Hand an den Mund.
„Herr Advokat!“
„Was gibt es, Saverio?“
Da der Diener flüsternd sprach, tat auch der Advokat es.
„Der Herr Baron ist die Nacht draußen gewesen. Noch immer ist er draußen.“
„Ah! diese Jäger. Die Jagd, mein Freund, ist eine Leidenschaft, die einen Mann ganz hinnimmt. Wenn ich Ihnen von mir selbst sprechen soll . . .“
„Aber es handelt sich nicht um Jagd, Herr Advokat. Er ist ins Gasthaus „zum Mond“ gegangen und noch nicht wieder herausgekommen.“
Der Advokat öffnete den Mund und erhob den Zeigefinger.
„Schau, schau“, sagte er, — und er begann zu lachen, zuerst ein lautloses Lachen und dann wie ein heiser rasselndes, woraus Husten und Speien ward. Als er zur Ruhe kam, mit aufgerissenen Augen:
„Werden wir einen Skandal haben, Saverio?“
Und er bot dem Diener die Zigarettenbüchse.
„Die Frau Baronin schläft. Ich habe im Schlafzimmer des Herrn alles umhergeworfen, als sei er früh aufgebrochen, und ich habe die Nacht bei der Haustür verbracht.“
„Wenn Sie nicht wären, Saverio! Möchte ers nicht zu weit treiben und heimkehren, bevor alle auf der Straße sind. Ich gehe, damit uns niemand beisammen sieht. Jetzt ist tiefes Schweigen geboten, Saverio.“
Rückwärts machte der Advokat sich aus dem Hause. Den Morgenspaziergang hatte er vergessen; der Schauplatz des Außerordentlichen verlangte seine Gegenwart. Hinter ihm, im Corso, war ein eiliger Schritt: Don Taddeo. Der Advokat grüßte herzhaft.
„Ein schöner Morgen, wie, Reverendo?“
Der Priester sah ihn an mit ganz roten Augen, zog die Soutane enger um seinen mageren Körper, als fürchtete er eine Berührung, und — klapp, klapp — war er um die Ecke. Der Advokat starrte hinterher.
„Kaum daß er an die Kappe gegriffen hat. Weiß er —? Und er steckt mit der Baronin zusammen. Wir werden einen Skandal haben.“
Ungewöhnlich belebt, schwänzelte er den noch stillen Corso hin und drückte sich, dem letzten Domfenster gegenüber, plötzlich um die Ecke, wo es abwärts zum Gasthaus ging. Nun lag es da, noch halb schlafend, beim Rinnen des Brunnens, an seinem kleinen strohbesäten Platz, mit den Ställen links, der Weinlaube drüben, — und im zweiten Stock stand ein Fenster offen. „Sieh da,“ sagte sich der Advokat, „sie lieben die frische Luft. Aber jetzt wäre es Zeit, zu erwachen.“ Er bückte sich nach einem Steinchen und warf es, heftig keuchend, ins Fenster. „Sie scheinen recht sehr ermüdet und werden auch wissen, wovon.“ Wie er das zweite Steinchen auflas, erschien unter dem Haustor neben dem Wirt Malandrini der Baron Torroni selbst. Er war wie immer im braunkarierten Jagdanzug, mit der Flinte über der Schulter, und stürzte sich schon ein großes Glas Wein in den Schlund.
„Ah!“ rief der Advokat sogleich. „Herr Baron, was für eine schöne und gesunde Beschäftigung ist die Ihre! Wäre ich nicht an meine Studierstube gefesselt —. Und wohin geht es an diesem glänzenden Morgen? Aufs Feld, nach Lerchen? Wohl gar ins Gebirge gegen den Eber?“
„Ich bin gekommen,“ erklärte der andere, „um den jungen Mann abzuholen, der hier wohnt: diesen Sänger —“
„Den Herrn Gennari“, ergänzte der Wirt. „Ich werde Sorge tragen, daß er den Herrn Baron nicht warten läßt. Bemühen Sie sich nicht!“
„Er hat mir versprochen, sogleich fertig zu sein. Inzwischen gehe ich voran.“
Er drückte dem Advokaten die weiche Hand und verschwand rasch.
Der Wirt räusperte sich vorsichtig.
„Sehen Sie das offene Fenster?“
Der Advokat zwinkerte.
„Er ist gar nicht zu Hause gewesen“, sagte der Wirt. „Er ist überhaupt nicht heimgekommen.“
„Ah! dann ist es also nicht dieses Zimmer?“
Malandrini zwinkerte.
„Das ist das andere, daneben. Das Fräulein schläft jetzt weiter.“
„Es scheint, sie hat es nötig. Ah! dieser Baron.“
„Ein richtiger Edelmann“, bemerkte der Wirt.
Sie sahen sich an, leise funkelnd.
„Und der andere?“ begann der Advokat wieder. „Der Komödiant? Auch er ist draußen? Da gibt es vielleicht etwas noch Stärkeres? Mein Freund, mir beginnt zu ahnen, daß wir Dinge erleben werden in der Stadt —“
Der Wirt seufzte. Dann aber, mit Händereiben:
„Das Gute ist dabei, daß wir ein wenig Bewegung herbekommen . . . Entschuldigen Sie mich, ich decke lieber gleich selbst in der Laube die Tische. Meine Frau wird erst spät herunterkommen. Sie schläft noch, denn ihr ist etwas Außerordentliches zugestoßen. Wie ich die Augen öffne und sie vergeblich an meiner Seite suche, tritt sie ins Zimmer, sieht verwacht aus und erklärt mir, daß die Seele ihres Vaters sie hinausgerufen habe. Die Seele habe verlangt, daß ich nicht geweckt werde. So viel Rücksicht!“
„Das ist der Aberglaube der Frauen“, sagte zornig der Advokat. „Wie lange noch werden wir ihre Erziehung den Nonnen überlassen! Sie glauben doch nicht an diese alberne Geschichte, Malandrini?“
„Wie werde ich. In den Frauen geht manches vor, was wir nicht kennen. Man muß Geduld haben.“
„Aber sagen Sie doch, dieses Mädchen! Gleich die erste Nacht! Hätten Sie das etwa geglaubt, Malandrini?“
„Warum nicht?“ — und der Wirt fuhr auf. „Ist das Gasthaus „zum Mond“ denn ein Kloster? Und übrigens, was weiß man. Nur was Sie erzählen, Advokat.“
„Oh!“
Der Advokat legte die Hand aufs Herz.
„Dieser Priester scheint gewußt zu haben,“ sagte er noch und drehte nachdenklich von dannen, „warum er die Komödianten nicht zu seinen Schäfchen hineinlassen wollte. Man muß zugeben, daß seinesgleichen sich auf Menschen versteht.“
„Wollen Sie auf die Straße?“ rief Malandrini ihm nach. „Dann benutzen Sie doch die Gartenpforte!“
„Sie haben recht“ — und der Advokat kehrte um. „Man muß bei seinen ruhigen Gewohnheiten bleiben. Seit siebenundzwanzig Jahren habe ich meinen Morgengang nicht sechsmal versäumt, und ich hoffe ihn noch weitere siebenundzwanzig Jahre zu machen.“
Hinter dem Hause ging er den Weinhügel hinab, erreichte drunten die Straße — noch übergitterten die Schatten der Platanen sie dicht — und nahm den Hut ab, um sich zu trocknen. „Ah, hier atmet man. Solche Luft haben sie nicht in den großen Städten, unsere braven Künstler . . . Der Baron weiß diese Weiber zu nehmen, wie es scheint. Man sagt, daß er als Offizier —. In Rondone soll er ein Kind haben . . . Aber schließlich, was ist dabei? Alles wohl bedacht, könnte es sein, daß auch ich —. Der Junge der Andreina, mag sie es mit der Treue auch niemals genau genommen haben, der Junge wird mir jedes Jahr ähnlicher . . . soweit ein Bauer mir ähneln kann. Damals warf ich die Andreina einfach in das Korn. Mit der Komödiantin muß man es ebenso machen.“
Er hielt an, sah angstvoll umher, wie nach einem passenden Platz, und trocknete sich nochmals. Unter der Straße stiegen die Ölbäume, schwachsilbern, die Erdstufen hinab und setzten über den Fluß, der um ihre dunkeln Wurzeln glänzende Schleifen wand. Die letzten dahinten und die weißen Gehöfte zwischen ihnen schienen vom Meer bespült: so tief blaute schon die heiße Ebene. Über ihm blickte dem Advokaten die Stadt nach, aus blinkenden Scheiben, Mauern, die zwischen zwei Zypressen ein wenig klafften, und ganz schwarzen Torbogen. „Wo dieser Tenor steckt! Denn sagen wir nur die Wahrheit: in einem Winkel der Stadt wird er wohl die Nacht verbracht haben. Zu denken, daß er bei der Frau eines meiner Freunde ist, — der einen sehr guten Schlaf haben muß. Sollte es nicht der Polli sein, mit seinem Schnarchen? Vergangenen Herbst hat er sogar beim Erdbeben weiter geschnarcht! Vielleicht läßt sichs ihm ansehen. Das müßte man einem Manne doch ansehen! Eh, eh, es hat sein gutes, als Junggeselle zu leben. In jedem der Häuser dort oben kann jetzt der Komödiant seine Dinge treiben: nur in meinem treibt er sie sicher nicht . . . Und beim Camuzzi? Wie steht es beim Camuzzi?“ Das aufgeblühte Gesicht des Advokaten fiel ein, da er an seinen Feind, den Gemeindesekretär dachte.
„Er verdient es wie kein zweiter, dieser Ignorant, dieser Unverschämte! Ah! setze noch einmal dein höhnisches Lächeln auf, Freund, — und aus deiner Stirne sieht man es indessen keimen!“
Der Advokat tat einen tiefen, glücklichen Atemzug.
„Das ist wirklich ein sehr schöner Morgen.“
„Aber leider“, bemerkte er dann, „scheint diese kleine Frau Camuzzi zufrieden. Dem Severino Salvatori, der sie in seinem Korbwagen umherfahren wollte, hat sie geantwortet: nicht einmal über den Platz bis vor die Domtür! Und doch sollte ihre Mutter dabei sein. Aber die Camuzzi ist bescheiden und stolz, sieht niemand an, geht immer nur zur Kirche. Nicht viel, und sie gehört zu der Garde des Don Taddeo . . . Nein,“ mußte der Advokat erkennen, „von ihr läßt sich nur wenig hoffen.“
Er richtete sich sogleich wieder auf.
„Aber auch andere wären nicht zu verachten, und ich meinesteils hätte nichts dagegen, wenn die Frau des Doktors —. Ah! die da ist eine Lasterhafte: das fühlt man. Denn erstens ist sie zu dick, um tugendhaft zu sein. Und hat sichs erst gezeigt, daß sie dem Komödianten Gefälligkeiten erweist: — denn was ist der Komödiant und sind andere etwa weniger gut? Wenn ichs recht bedenke, hatte ich in betreff ihrer schon längst meine Vorsätze gefaßt. Ihr Gatte soll sehen, daß der Zucker, den er bei mir feststellen wollte, so etwas nicht verhindert. Zucker, wenn noch so wenig, bei einem Mann wie mir! Und ich soll etwas dagegen tun! Der Doktor wird sehen, was ich tue! Ah! Ah!“
Er rieb die Hände, schwenkte sich herum und lachte keuchend nach der Stadt hinauf. Dann fiel er in Nachdenken: sie sah ganz anders aus. Noch gestern hätte man manches nicht für möglich gehalten. Natürlich gab es in ihr die Dinge, die es überall gibt. Abgesehen von dem Hause in der Via Tripoli: auch die Wäscherinnen auf dem Bäckerberg kannte jeder; und der Advokat war persönlich besonders gut unterrichtet über die Witwe eines städtischen Zollbeamten, die vorgeblich Hüte aufputzte. Ferner bestanden die Gerüchte bezüglich der Mama Paradisi und des alten Mancafede; neuerdings und halblaut auch die über Frau Malandrini und den Baron Torroni, — die der Advokat seit heute früh für unwahrscheinlich hielt. Jetzt aber handelte es sich nicht mehr um die oder jene. Kaum eine blieb, nun der Komödiant umging, noch unerreichbar; und das Prickelndste wäre vielleicht dennoch gewesen, wenn im selben Augenblick, wo der Baron Torroni seine Frau mit jenem Mädchen hinterging, die Baronin es ihm mit dem Tenor vergolten hätte! Der Advokat ward erfinderisch, sein Geist schweifte aus und verwandelte die Stadt in sein freies Jagdgebiet. Dem Komödianten folgte er selbst auf dem Fuße, in jedes Schlafzimmer. Vor dem der Baronin hatte er eine alte Scheu zu überwinden; aber dann hüpfte er, mit einem Schnippchen, auch über diese Schwelle.
Von seiner Phantasie verjüngt, war er dahingeeilt, ohne zu merken, wie seine Arme ruderten und wie es unter seiner Perücke hervortroff. Auf einmal, schon hinter dem öffentlichen Waschhause und auf halbem Weg nach Villascura, sah er sich dem Komödianten gegenüber: ihm selbst. Jener grüßte und wollte langsam vorbei; aber der Advokat fuhr auf, nach Luft schnappend.
„Das ist doch . . . da sind Sie: also, da sind Sie.“
„Da bin ich, zu Ihrer Verfügung“, bestätigte der Tenor.
„Das heißt,“ — und das lederfarbene Gesicht des Advokaten ging in ein zynisches Lächeln auseinander, „wer weiß, zu wessen Verfügung Sie hier sind.“
„Was wollen Sie sagen?“ fragte der junge Mann. Unvermittelt ward er drohend aussehend.
„Nichts, o nichts. Sie gehen spazieren, wie ich bemerke, Herr Gennari. Sie sind früh auf. Ich habe, müssen Sie wissen, die kleine Eitelkeit, jeden Morgen der erste draußen zu sein: aber was tut es einem Manne Ihres Alters, auch einmal um fünf das Bett zu verlassen, wo er eine glänzende Nacht verbracht hat.“