Читать книгу Die kleine Stadt - Heinrich Mann - Страница 7
Оглавление„Es wäre nicht nötig gewesen.“
„Nach Ihrem Belieben. Indessen, da sie viel allein ist, beschäftigt sie gern ihren Geist, und so scheint es, daß sie, mehr als wir andern, von der Welt weiß und von gewissen Dingen, die“ — mit der Hand auf dem Herzen — „uns andern zu groß sind. Ihr Ruhm, Cavaliere, hat meine Evangelina nicht schlafen lassen. Sie schläft sonst nach dem Mittagessen; gestern aber stand sie, nach einigem Seufzen, wieder auf und sagte: ‚Papa, jetzt ist er unterwegs hierher!‘ ‚Wer, Töchterchen?‘ ‚Er, der Cavaliere Giordano.‘ Und tatsächlich, bedenkt man es wohl, o meine Herren, soll man ihr dann nicht recht geben, und ist es nicht ein wahres Wunder, daß ein Mann, den sie in Paris und in London mit Angst erwarten, alles ausschlägt, um gerade uns zu erwählen? Kaum glaubt man es, daß er hier sitzt, mitten unter uns, wie einer von uns!“
„Tatsächlich“, sagten die Bürger nachdenklich. Der Advokat meinte:
„Dies wäre wirklich eine Gelegenheit, am Rathaus eine Gedenktafel anzubringen.“
Der Sekretär Camuzzi verzog zweiflerisch das Gesicht, aber er hatte die Mehrheit der Bürger gegen sich. Sie erklärten:
„Ein guter Gedanke! Eine patriotische Tat! Die Stadt schuldet es sich!“
Der Cavaliere Giordano verbeugte sich, groß und glücklich, nach allen Seiten. Dann wandte er sich vertraulich an den Kaufmann:
„Und, nicht wahr, mein Herr, irgendein Zufall wird es sein, der Ihrer Tochter meine bevorstehende Ankunft enthüllt hat? Sie hat diese Kenntnis nicht aus sich selbst und nicht auf geheimnisvolle Art? Das alles hat nichts zu bedeuten?“
Mancafede hörte die Bitten des Cavaliere schweigend an. Wenn er sich den alten Tenor zum Feind machte, drohte ein Ballen roten Flanells, den die Bauern nicht gekauft hatten und den er jetzt an die Komödianten hätte loswerden wollen, noch länger liegen zu bleiben. Aber sein väterlicher Ehrgeiz siegte, und er hob die Schultern.
„Welch Zufall denn wohl, — da nur der Maestro darum wußte. Sagen Sie selbst, Maestro, ob Sie einer lebenden Seele einen Wink erteilt haben!“
„Um nicht beschämt zu sein, wenn der Cavaliere nicht kam. Aber was hat es mir genützt,“ — und die blauen Augen des Kapellmeisters waren feucht und zornig — „da er nun fort will, ohne gesungen zu haben!“
Der Kaufmann schlug entsetzt die Hände zusammen; ein Murmeln der Trauer ging durch den Kreis der Bürger. Der Cavaliere beschwichtigte sie mit einer Geste von leichter Erhabenheit.
„Fürchten Sie nichts!“ sagte er, machte eine Pause und stellte sich die Gedenktafel vor, „ich werde bleiben.“
„Ah!“
„Ich habe bedacht, daß ich auch in Parma blieb, trotz der Gefahr, die Sie kennen. Möglich, daß dies die Stadt mit nicht hunderttausend Einwohnern ist, die mir verhängnisvoll werden soll: aber, nicht weniger entschlossen als in Parma, wähle ich statt des Lebens den Ruhm;“ — und er senkte die Hand im Bogen auf den Tisch. Der Kapellmeister ergriff sie mit seinen beiden und schüttelte sie wild.
„Cavaliere, nie werde ich Ihnen danken können, was Sie für mich tun!“
Er stammelte mit feuchter Stimme:
„Dann darf ich also hoffen, daß auch die andern Herren —“
„Sie werden bleiben“, ergänzte der Kaufmann. „Das wissen wir, ohne meine Tochter zu fragen.“
Und er erinnerte den Familienvater Gaddi an die Erhöhung der Gagen, sobald das Theater ausverkauft wäre. Der Bariton lächelte schwelgerisch. Dem Fräulein Italia Molesin verhieß Mancafede einen reichen und mächtigen Freund. Sie und der Advokat sahen errötet aneinander vorbei.
„Was aber den Herrn Nello Gennari betrifft,“ sagte der Kaufmann, „sind wir sicher, daß alle seine Träume sich erfüllen werden.“
Gaddi streckte schon die Hand aus, um seinen Freund zu halten, aber Nello brach nicht los; er schluckte hinunter und senkte zu aller Überraschung vor dem spöttisch blinzelnden Kaufmann die Lider.
„Halten wir uns doch mit diesen Nebensachen nicht länger auf!“ verlangte der Kapellmeister und trat von einem Fuß auf den andern. „Meine Herren, ich mache Sie dafür verantwortlich, wenn wir —“
„Schließlich hat der Maestro recht“, sagte Italia, denn der Advokat trat sie zu stark, und sie stand auf. Auch die übrigen machten sich fertig. Nello Gennari allein blieb sitzen.
„Ich kann noch nicht singen“, behauptete er hartnäckig. „Ich muß vorher allein sein. Geht nur zu, erwartet mich in zehn Minuten! Ich muß allein sein.“
Er nahm den Kopf zwischen die Hände und war nicht mehr zu sprechen. Die Bürger fühlten sich zu angeregt, um heimzugehen. Da der Kapellmeister sie durchaus nicht mitnehmen wollte, beschlossen sie, ihr Zusammensein im Laden des Tabakhändlers Polli zu verlängern.
Der Kapellmeister stolperte in seiner Hast über Jungen, die am Boden mit Steinchen warfen. Er riß sie auseinander und verlangte, daß sie den Platz räumten. Er hielt sich nicht mehr; alles war ihm im Wege: die Hunde, die gaffenden Handwerker an den Mauern. Da schlug es zwölf, und sie verzogen sich im bunten Getöse des Mittagläutens.
Der Advokat begleitete Italia Molesin. Der Kapellmeister, der zwischen Gaddi und dem Cavaliere Giordano ging, wandte sich auf den ersten Stufen der Treppengasse um und rief: „Sie wissen wohl, Herr Advokat, wir können keinen Fremden bei der Probe gebrauchen.“
„Versteht sich“, rief der Advokat zurück. „Sie werden nicht kommen, ich bürge dafür, sie sind bei Polli.“
Und er bückte sich, um eine Ziege zu entfernen, die seiner Dame im Wege lag. Aber Italia hüpfte kreischend über sie hinweg.
„Mir gefällt die Unerschrockenheit schöner Frauen“, sagte der Advokat. Durch den Kot der Hühner, die gackernd flüchteten, stiegen sie zwischen den schwarzen Häusern fort, aus deren Türen Rauch schwankte.
„Gut, daß wir dableiben,“ sagte Italia, und lachte; „ich hätte nicht gewußt, wie ich meine Reise bezahlen sollte, oder auch nur den Wirt.“
„Wie? Aber hat denn der Baron nicht —?“
Er schlug sich auf den Mund.
„Wer?“ fragte sie.
„O, niemand!“
Italia wandte einen raschen Seitenblick nach ihm um, schüttelte lachend die Schultern und sprang höher. Er keuchte, rechts und links winkend, hinterdrein.
„Bemerken Sie, wie alle auf die Schwellen treten? Jeder hat schon Rat und Beistand von mir verlangt. Mit Recht oder Unrecht hält man mich für einen mächtigen Mann . . . Und auch für einen reichen, darf ich sagen. Denn sehen Sie den Palazzo? Das Eckhaus mit den beiden Säulen: es ist das größte und schönste; und da meine Schwester, die Witwe Pastecaldi, bei ihrer Heirat abgefunden wurde, gehört es meinem Bruder Galileo und mir, jedem zur Hälfte. Ich habe darin eine Wohnung von vier schönen Zimmern —“
Der Advokat blieb stehen und schmatzte.
„— und eine Sammlung von gewissen Bildern: ah! gewissen Bildern . . . Man zeigt so etwas den Leuten nicht; Ihnen aber, Fräulein: wenn Sie mich besuchen wollen, — o! keine Furcht, Sie betreten das Haus eines Ehrenmannes;“ — und er stellte die Hand steil zwischen sie und sich. Italia lachte, aber voll Achtung. Einem Manne von solcher Ritterlichkeit begegnete man selten; und einem, der sogleich seine ganzen Verhältnisse darlegte, wie bei einem ernsthaften Antrag!
„Nach der Probe will ich Sie besuchen“, sagte sie, „und mir Ihre schönen Bilder ansehen . . . Auch Ihre schönen Zimmer“, setzte sie hinzu und zögerte, ob sie ihm noch weiter entgegenkommen sollte. Statt dessen machte sie sich einen bescheiden lockenden Senkblick. Er lächelte galant und führte seine welke Hand ans Herz.
„O! Fräulein Italia, wir könnten uns verstehen.“
Sie versuchte ein paar Stufen höher zu gelangen, aber er hielt immer wieder an.
„Ich war stets ein Verehrer der Schönheit; und bei Ihrem Anblick —“
„Da ist er! Und die Eier?“ rief es aus dem Hause herab; und eine große Frau mit einem rot verschnürten Sammetmieder und kurzen Hemdärmeln stand im Fenster und drohte mit dem Finger.
„Ah! der Advokat, so ist er. Seine Familie würde er Hungers sterben lassen: er aber, immer mit den Frauen.“
„Meine Liebe,“ sagte der Advokat hinauf, „es gibt gewisse Dinge, die du nicht beurteilen kannst.“
„Immer derselbe, der Advokat!“ — und die Schwester breitete verzweifelt die Arme aus; aber ihr Kindergesicht, in das zwei graue Strähnen fielen, lächelte bewundernd.
„Welch schöner junger Mann, nicht wahr, Fräulein? Ah! geh, Taugenichts, unterhalte dich! Laß deine Familie ohne die Eier!“
„Ich habe sie mitgebracht, im Café kannst du sie abholen. Aber merke dir, meine Liebe, daß ich jetzt nicht immer Zeit haben werde für deine Angelegenheiten, da ich mit Wichtigerem sehr beschäftigt bin.“
„Man sieht es“, rief die Witwe Pastecaldi noch, indes sie sich zurückzog. Der Advokat bemerkte:
„Man muß Geduld haben. So ist das Leben in einer kleinen Stadt.“
Er hatte schon wieder die Hand auf der Brust, und Italia, die gekichert hatte, bekam sogleich ihre fromme Miene zurück.
„Bei Ihrem Anblick“, fuhr er fort, „fühle ich deutlicher als je, daß große Dinge in mir schlummern. Vielleicht war auch ich zum Künstler bestimmt? Ah! haben Sie je über das Schicksal nachgedacht?“
Aber sie zeigte bestürzt auf die Gestalt, die hinter dem Palazzo Belotti ganz allein auf dem breiten Treppenabsatz stand. Es war ein kleiner Uralter in abgetragener Herrenkleidung. Mit seinen trockenen Falten, seinen Greisenaugen schien er über eine Menge hinzulächeln, die nicht da war, bewegte dabei die Lippen, schlug mit dem Fuß aus und schwenkte, die Linke am Herzen, im Bogen seinen randlosen Hut.
„Es ist nichts“, erklärte der Advokat. „Es ist der Brabrà: so nennen sie ihn nach dem Geräusch, das er verursacht, wenn er sprechen will. Ein armer Alter, etwas verrückt, aber wenig interessant. Sehen Sie mich an! Ein Mann von meinen Gaben! Ich hätte wohl Grund, dem Schicksal —. Aber nein: da ich Ihnen begegnet bin!“
Er bot ihr für die letzten, sehr steilen Stufen den Arm.
„Da haben wir auf dem Plateau den Palast ihrer Exzellenz der Frau Fürstin Cipolla; ich bin in der Lage, ihn Ihnen zu zeigen wie mein eigenes Haus; — und dort rechts das Nonnenkloster mit der Kirche. Ein Langobardenkönig namens — Dingsda hat es gegründet, für seine Tochter, die einen Liebhaber hatte.“
„So streng war er!“ — und Italia sah ehrfürchtig an der wilden schwarzen Mauer hinauf.
„Nachdem wir gesiegt hatten, hat der Staat alles versteigert, aber die Nonnen haben es zurückgekauft. Man wird sie nicht los, die heiligen Unterröcke . . . Versäumen Sie nicht, einen Blick auf die Landschaft zu werfen! Sie sehen von hier zweiunddreißig Ortschaften. Welch wollüstiges Blau: würde man nicht glauben, es sei das Meer, dem die Venus entsteigt? Wer die Einkünfte besäße aus allem, was Sie hier mit zwei Augen fassen, der hätte jährlich nicht weniger als drei Millionen zu verzehren.“
„Himmel! Es wäre Sünde, soviel auszugeben!“
„Für eine Frau würde ich es ausgeben!“ rief der Advokat, in Feuer, und kroch ihr voran durch einen halb eingestürzten Bogen neben dem fürstlichen Palast. „Meine Schwester hat vielleicht recht? Vielleicht wäre ich für eine Frau zu allem fähig.“
Er richtete sich auf und streifte die Sohlen an den Stufen ab.
„Man hätte den Zugang zum Theater reinigen sollen. Gerade diesen Ort haben sich die Leute aus den nächsten Gassen seit langen Jahren ausersehen. Sie besitzen nämlich noch keinerlei Bequemlichkeit im Hause . . .“
Da sprühten Kalk und Kies die Treppe herab und oben stampfte und winkte der Kapellmeister.
„Wo bleiben Sie, Molesin? Geht das so weiter, werden wir die ‚Arme Tonietta‘ niemals herausbringen! Ein Jahr meines Lebens kostet ihr mich!“
„Sie haben recht, Dorlenghi“, sagte der Advokat und beschwichtigte mit der Hand. „Wir kommen, gleich sind wir da.“
„Ich sagte Ihnen schon, daß ich Sie nicht brauchen kann. Aber die Primadonna, nach der ich geschickt habe? Und der Gennari? Er sprach von zehn Minuten, und das ist eine halbe Stunde her!“
Der Kapellmeister überrannte den Advokaten, der sich auf den Schutt setzen mußte, und erwischte hinter dem Torbogen einen Buben.
„Lauf zum Gevatter Achille! Ein Herr sitzt dort. Wenn er nicht sogleich komme, koste es Strafe. Und lauf zum Schneider Chiaralunzi! Er soll mir seine Mieterin schicken. Bist du in zwei Minuten drunten, wirst du sehen, was ich dir schenke.“
Der Junge rannte schon. Oberhalb des Hauses Belotti stieß er mit dem alten Brabrà zusammen, schlug hin und lief zerschunden weiter. Beim Gevatter Achille saß der Herr, aber er schüttelte nur die Schultern und schickte ihn fort. Sogar den Gevatter Achille, der mit ihm sprechen wollte, schickte er fort . . .
Als es halb eins schlug, schrak Nello Gennari auf, reckte sich, tat ein paar widerwillige Schritte nach der Treppengasse und bog wieder ab. Diese Wege, die nicht zu ihr führten, diese Menschen, die sie nicht kannten oder noch bei ihrem Namen gemeine Gedanken hatten: sie beleidigten Nello. Alles, was nicht Alba war, beleidigte ihn. Voll Verachtung blinzelte er über den leeren Platz hin, mit seiner gewöhnlichen Sonne und seinen alltäglichen Schatten. Jetzt hatten sie alle Fensterläden geschlossen. Am Abend öffneten sie sie wieder. Was das für ein Leben war! Und in ein solches war Nello gebannt! Das edlere, nach dem ihn verlangte, ließ ihn nicht ein. Würde Alba je von ihm erfahren? Sie war erschreckend hoch und fern. Die Nacht unter ihren Fenstern lag schon weit dahinten, und kaum konnte man sich denken, daß sie wiederkehre . . . Aber oben im Rathaus hatte etwas sich geregt. Eine Jalousietür im zweiten Stock hatte einen Spalt bekommen, darin betrachteten ihn ein paar Augen, und das weiße Gesicht — hatte es nicht genickt? Er trat hinan: es senkte sich langsam.
Ein Zeichen! Frau Camuzzi, die keuscheste von allen, gab ihm ein Zeichen! Nello verschränkte die Arme. Da hatte er, was ihm gehört: Vergnügen machen und lügen! Warum nicht? War es nicht eine Rache an Albas zu fremder Reinheit, wenn er sich beschmutzte? Und huldigte er nicht ihr, da er die betrügerische Scham und den falschen Stolz der anderen Frauen zu Boden warf, daß nur die eine aufrecht blieb? Das Gesicht droben neigte sich nochmals und verschwand. Nello betrat die Arkaden, er setzte den Fuß auf die Stufe. Ein Geräusch — er wandte sich hastig; und Flora Garlinda sah ihn an. Sie kam aus der Gasse beim Café und überquerte den Platz mit ihrem Eilschritt. Ohne ihn zu verzögern, hatte sie das Haus, den Spalt in der Balkontür und den jungen Mann auf der Treppe gemustert, hatte verächtlich gelächelt und war fort. Nello Gennari errötete tief. Dann warf er zornig die Schulter zurück und ging hinein. Die Absätze der Primadonna klappten schon in der Treppengasse.
So rasch, daß der Junge, der sie führen sollte, zurückblieb, lief sie in ihrem langen, entfärbten Regenmantel, der schlenkerte, weil sie aus Sparsamkeit nur den Unterrock darunter anhatte, und in ihrem schmutzigweißen Filzhut, den sie um des Haares willen trug: lief hinauf und davon, um die Ecken, über die engen Plätze zwischen zwei Stiegen, — und sooft durch eine Lücke der Häuser ihr Blick in Gärten hinabfiel, wo Kinder spielten und eine Familie unter der Laube beim Essen saß, richtete sie den Kopf noch höher. Droben sah sie nicht links noch rechts: unter dem Bogen beim Schloß war ein kleiner Volksauflauf, und irgendwo aus einer unentdeckbaren Öffnung kam die Kreischstimme der Italia Molesin. „Laßt mich durch!“ — und auch über den Kot unter dem Bogen sah sie hin.
Sie riß eine Tür auf; dahinter fand sie, vom Mittagslicht noch blind, alles schwarz. An einer Wand entlang geriet ihre Hand auf etwas Menschliches.
„Entschuldigen Sie!“ sagte jemand.
„Öffnen Sie mir doch die Tür zur Bühne! Ich sehe nichts. Wer sind Sie?“
„Ich bin der Advokat Belotti. Als Vorsitzender unseres Komitees wohne ich der Probe bei.“
„Hier im Dunkeln? Kommen Sie doch fort! Kennen Sie den Weg nicht?“
„Ob ich den Weg kenne! Ich bin ja zu Hause im Palast!“
Da fiel er hin.
„Ja, hier waren Stufen. Ich wußte es, nur dachte ich nicht daran.“
Es ward immer finsterer, und Klavier und Gesang hörten sich weiter entfernt an.
„Wir sind falsch gegangen“, entschied Flora Garlinda. „Wir wollen umkehren, und ich will führen. Da es ein Theater ist, werde ich schon hinfinden . . . Diesen Korridor hatten wir versäumt . . . Und warum sind Sie nicht mit drinnen?“
„Konnte ich denn? Ließ man mich denn?“ — und der Stimme des Advokaten hörte man an, daß er im Dunkeln die Arme schwenkte. „Dorlenghi ist verrückt geworden; er behauptet, daß Fremde nichts dabei zu tun haben. Ich ein Fremder! Der Vorsitzende des Komitees ein Fremder! Er vergißt, daß er selbst hier fremd ist und daß wir ihn fortschicken können.“
„Das ist unnötig. Woher wollen Sie so rasch einen andern nehmen? Aber ich werde Ihnen helfen.“
„Ah! Sie werden —. Fräulein Flora Garlinda, ich habe sofort erkannt, daß Sie eine große Künstlerin sein müssen. Ich sagte noch zu Polli, dem Tabakhändler —“
„Nur gut, Advokat, daß Sie nicht fortgegangen sind.“
„Ich wagte es nicht. Draußen, nicht wahr, steht das Volk. Vielleicht würde es erraten haben, daß ich nicht —, daß dieser Maestro mich —“
„Wir sind da“, sagte Flora Garlinda.
Die Bühne lag vor ihnen. Im Halbdunkel schien sie endlos; der Schein der Blechlampe auf dem Klavier verlor sich, die vier menschlichen Schattenrisse sahen weithin verstreut aus. Der Kapellmeister stand in der Mitte des Lichtkreises und stieß die Faust in die Luft.
„Ich kann keinen Widerstand dulden, auch von Ihnen nicht, Cavaliere. Sie sind, der Sie sind. Aber ich bin hier der Maestro.“
„Das ist immerhin etwas“, bemerkte der Bariton Gaddi, rittlings auf einem Stuhl. Italia Molesin kam zur Tür.
„Was für ein schlecht erzogener Mann!“ sagte sie. „Mich hat er bereits Idiotin genannt.“
Flora Garlinda trat ins Helle. Ihre Augen funkelten, ihr höhnischer Triumph kniff ihr die Winkel der schmalen Lippen.
„Maestro,“ — ganz sanft — „ich bitte Sie für meinen Freund, den Advokaten Belotti. Er möchte uns zuhören.“
Der Kapellmeister fuhr auf.
„Noch immer er? Wenn ich ihn doch hinausgeworfen habe!“
„Man wirft einen Mann wie mich nicht hinaus,“ — und der Advokat trat mit Würde vor.
„Also nochmals,“ schrie der junge Musiker zitternd, „der Herr bin hier ich. Wer nicht gehorchen will —“
„Nun?“ — und Flora Garlinda sah ihm grausam lächelnd in die Augen.
„Kann gehen“, ergänzte er viel leiser. Sie nickte.
„Sie haben zweifellos eine andere Primadonna.“
„Erst gestern“, stieß er hervor, „hat mir die Fusinati geschrieben.“
„Weil sie nämlich in anderen Umständen ist. Da kommt man schwer unter. Sie aber, Maestro, der Sie kein Kind erwarten, Sie fänden natürlich sofort ein andres Engagement, wenn die Herren vom Komitee sich entschließen würden —“
„O bitte, Fräulein Garlinda, davon ist nicht die Rede,“ — und der Advokat trat von einem Fuß auf den andern. „Sind wir nicht alle Freunde?“
„Das kommt darauf an. Ich bin die Primadonna, mir muß es erlaubt sein, zu singen, vor wem ich will.“
„Es liegt mir fern —. Wir haben uns mißverstanden —.“
Ihr grausames Lächeln war noch immer da: er schwieg, eingezogen und auf Schreckliches gefaßt.
„Überdies“, begann sie wieder, „bin ich gewohnt, nur mit dem Regisseur zu verhandeln.“
„Sehr richtig“, sagte der Cavaliere Giordano und schleuderte ein Heft auf das Klavier. „Von wem lasse ich mir hier sagen, daß meine Stimme nicht genüge? Dieser junge Mann hat an meinem Geronimo auszusetzen, und dabei singe ich ihn aus Gefälligkeit, denn jedermann in Italien und draußen weiß, daß meine Partie der Piero wäre!“
„Kurz: was will man von mir?“
Der Kapellmeister breitete die Arme aus und hatte rote Lider.
„Man will einen Regisseur, beim Bacchus“, sagte der Bariton.
„Der bin ich! Der bin ich!“
„Meine Herren,“ stammelte der Advokat und beschwor sie mit den Händen, „ich möchte um nichts in der Welt, daß meinetwegen —“
„Maestro!“
Flora Garlinda legte den Kopf auf die Schulter.
„Sie waren noch bei keiner Bühne. O! Sie haben nicht nötig, es zu gestehen: diese ganze Szene beweist es. Tun Sie uns und sich einen Dienst und bescheiden sich! Wir machen unsern Gaddi zum Regisseur. Ohnedies ist er es, der die Ausstattung beschafft hat.“
Italia Molesin und der Cavaliere Giordano beglückwünschten schon den Bariton.
„Und ich,“ klagte der Kapellmeister, „ich habe den Chor zusammengebracht und Sie selbst. Ich habe den Gedanken der Aufführung gehabt und die Bürger für ihn gewonnen, habe alles möglich gemacht, alles ins Werk gesetzt. Das ist nichts, das ist augenscheinlich nichts.“
Er ging, eine Hand vor der Stirn, wankend um das Klavier herum.
„Wer sagt das?“ — und Flora Garlinda folgte ihm. „Aber weil Sie ein Mann von Verdienst sind, sollten Sie das Nebensächliche fahren lassen.“
„Aber ich verlange fünfzig Lire Zuschuß“, hörte man den Bariton sagen.
„Er verlangt fünfzig Lire“, wiederholte Flora Garlinda mit gesenkten Mundwinkeln. Und in einem plötzlichen Blick des Einverständnisses:
„Wer kommt denn hier in Betracht, Maestro? . . . Sie haben eine Oper geschrieben, nicht? Wenn ich Ihre Heldin sänge?“
Da er den Atem einzog und anhielt:
„Mit mir oder ohne mich: vielleicht sieht schon das nächste Jahr Sie in Mailand. Wir —“
Sie knixte tief.
„— sind für Sie nur Staffeln.“
„O!“ machte er, aufgeblüht und gütig. „Sie nicht, Flora Garlinda: Sie nicht. Sie werden größer werden als ich.“
„Glauben Sie?“ fragte sie mit herabgelassenen Lidern und zog sich zurück.
„Aber solange ich Dirigent bin,“ rief er den anderen zu, „darf ich vielleicht verlangen, daß wir wiederholen, bis ich mich für befriedigt erkläre?“
Man beeilte sich, es ihm zuzugeben. Der Advokat verwahrte sich.
„Nie, Maestro, habe ich an Ihrem großen Talent gezweifelt.“
„Dann also, Cavaliere,“ rief der Kapellmeister, „noch einmal von vorn, bitte: ‚Seid fruchtbar, meine Kinder . . .‘“
Der alte Tenor stellte sich wütend auf und begann, hohle, zitternde Töne von sich zu geben.
„Seid fruchtbar, meine Kinder! Das Feld, das meine Väter bebaut haben, auch meine Enkel sollen es bebauen.“
„Hören Sie ihn etwa?“ — und der Kapellmeister warf sich, die Stirn trocknend, auf seinem Sitz umher. „Und dies ist nur ein Klavier! Was wird das Orchester von seiner Stimme übriglassen?“
Das Gesicht des Alten war von Entrüstung so sehr verzerrt, als sollte es weinen. Sein Kiefer arbeitete an Worten, die nicht kamen.
„Ich habe doch alles verstanden“, versicherte Italia Molesin mitleidig und sah Flora Garlinda an, die schwieg und beobachtete. Der Bariton stellte fest:
„Ich als Regisseur finde den Cavaliere ganz auf seiner alten Höhe.“
„Wie sollte nicht ein so berühmter Künstler —“ sagte der Advokat mit Nachdruck. Der Kapellmeister hielt sich plötzlich mit beiden Händen den Kopf.
„Wenn man den Advokaten nicht zum Schweigen bringt, stehe ich für nichts! Ich stehe für nichts!“
Der Advokat wich zurück. Der Kapellmeister legte die Hände wieder auf die Tasten.
„Fräulein Flora Garlinda!“
„Hier bin ich.“
„Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus . . . Aber der Piero! O Gott! ich dachte nicht mehr an diesen Menschen, der nicht kommt. Begreift man eine solche Gewissenlosigkeit?“
„Nun ja“, meinte Gaddi. „Nello wird jedem einen Vermouth zahlen müssen, und das wird ihm zu denken geben.“
„Einen Vermouth!“ — und der Kapellmeister stieß die Luft aus.
„Aber wir können ihn doch zwingen! Wir werden die Gendarmerie hinschicken! Wo ist er? Weiß niemand, wo er steckt? Fräulein Flora Garlinda, Sie, die Sie zuletzt gekommen sind!“
„Was habe mit diesen Dingen ich zu schaffen?“ — und sie wandte sich ab.
„Steckt er bei einer Frau?“ raunte Gaddi. Sie regte sich nicht. Der Kapellmeister präludierte wütend und überschrie seinen Lärm.
„Lassen wir uns nicht aufhalten! Fräulein Flora Garlinda!“
Sie fiel ein:
„Sieh, Geliebter, unser umblühtes Haus heißt uns blühen . . .“
Nach ihren ersten Noten wurden die Hände des Kapellmeisters behutsam und weich, und er neigte das Ohr. Seine Miene versuchte, streng zu bleiben, aber ein kindliches Entzücken drang aus ihr hervor. Und plötzlich überzog Schmerz sie. Die Sängerin hatte abgebrochen.
„Es ist unnütz“, sagte sie. „Ich höre mich nicht, wenn mir der Partner fehlt.“
„Ich gebe seine Partie mit an. Dieser Elende! Ich singe sie mit! Alles, was Sie wollen!“
„O lassen Sie, Maestro! Ich muß spielen können. Wenn ich ihn nicht neben mir fühle, ist es unnütz. Zu Hause nehme ich mir den Buben meines Wirtes. Geben Sie mir den Advokaten!“
„Herr Advokat!“ — und der Kapellmeister streckte die Hand hin. „Wir bitten Sie. Ich hoffe, daß Sie mir nichts nachtragen?“
„Aber wie denn, Maestro!“
Der Advokat schüttelte die Hand. Dann stellte Gaddi ihn zurecht, legte seinen Arm unter den ausgestreckten der Primadonna, seine Fingerspitzen auf ihre Schulter, und richtete ihm den Kopf.
„Der alte Geronimo hierher! Italia geht umher mit dem Fächer. Advokat, Sie starren in das Abendrot!“
Der Advokat riß die Augen auf. Er konnte nicht zur Ruhe kommen und scharrte mit den Füßen.
„Sind wir soweit?“ fragte der Kapellmeister scharf; — und er nickte der Sängerin zu . . . Wie die Melodie von ihr auf das Klavier überging und sie schwieg, glaubte der Advokat seine Partnerin unterhalten zu sollen.
„Ah! da ist nun endlich diese berühmte Arie, und ich bin der erste hier, der sie zu hören bekommt. Jahrelang hatten wir sie nur auf Pollis Phonographen.“
„Schweigen Sie!“ schrie der Kapellmeister, weiß im Gesicht.
„Aber er ist kaput“, sagte der Advokat noch und erschrak dabei.
Flora Garlinda sang schon wieder. Sie hatte jetzt die gefalteten Hände unter dem Kinn und das Gesicht nach oben gelegt.
„Verzeih mir, o Himmel, so viel Glück!“
„Knien Sie!“ befahl der Regisseur mit lauter Flüsterstimme dem Advokaten, aber der Advokat war nur darauf bedacht, mit den Fingerspitzen nicht die Schulter der Primadonna zu verlieren und den Sonnenuntergang im Auge zu behalten.
„Knien Sie doch hin!“ — und Gaddi drückte ihn zu Boden, daß es krachte.
„Au, au!“ machte der Advokat. Die Sängerin beendete gerade ihren himmlischen Schlußschrei und sank mit der Stirn auf seine.
„Und würde sterben für dich!“
„Sie sind zu gütig“, murmelte der Advokat, aus aller Fassung. Gaddi wandte sich um und drückte die Hände in die Seiten. Der Cavaliere Giordano ließ sich auf einen Stuhl fallen. Hinter Italias Fächer rang sich ein Kreischen los. Der Kapellmeister stand da, mit hängenden Armen, und was er endlich hervorbrachte, war ein Stöhnen. Als er nun stammeln konnte:
„Was ist denn das? Sind wir Buffonen? Ich finde die Worte nicht. Und das in diesem Augenblick, in diesem!“
Er kam hervor und verbeugte sich vor der Primadonna.
„Fräulein Flora Garlinda, ich bitte Sie um Verzeihung für diese Herren.“
„Warum denn“, sagte sie sehr kalt. Er errötete; er griff sich an die Stirn.
„Was ich sagen wollte: wir sind fertig für heute. Nachmittags habe ich den Chor und am Abend das Orchester. Auf morgen!“
Und er war fort. Man sah sich an.
„Nun also, gehen wir essen!“ meinte der Bariton. „Wollen Sie nicht aufstehen, Advokat?“
Als Gaddi und der Cavaliere Giordano drunten auf dem Platz sich von Flora Garlinda verabschiedeten, bemerkten sie, daß Italia und der Advokat verschwunden waren.
„Schon“, sagte der Bariton; und der alte Tenor:
„Italia hat recht. Das bringt der Beruf mit sich. In unserem Beruf ist es empfehlenswert, jung zu sein.“
„Spricht nicht aus Ihnen, Cavaliere, der leere Magen?“ fragte Flora Garlinda.
Die beiden Männer riefen einander noch nach:
„Um fünf im Café!“
Und um fünf saßen sie dort: noch allein auf dem Platz. Der schöne Alfò bediente sie, mit seinem von sich entzückten Lächeln. Drinnen ließ der Gevatter Achille die Arme über das Büfett hängen und schnarchte. Lange Zeit taten sie nichts, als hoffnungsvoll zusehen, wie der Schatten ihres Zeltdaches sich langsam vergrößerte. Der Gasse der Hühnerlucia entströmte eine übelriechende Frische. Der Cavaliere Giordano zog aus dem Handgelenk einen kleinen Papierfächer.
In der Rathausgasse ward Nello Gennari sichtbar; er ging gesenkten Kopfes, Schritt für Schritt, hatte nach seiner Gewohnheit die Schultern ein wenig in die Höhe gezogen und hielt die Arme steif.
„Du siehst aus wie ein trübsinniger Pierrot“, rief Gaddi ihm entgegen. Der junge Mensch hob langsam einen wehrlos klagenden Blick. Der andere stand rasch auf, faßte seinen Arm, zog ihn um die Hausecke.
„Nello, sage mir, was dir seit gestern geschehen ist!“
Und er drückte sich den Arm des Jungen an die Brust.
„Nichts“, brachte Nello hervor.
„Aber du hast eine Miene, als hättest du deine Mutter verloren, und gereizt bist du den ganzen Tag, wie ein unglücklicher Spieler. Warum hast du die Probe versäumt?“
Nello begann plötzlich die Schultern zu heben und zu senken, sein Blick verlor den Halt, und er atmete ungeregelt. Mit einem Griff nach der Hand des andern:
„Virginio, du bist mein Freund: frage mich nicht!“
Er preßte, fiebrig bittend, die Hand.
„Ich bin ein verlorener Mensch! Du weißt nicht: mich ekelts, wenn ich an deiner Hand die Wärme meiner eigenen fühle.“
„Du bist krank.“
„Nein, ich bin gesund: das ist schlimmer für einen, wie ich bin. Ich habe die Glückseligkeit verscherzt; nun heißt es weiterleben.“
Er beugte sich über sich selbst, und der andre sah von seinem Gesicht die Tropfen fallen. Er streichelte ihm das Haar.
Sie richteten sich auf und taten gleichmütig, denn ein Schritt ward laut: der Kaufmann Mancafede kam über den Platz und sah sie. Nun galt es, sich hervorzuwagen und in sein schmunzelndes Gesicht zu sehen. Er wußte schon alles! Seine schreckliche Tochter wußte schon alles! Jetzt machte es die Runde in der Stadt, drang vors Tor und nach Villascura. Nello gab die Hand, halb gewendet, als sollte sie ihm abgehauen werden, und mit einem Blick von unten, der nicht standhielt. Aber der Kaufmann dienerte eifrig, als beteuerte er seine Harmlosigkeit. Er habe heute sein Lager revidiert, sagte er, und seine Tochter habe Tomaten eingekocht; man wisse gar nicht mehr, was vorgehe. Und Nello senkte die Stirn, errötet, weil er begnadigt war.