Читать книгу Die kleine Stadt - Heinrich Mann - Страница 6
ОглавлениеDer alte Giordano verging sich in Handküssen nach allen Seiten.
„Man behält keine Zeit zu sprechen“, sagte er. „Es sind zu viele.“
„Warum bleiben an jenen Häusern die Fensterläden geschlossen?“ fragte er zwischendurch. Da man ihn ansah, gestand der Apotheker:
„Das hier ist meins. Aber auch die Frau des Perückenmachers Nonoggi handelt, wie Sie sehen, Cavaliere, indem sie ihre Läden schließt, im Sinne des Don Taddeo, der die Kunst verbieten möchte. O! nicht meine Frau allein: eine ganze Partei hält zu ihm. Sie werden sehen.“
„Wir nehmen den Kampf auf!“ verhieß der Advokat. „Den Schlüssel wird er herausgeben: und sollte ich für die Stadt Prozesse führen, die mich mein Leben lang auf den Beinen halten, er wird den Schlüssel herausgeben. Ich selbst, der Advokat Belotti, werde eure sämtlichen Choristinnen in den Turm führen, werde ihnen den Eimer zeigen, und nicht einmal der heilige Agapitus selbst soll mich hindern!“
„Sprechen Sie darüber mit Ihrem Bruder!“ riet Camuzzi. „Er hat einen gesunden Kopf, und dort kommt er; es ist zehn Uhr.“
Der Pächter ritt auf seinem trippelnden Eselchen zwischen zwei großen Körben die Rathausgasse herauf. Beim Rathaus nahm er zuerst den blauen Klemmer, dann den glockenförmigen Strohhut ab und schwenkte beide. Vor dem Café stieg er ab.
„Guten Tag, die Gesellschaft“, sagte er.
„Der Advokat behauptet . . .“ begann Camuzzi.
„Ich behaupte nichts“, sagte der Advokat rasch.
Der Pächter betrachtete ihn mitleidig.
„Ah! der Advokat. Was will er schon wieder. Pappappapp . . .“
Er ahmte in einer gehässigen Tonart die Sprechweise seines bedeutenden Bruders nach. Der Advokat lehnte sich vornehm zurück.
„Das sind Dinge, die ein Mann wie du nicht beurteilen kann.“
„Nun gut, man schweigt“, erwiderte Galileo. „Aber wer sind denn die da?“ — und er rückte den Finger von einem der drei Fremden auf den andern. Bei der Vorstellung scharrte er umständlich mit den Füßen, stöhnte zwischen den Komplimenten und erleichterte sich, als er wieder auf dem Stuhl saß, durch gewaltiges Ausspeien. Er hielt die kurzen fetten Schenkel weit auseinander und ließ die kleinen goldbraunen Fäuste dazwischen herabhängen. Unter seinen weißen Brauen blinzelte er alle verächtlich prüfend an, verzog stumm den Mund zu dem, was sie sagten, und verlangte schließlich, herauspolternd, als sei seine Geduld erschöpft, sein Nachbar solle, da er schon ein Künstler sei, Zauberkünste zum besten geben oder einen Witz. Der alte Tenor stand auf und verwahrte sich. Er sei seit fünfzig Jahren Künstler, aber eine solche Zumutung —. Sein ganzes Gesicht, jede Runzel darin, zitterte, als sollte er in Tränen ausbrechen, und er hatte beim Bewegen seiner faltigen Hände den Brillanten sichtlich ganz vergessen.
„Was will denn der?“ fragte Galileo. „Was für ein Dummkopf! Pappappapp!“
Er machte dieselbe alberne Stimme, mit der er den Advokaten nachgeahmt hatte. Der Cavaliere Giordano traf Anstalten, sich zu entfernen. Der Advokat wendete ihn, mit zärtlichem Respekt, immer wieder zurück.
„Tun Sie uns das nicht an, Cavaliere! In keiner Stadt ist Ihr Ruhm größer als in unserer. Mißverstehen Sie meinen Bruder nicht, auch er verehrt Sie. Galileo, unsere Schwester hat nach dir gefragt, eine Ziege ist krank.“
„Warum hast dus nicht gleich gesagt? Aber die Advokaten verstehen nichts.“
Er wischte sich den Mund mit der Hand, nahm das Eselchen, das mit der Schnauze an seinem Nacken stand, und führte es in die Treppengasse. Der Advokat fuhr mit Beschwörungen fort.
„Cavaliere, ein Mann wie Sie ist über solche Miseren erhaben. Ein Bauer hat Sie nicht mit der schuldigen Achtung behandelt: was weiter? Denn mein Bruder ist nur ein Bauer. Um sieben legt er sich schlafen, um ein Uhr nachts reitet er aufs Feld, und um zehn, wenn die Hitze beginnt, kehrt er heim. In der Zwischenzeit spielt er Mora mit seinesgleichen. Unter dem Papst ging er zur Messe, jetzt freilich nicht mehr. Sein Geist ist trotzdem wenig kultiviert, und er läßt sich den Ausfall der Ernte von der Hühnerlucia, einer verrückten Alten, vorhersagen. Aber —“
Er ließ den Sänger los.
„— schweigen wir von diesen Kleinigkeiten. Der Augenblick, Cavaliere, ist ernst. Ihr Herren, ich sehe auf dem Corso den Priester erscheinen.“
Er setzte sich, schwach, wie es schien, vor Erregung. Auch der alte Giordano nahm seinen Stuhl wieder ein. Das Erlittene überwältigte ihn nachträglich auf einmal ganz. Er sank zusammen und murmelte:
„Seit fünfzig Jahren Künstler . . .“
„Er hat bei sich die Baronin Torroni“, sagte Polli.
„Zu seiner Bedeckung“, setzte der Apotheker hinzu.
„Was tut das,“ — und der Advokat sprang auf. „Ich werde der Baronin einfach erklären, daß ich mit diesem Priester —“ „Er verabschiedet sich, sie betritt ihr Haus.“
Der alte Tenor fuhr jäh auf:
„Ich, den seine Exzellenz Cavour zum Ritter der Krone von Italien gemacht hat!“
Sie hörten ihn nicht. Der Advokat stand sprungbereit. Wie er ihn erblickte, verließ der Priester, zusammenzuckend, seine Linie. Der Advokat schoß los und schnitt ihm den Weg ab.
„Gefangen“, bemerkte der Apotheker.
„Und ich habe ein Haus in Florenz!“
Dabei setzte der Cavaliere Giordano wütend sein Glas hin. „Was kümmern mich alle diese Armseligkeiten? Mein Haus ist voll der Erinnerungen an eine ruhmreiche Laufbahn, der Geschenke von Fürsten und Damen . . .“
„Don Taddeo, Ihr Diener“, hörte man den Advokaten sagen. Er hob den Hut und schlug sogar mit dem Fuß aus. Der Priester grüßte ebenso höflich und sah ihn aus seinen roten Augen brennend an.
„Ein Wort, Don Taddeo, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist! Ein unliebsamer Irrtum Ihrerseits . . .“
„Es ist kein Irrtum, mein Herr . . .“ und es war zu merken, daß der Priester kaum sprechen konnte. „Der Schlüssel: denn von ihm wollen Sie gewiß reden . . .“
„Freilich. Um Sie im Vertrauen auf Ihre Loyalität —“
„Zweifellos. Aber es handelt sich einfach darum, mein Herr, daß der Schlüssel von Rost zerfressen und kaum noch brauchbar war. Ich habe ihn dem Schlosser Fantapiè gegeben und einen neuen bei ihm bestellt.“
„Ah!“
Der Advokat brachte einen Laut hervor, der nicht heiser klang. Wie leicht mußte es ihm sein! Polli, Acquistapace und der Leutnant wiederholten: „Ah!“ — und auch der Bariton Gaddi machte: „Ah!“ Nello Gennari achtete nur auf den Cavaliere Giordano. Der berühmte Sänger war nach seinem verpufften Ausbruch ganz in sich zusammengefallen und sah alt aus: endlich unverhohlen alt, mit herabhängendem Kiefer, Augen, die greisenhaft stierten, und hilflosen Händen. Sein junger Gefährte dachte, und senkte finstere Blicke in die arme Gestalt:
„Ja, was tut er hier? Ein reicher, geehrter alter Mann — und läßt sich herbei, in einem schmutzigen Nest die Rüpel lustig zu machen! Aber er hat keine Stimme mehr; in den großen Städten wollen sie ihn nicht mehr; und da man, scheint es, in unserem Leben das Händeklatschen nie entbehren lernt, müssen es nun die Fäuste der Bauern besorgen, — wie man vielleicht die Mägde noch blenden kann, wenn einen die Herrinnen nicht mehr ansehen . . . So geht es zu bei uns. Wir treiben es weiter, wie auch ich es so lange trieb: immer kindisch weiter, armselig berauscht, ohne Anker, ohne den Mut, zu landen; — und eines Tages vor dem Café einer Landstadt, wo einem die Flöhe über die Füße springen, bemerkt man, wie weit man kam . . . Ich aber: o! niemals wird es mit mir dorthin kommen. Ich bin jung, und mein ganzes Leben soll Alba gehören. Ich werde sie von meiner Anbetung überzeugen, werde etwas tun, eine Handlung ein Wagnis, das sie mir gewinnt . . . Gefunden: aus dem Kloster; ich befreie sie aus dem Kloster! Wie sollte sie mich nicht lieben! Wir fliehen. Dann werfen wir uns dem Großvater zu Füßen . . . Ich bin vielleicht töricht und romantisch? Aber nichts, wenn ich sie denn nie besitzen soll, nichts doch hindert mich, zu ihren Füßen zu leben: als Bauer, ihr unbekannt, unter den Mauern ihrer Zelle. Oder ob es hier ein Männerkloster gibt? An den Festtagen in der Kirche könnten wir uns sehen: in weißen Tüchern ihr schöner Kopf und ich unter der Kutte — könnten einander in die Augen sehen und singen . . .“
„Junger Mann, Sie träumen“, sagte jemand, und der Cavaliere Giordano, der sich erholt hatte, betrachtete Nello mit hoch überlegenem Lächeln.
Der Advokat und Don Taddeo waren jetzt dabei, sich voneinander zu verabschieden. Ein Halbkreis von Zuschauern folgte ihren Bewegungen.
„Ich kann also auf Ihr Wort rechnen“, — und der Advokat trat dienernd einen Schritt zurück.
„Aber wie denn. Zu Ihren Diensten“, erwiderte der Priester, vorgeneigt und mit der Kappe in der Hand.
„Es ist immer gut, sich zu verständigen“, sagte der Advokat beim nächsten Schritt. Und Don Taddeo:
„Wir sollen niemand hassen.“
„So denke auch ich, Reverendo. Ihr Diener.“
Dabei schlug der Advokat ein letztes Mal aus.
Mit feuchter Stirn und Augen, die noch gar nichts sahen, kehrte er zurück. Unter den Zuschauern sagte der Barbier Bonometti:
„Er hat es ihm gegeben, der Advokat.“
Die Frau des Kirchendieners Pipistrelli stieß den Krückstock aufs Pflaster.
„Ihm hat es Don Taddeo gegeben, ihm!“
Die Jungen pfiffen auf den Fingern hinter dem Priester her. Als er sich umdrehte, spielten sie unschuldig am Boden.
„Dort drückt er sich, der Feigling“, sagte der Apotheker nicht sehr leise. „Auf den Schlosser redet er sich hinaus.“
„Wenn man sie anpacken will —“, sagte Polli. „Das kennt man.“
„Indessen, Advokat,“ sagte Camuzzi, „Sie waren höflich mit jenem Herrn, er kann sich nicht beklagen.“
„Höflich, ich? Ich habe ihm vollauf Bescheid gesagt. Freilich verhandelt man in gesitteter Form . . .“
„Du hättest ihn nicht Reverendo betiteln sollen,“ sagte der Tabakhändler, „wenn er dich nicht wenigstens Exzellenz nannte.“
„Aber was habt ihr? Er seinerseits hat meine Ironie sehr wohl gefühlt, dessen bin ich sicher. Er weiß zu dieser Stunde, daß ich ihn für einen Schurken halte. Meint ihr, er würde so vor mir gekrochen sein, hätte er kein böses Gewissen gehabt? Er hat Angst geschwitzt! Am liebsten wäre er, sobald er mich sah, davongelaufen!“
„Das ist wahr“, sagte der Bariton, und die andern gaben es zu.
„Der Sieg ist beim Advokaten“, stellte der Leutnant fest. Der Apotheker Acquistapace schlug auf den Tisch.
„Bravo Advokat! An dem Tage, wo er den Schlüssel herausgibt, zahle ich zwei Flaschen A —“
„Asti“, sagte er zu Ende und hatte schon ganz leise die Hand vom Tisch gezogen. Aus der Apotheke war, ihr schwarzes Tuch über Scheitel und Schultern, seine Frau getreten; ihr Blick ließ sich so schwer auf den alten Krieger nieder, daß er darunter kleiner ward; und sie ging auf Don Taddeo zu. Der Priester stand noch beim Brunnen mit der Frau des Perückenmachers Nonoggi, die klagend die Arme erhob. Und während Frau Acquistapace ihm beide Hände drückte, erschien auf dem Platz Frau Camuzzi. Drei Schritte vom Tisch der Herren kam sie vorüber, ohne die Lider zu heben, und gesellte sich zu den anderen.
„Ah, die Frauen“, seufzte der Advokat, schmerzlich getroffen durch die Mißbilligung der hübschen Frau Camuzzi. Ihr Mann sagte:
„Auch die Baronin Torroni wird sogleich zu der Partei des Priesters stoßen.“
Der Advokat und seine Freunde sahen sich mit niedergeschlagenen Mienen nach dem Palazzo Torroni um. Statt der Baronin zeigte sich dort hinten an der Ecke zum Gasthaus Italia Molesin, die Komödiantin.
„Wie sie um ihn her schnattern und Flügel schlagen, die Gänse!“ sagte der Tabakhändler Polli, voll Mut durch die Abwesenheit seiner Frau. „Warum sie ihm nicht die Fettflecken von der Soutane schlecken!“
Der Gemeindesekretär grub weiter in der Wunde.
„Sie müssen nicht glauben, Advokat, daß Sie mit Don Taddeo und den Seinen leicht fertig werden. Er weicht Ihnen aus: um so schlimmer. Er versteckt sich hinter dem Schlosser Fantapiè, der alle Arbeiten für die Kirche und das Kloster macht und den Schlüssel keinen Augenblick früher beendet haben wird, als es dem Priester recht ist . . .“
Ein Schwarm Schulkinder brach aus dem Corso hervor, wickelte Italia ein, schnellte über sie hinaus und lärmte so sehr, daß nichts mehr zu verstehen war. Die Tauben flüchteten vom Pflaster in die Luft, zu den Vorsprüngen am Dom. Einige kehrten zurück und ließen sich auf den Rand der Brunnenschale nieder. Italia kam näher; das Tuch war ihr von den Schultern geglitten, Hüften und Augen drehte sie hin und her und kaute dabei. Wie sie die Tauben sah, machte sie sich heran und hielt ihnen, zärtlich kreischend, die Handfläche mit Brot hin. Zugleich hob sie den Kopf nach Beifall. Statt dessen sagte Frau Acquistapace:
„Ist es erlaubt, Reverendo, daß eine verlorene Frau die Kirchentauben füttert?“
Indes Don Taddeo seufzte, fügte die Nonoggi hinzu:
„Ich werde meinen Besen holen. In der ersten Nacht, wenn man denkt! Und mit einem Edelmann!“
Frau Camuzzi hielt immerfort die Lider gesenkt. Unversehens drückte sie ihren Spitzenschal gegen den Hals und spie aus, — was ihr gut stand. An ihrem schwarzen Kleid vorbei sah man es silbern niederfallen. Italia richtete sich fragend auf. Vor dem Café sagte niemand ein Wort. Endlich versuchte der Advokat:
„Diese Damen scheinen etwas zu wissen. Sollte denn Nonoggi —“
Ohne ihn anzusehen, erwiderte der Apotheker:
„Auch ohne Nonoggi kommt schließlich alles heraus.“
„Das ist abscheulich“, rief der Advokat. „Ich wasche meine Hände in Unschuld, — obwohl ich, wie ich hinzusetzen muß, der erste gewesen bin, der die Sache erfahren hat.“
Aber da Jole Capitani, die Frau des Doktors, denn inzwischen war sie angelangt, sich mit ihrer trägen Stimme bei dem Priester erkundigte, ob man die Komödiantin nicht einsperren könnte, damit sie niemanden mehr verführe, empörte sich der Advokat.
„Die nun nicht! Ah! die nicht. Eine Frau, die so dick ist, sollte nicht von andern Böses reden!“
Italia war da, hatte Tränen in den Augen und fragte:
„Was haben diese Damen?“
Das Schweigen der andern machte den Advokaten noch betretener.
„Nichts“, brachte er hervor. „Wir sind in einer kleinen Stadt, was wollen Sie; man sieht hier nicht gern, daß eine Frau lange schläft.“
„Aber das Fräulein hat sich den Schlaf verdient“, meinte Polli bieder.
„Das glaube ich! Die Reise mit der Post, und in Sogliaco jeden Abend gespielt . . .“
„Und vielleicht auch die Liebe?“ schlug der Leutnant vor und rückte sich zurecht.
„Die Leidenschaft!“ rief der Advokat eifersüchtig. „Denn die Künstlerinnen lieben mit Leidenschaft, und das reibt sie auf. Ich kenne es.“
„Wie wahr!“ — und Italia dankte ihm, indem sie ihn mit den Augen kitzelte. Der Advokat schnaufte.
„Diese hier“, erklärte der Bariton Gaddi, „ist nicht leicht aufzureiben, sie ißt zu viele Makkaroni.“
„Man sollte sich über die Frauen niemals lustig machen“, erwiderte der alte Giordano süß. „Sie sind eine zu ernste Angelegenheit.“
„Danke, Cavaliere,“ — und sie kitzelte auch ihn. „Ich liebe den galanten Mann.“
„Man weiß, man weiß!“ — mit einem Schlage zwischen die Gläser; und der Tabakhändler sah sich, krebsrot, nach dem Apotheker um. „Der Baron!“ wisperten sie erstickt und platzten gleichzeitig aus.
„Was haben diese Herren?“ fragte Italia. Um sie für sich zu gewinnen, kitzelte sie beide mit den Augen und zur Sicherheit auch noch den Leutnant.
Der Advokat drohte ihr mit dem Finger; sie lachte; und inzwischen kam Frau Camuzzi, vom Dom her, mit tief gesenkten Lidern vorüber. Italia sah ihr voll Spannung und Unterordnung nach.
„Ist das die Dame, die ausspie?“ flüsterte sie. „Und warum spie sie vor mir aus?“
„Auch ich bin beleidigt“, sagte der alte Giordano dumpf und grübelte, wieder ganz in Falten, vor sich hin.
Nello Gennari fuhr zusammen, als erwachte er, und starrte irgendeinen an.
„Hier ist jemand, der alles weiß. Alles, versteht ihr? Ist das nicht schrecklich?“
„Ich hatte es vergessen“, sagte der alte Giordano schaurig. „Mein Gedächtnis! Aber jetzt erkenne ich, woher hier das Unglück kommt. Dort im Winkel hinter dem Turm —“
Er zwang Italia, in seine aufgerissenen Augen zu sehen, und wies mit dem Daumen rückwärts. Der Advokat machte leise „Sst“. Polli raunte:
„Man sieht nicht hin.“
„Das ist doch schrecklich, immer solche Augen einer Unsichtbaren auf sich zu haben“, wiederholte Nello Gennari, den Blick gesenkt. Der Bariton nahm seine Uhrkette in die Hand.
„Ich sage nicht, daß es eine große Annehmlichkeit ist.“
„Was gibts? O was habt ihr?“ — und Italia hatte den Handrücken am Munde.
„Du hast Hornbreloques, Gaddi?“ fragte der alte Tenor. „Man sollte sie nie ablegen.“
Rasch und ohne sich umzuwenden, spreizte er zwei Finger gegen das Haus Mancafede.
„Was gibts, mein Gott?“ flehte Italia. „Ich will fort.“
„Was denn“, machte der Advokat. „Wir leben doch alle hier, und es tut uns nichts. Es ist ein Mädchen, das seit neun Jahren, ohne krank zu sein, das Haus nicht verläßt und dennoch alles weiß, was geschehen ist, und zuweilen auch, was noch nicht geschehen ist . . .“
„Man muß zugeben,“ — und der Gemeindesekretär lächelte spöttisch, „daß es ein wenig unheimlich sein mag, wenn man es noch nicht gewohnt ist.“
„Ich will fort.“
Italia stieß ihren Stuhl zurück. Der Advokat packte sie an und drückte sie auf den Sitz.
„Sie, eine Künstlerin, wollten fliehen vor einer einfachen Erscheinung der menschlichen Natur?“
„Nun, einfach —“ meinte der Sekretär. Italia sah, umklammert vom Advokaten, nach Hilfe umher.
„Darum bin ich beleidigt worden“, begann wieder der alte Giordano. „Ich, der seit fünfzig Jahren —“
„Hat darum jene Dame vor mir ausgespien?“ fragte Italia erleuchtet.
„Aber die Wissenschaft —“ hob der Advokat an.
„Wer ist also noch sicher!“ rief Nello Gennari, sprang auf und machte, die Arme verschränkt, eine stürmische Runde um den Tisch. „Sie weiß,“ dachte er in plötzlichem Erkennen, „wo ich die Nacht war und daß ich Alba liebe! Ich wollte eher tot sein, als ein menschliches Wesen im Besitz meines Geheimnisses sehen. Sie aber hat es: schon gestern wußte sie den Namen! — und kann mich verraten. Ich lebe von ihrer Gnade, wie ist das zu ertragen!“ Er setzte sich wieder und nahm die Stirn in die Hände.
„Die Wissenschaft wird —“ sagte der Advokat. Der alte Giordano hob plötzlich die Arme und riß die Luft in seinen offenen Mund hinein.
„Und meine Prophezeiung! Diese Stadt hat weniger als hunderttausend Einwohner, und ich bin umgeben von Geheimnis. Ich werde hier sterben.“
„Ja, man muß vorsichtig sein,“ — und der Bariton drehte unerschüttert an seinen kleinen Hörnern. Der Alte schrumpfte zusammen. Der Advokat bekam unversehens eine Art Anfall. Er zuckte wild mit den Schultern, seine Handrücken taten kleine krampfige Schläge in die Luft, die Adern schwollen ihm, und seine Augen waren die eines Erstickenden.
Plötzlich stand der Kapellmeister Dorlenghi am Tisch und sagte, rasch atmend:
„Wenn es den Herren gefällt, zur Probe!“
Niemand antwortete ihm. Italia zerrte ihr Taschentuch durch die Zähne, der alte Giordano sah entrüstet weg. Dann nahm der Advokat das Wort.
„Guten Tag, Dorlenghi, setzen Sie sich!“
„Verlieren wir keine Zeit, ihr Herren! Diese elende Schule hat mich lange genug aufgehalten. Denn ich bin ein kleiner Dorfmusiker und muß die Kinder singen lehren. Kommen Sie!“
Da nichts sich regte, fragte er, stockend und erblaßt:
„Aber was ist geschehen? Ich verstehe nicht —“
Der Advokat fuchtelte verzweifelt. Auf einmal klappte er die Arme herunter und sagte leichthin:
„Sie wollen nicht, Dorlenghi. Diese Herren haben den Plan gefaßt, abzureisen.“
„Ach ja, abreisen!“ — und Italia nickte fliegend und verzerrt, als sei sie von Schlangen umwickelt.
„Auch ich reise“, sagte der alte Giordano. „Ich will hier nicht sterben.“
Der Kapellmeister griff nach einem Stuhl und griff daneben. Der Advokat fing ihn auf und setzte ihn hin.
„Mut, Dorlenghi! Auch mir ist dieser Zwischenfall peinlich; aber was wollen Sie? Künstler sind Launen unterworfen, das wußten wir. Wer das Genie will, muß auch die Launen wollen.“
„Immerhin,“ meinte der Bariton, der seine Anhängsel sorgfältig geprüft hatte, „es wird vielleicht besser sein, wir reisen.“
Nello Gennari nahm die Stirn aus den Händen; er hatte einen wirren, ringenden Blick; — schüttelte, die Lider eindrückend, langsam und stark den Kopf und ließ die Stirn zurückfallen.
„Sie scherzen“, brachte der Kapellmeister hervor und lächelte wie eine Puppe. „Ein gelungener Scherz. Aber sollten wir nicht gehen? Es wird spät und zum Theater ists weit.“
„Es ist Ernst, mein armer Dorlenghi,“ — und der Advokat klopfte ihn. „Unsere Künstler fürchten sich vor der Unsichtbaren dort hinten. Sehen Sie nicht hin! Und schließlich, wer weiß; Gründe gibt es für alles; und selbst ich, Maestro, frage mich —. Denn, sagen wir die Wahrheit! die merkwürdigen Dinge häufen sich ein wenig. Warum mußte mir Don Taddeo just heute die Ungelegenheit mit dem Schlüssel bereiten? Überdies hatte ich vergessen, daß der Frau des Wirtes Malandrini, ja, der Ersilia Malandrini, letzte Nacht der Geist ihres Vaters erschienen ist.“
Italia begann wild zu lachen. Alle sahen sie entsetzt an.
„Ein Geist?“ fragte sie.
„Gewiß, ein Geist, Fräulein“, bestätigte der Advokat ernst. „Denn ich gehöre nicht zu denen, die die Seele leugnen. Ich bin kein Feind der Religion, nur ein Gegner der Priester.“
„Aber solch ein Geist, o, solch ein Geist —“ und Italia schüttelte sich.
„Eine Frau ohne Religion liebe ich nicht“, bemerkte der Apotheker Acquistapace mit seiner biederen Stimme. Sie war unvermittelt still und sah ihm gesetzt und treu in die Augen.
„Das Fräulein lacht! Sehen Sie, daß sie lacht?“ wiederholte der Kapellmeister noch immer. Er war auf den Beinen, in seiner zarten Haut sah man die Röte bis unter die blonden Kinnhaare fließen, und er sagte mit einer Stimme, die aus dem Tiefsten bebte:
„Ich habe es gewußt, Sie würden mich nicht im Stich lassen. Wo bleibt das Fräulein Flora Garlinda?“
„O,“ machte Gaddi, „auf die können Sie zählen, Maestro, die singt: auch allein, ohne uns, und kein Unglück, böser Blick oder Geist hält sie ab, denn sie glaubt an nichts.“
„Also gehen wir voran! Das Klavier ist oben,“ — und er wies nach der Treppengasse; „ich habe große Mühe damit gehabt, bis es oben war . . . Wie? Meine Herren, ich bitte Sie, ich bitte Sie.“
„Es wäre vielleicht besser, an nichts zu glauben?“ vermutete der Advokat.
„Wenn Sie nicht kommen: ja, was tue ich“, sagte der Kapellmeister und griff sich fliegend an die Stirn.
„An gewisse Dinge nicht zu glauben, ist schwer“, bemerkte der Cavaliere Giordano. „Beim Theater besonders.“
„Meine Zukunft! Sie werden nicht wollen, daß alles umsonst war?“
„Ich habe sie erlebt,“ — und der Bariton schlug sich auf die starke Brust. „In Pesaro verschwanden die Schminktöpfe, die man soeben noch in der Hand gehalten hatte, und in einer anderen Garderobe fand man sie wieder. Ich mußte die meinen mehrmals von der Primadonna zurückholen.“
„Das soll deine Frau erfahren“, sagte Italia.
„Werde ich denn niemals hier herauskommen?“ — und der Kapellmeister schlug hart auf seinen Stuhl auf und sah gebeugt seine Hände an, die in dürftigen, zu langen Ärmeln staken, geschwollene Adern hatten und schwitzten.
Man erwiderte ihm mit Entrüstung:
„Sie waren froh genug herzukommen. Uns scheint, daß hundertfünfzig —“
Der Cavaliere Giordano bewog die Bürger mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„In Parma hat das Theater, wie viele selbst unter denen, die dort aufgetreten sind, nicht wissen, — aber es ist Tatsache, daß das Theater einen Geist hat. Ich habe ihn erblickt.“
Er nickte allen nacheinander in die Augen.
„Jener Geist war vor hundert Jahren eine Dame des Hofes und soll, obwohl ein religiöses Gelübde es ihr verbot, einen Tenor geliebt haben. Nun kommt sie, sooft ein junger, noch unbekannter Tenor singt, durch den Gang aus dem Schloß ins Theater. Immer in derselben Loge sitzt der Geist, die er bei Lebzeiten hatte, und wartet, ob der Fremde jenen Ton aushalten wird . . .“
„Jenen Ton?“ wiederholte man.
Der Kapellmeister war schon wieder aufgesprungen. Er tat einige Schritte, schob wütend einen schreienden Haufen Jungen auseinander, ging dem Brunnen zu.
„Und meine Ouvertüre!“ sagte er immer wieder, nun dumpf, nun ausbrechend, nun knirschend. Er stützte die Hände auf die Brunnenschale und stöhnte laut.
„Sie soll im Theater aufgeführt werden! Die Garlinda soll meine Arie ‚Trauriges Geschick‘ singen! Wozu ist sie da, wozu sind sie alle da! Ah! Sie wollen mir nicht ans Licht helfen, das ich verdiene? Sie wollen mich aufhalten?“
Er griff sich ins Haar, er ballte die Faust.
„Sie mögen sich hüten! Ich habe ihre Kontrakte, ich werde sie damit vernichten, ohne Gnade vernichten!“
Und er spie in den Brunnen. Dann kehrte er zurück, etwas einwärts auf seinen gekrümmten Beinen; und da er fühlte, daß beim Näherkommen sein Gesicht, er mochte wollen oder nicht, einen bescheidenen Ausdruck bekam, zwang er es zu drohen.
„Bei der Unmöglichkeit, dies genau zu wissen,“ sagte der Cavaliere Giordano, „werden Sie verstehen, meine Herren, wie schwierig meine Lage war.“
„Teufel!“
„Denken Sie sich: ahnungslos trifft man in Parma ein, singt fröhlich drauf los, — um in der letzten Pause von irgendeinem guten Herzen zufällig zu erfahren, daß in der dritten Loge rechts eine geisterhafte Dame sitzt, die darauf wartet, ob man jenen Ton aushält, bei dem vor hundert Jahren ihr Liebhaber gestorben ist. Hält man ihn aus, stirbt man auch, das steht fest. Man erstickt an ihm.“
„Schönes Vergnügen!“
„Und man weiß nicht, welcher es ist! Die Überlieferungen stimmen nicht überein. Es konnte auch das hohe d sein, meine Herren: das hohe d meiner großen Arie ‚O bleiche Sterne‘ im letzten Akt der ‚Galathea.‘ Aber soll ich auf mein hohes d verzichten? Mit ihm besiege ich jedes Publikum. Jetzt werde ich dafür vielleicht sterben, elend ersticken? Es handelt sich um die Wahl zwischen Leben und Ruhm . . . Meine Herren, ich war jung, ich nahm den Ruhm.“
„Bravo! Bravo!“
Der Advokat lachte keuchend dazwischen, ohne sich seiner Ungebühr bewußt zu sein, nur aus Aufregung, weil er unter dem Tisch auf einen Fuß gestoßen war, der, wenn nicht alles täuschte, Italia Molesin gehörte. Der Cavaliere Giordano sah ihn strafend an, und er riß, ertappt, die Brauen in die Höhe.
„Freilich sagte ich mir auch; es wird nicht das d gewesen sein, an dem jener Charlatan erstickt ist; denn das hält niemand zwei Minuten lang aus, als nur ich. Gleichviel: wie ich nun vor dem Souffleurkasten stehe, das ganze Haus den Atem zurückdrängt und nur ich ihn hinausschmettere, lange, lange, lange: — o, ich sage die Wahrheit, mir war nicht wohl. Vielleicht war ich ein wenig feucht, vielleicht verschwamm es mir ein wenig vor den Augen. Es kann sogar sein, daß meine Kräfte nachließen. Da aber lenkt Gott meinen Blick, und ich sehe in der dritten Loge rechts eine Gestalt sich erheben und lautlos Beifall klatschen. Das Blut schießt mir zum Herzen, mit Macht breche ich ab, höre das Haus tausend Hände bewegen und fühle, daß ich gerettet bin. Ich verbeuge mich vor der dritten Loge rechts in dem Augenblick, da die Gestalt zurücktritt und verschwindet. Noch jetzt, scheint mir, habe ich sie vor Augen: sehr bleich ist sie und gekleidet wie eine Äbtissin.“
„Wie eine —!“
Nello Gennari stand auf einmal lang aufgereckt da, die Hand am Herzen und verstört und blutlos. Allmählich erlangte er Atem.
„Wie eine Äbtissin: ja, das ist sie gewesen. Eine Nonne! — und jener Tenor starb für sie. Ihre Geschichte ist wahr, Cavaliere! Ich glaube an sie!“
Er setzte sich. Noch waren alle erschüttert.
„Cavaliere, ich muß Sie auffordern“, begann der Kapellmeister, schwach und atemlos. Der Advokat gab seinem Stuhl einen Stoß und machte sich, die Hände ausgestreckt, eilig drehend über den Platz.
„Was hat er?“ fragte Italia enttäuscht. Denn unter dem Tisch war inzwischen auch ihr Knie dem des Advokaten begegnet. „Mit wem ist er?“
„Das ist der Kaufmann Mancafede, der Vater jener Frau dort hinter dem Turm: nicht hinsehen, sie sieht uns.“
„Er scheint nicht gefährlich.“
„Meine Herren,“ begann wieder der Kapellmeister, „Sie haben wohl nicht bedacht, welche Folgen es haben würde —“
Die beiden näherten sich. Der Advokat redete keuchend und die Luft schlagend am Ohr des andern. Plötzlich schob er ihn vor und ließ ihn los. Der Kaufmann dienerte und reichte seine trockene kühle Hand umher. Sein altes Hasenprofil mit dem gewölbten Auge wendete sich ruckweise.
„Wenn die Herren es erlauben —“
Jeder einzelne mußte genickt haben, bevor Mancafede sich setzte. Man betrachtete ihn milde, wie er sich in seiner dicken braunen Jacke, die aussah wie sein Fell, rund und klein machte.
„Sie haben eine Tochter?“ fragte der Cavaliere herablassend. Mancafede schmunzelte bescheiden.
„Meine Tochter hat von Ihnen gesprochen, Cavaliere.“