Читать книгу Der Untertan - Heinrich Mann - Страница 4

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Mit äußerstem Nachdruck stellte Diederich fest: „Dann scheinen Sie überhaupt ein Schwindler zu sein. Es soll ja gewisse Patentschwindler geben.“

Mahlmann lachte nicht mehr; die Augen in seinem kleinen Kopf waren tückisch geworden, und er stand auf. „Nun müssen Sie ’rausgehen“, sagte er, ohne Erregung. „Unter uns wäre es wohl Wurst, aber nebenan sitzen meine Angestellten, die dürfen so was nicht hören.“

Er packte Diederich an den Schultern, drehte ihn herum und schob ihn vor sich her. Für jeden Versuch, sich loszumachen, bekam Diederich einen mächtigen Knuff.

„Ich fordere Genugtuung“, schrie er, „Sie müssen sich mit mir schlagen!“

„Ich bin schon dabei. Merken Sie es nicht? Dann will ich noch einen rufen.“ Er öffnete die Tür. „Friedrich!“ Und Diederich ward einem Packer überliefert, der ihn die Treppe hinabbeförderte. Mahlmann rief ihm nach:

„Nichts für ungut, Freundchen. Wenn Sie ein andermal was auf dem Herzen haben, kommen Sie ruhig wieder!“

Diederich brachte sich in Ordnung und verließ das Haus in guter Haltung. Um so schlimmer für Mahlmann, wenn er sich so aufführte! Diederich hatte sich nichts vorzuwerfen; vor einem Ehrengericht wäre er glänzend dagestanden. Etwas höchst Anstößiges blieb es, daß ein ein[pg 45]zelner sich so viel erlauben konnte; Diederich war gekränkt im Namen sämtlicher Korporationen. Andererseits war es nicht zu leugnen, daß Mahlmann Diederichs alte Hochachtung wieder beträchtlich aufgefrischt hatte. „Ein ganz gemeiner Hund“, dachte Diederich. „Aber so muß man sein ...“

Zu Hause lag ein eingeschriebener Brief.

„Nun können wir fortmachen“, sagte Hornung.

„Wieso wir? Ich brauch’ mein Geld selbst.“

„Du machst wohl Spaß. Ich kann hier doch nicht allein sitzenbleiben.“

„Dann such’ dir Gesellschaft!“

Diederich schlug ein solches Gelächter auf, daß Hornung ihn für verrückt hielt. Darauf reiste er wirklich.

Unterwegs sah er erst, daß der Brief von seiner Mutter adressiert war. Das war ungewöhnlich ... Seit ihrer letzten Karte, sagte sie, sei es mit seinem Vater noch viel schlimmer geworden. Warum Diederich nicht gekommen sei.

„Wir müssen uns auf das Entsetzlichste gefaßt machen. Wenn Du unseren innigst geliebten Papa noch einmal sehen willst, o dann säume nicht länger, mein Sohn!“

Bei dieser Ausdrucksweise ward es Diederich ungemütlich. Er entschloß sich, seiner Mutter einfach nicht zu glauben. „Weibern glaub’ ich überhaupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht richtig.“

Trotzdem tat Herr Heßling bei Diederichs Ankunft gerade die letzten Atemzüge.

Von dem Anblick überwältigt, brach Diederich gleich auf der Schwelle in ein ganz formloses Geheul aus. Er stolperte zum Bett, sein Gesicht war im Augenblick naß wie beim Waschen; und mit den Armen tat er lauter kurze Flügelschläge und ließ sie machtlos gegen die Hüften [pg 46]klappen. Plötzlich erkannte er auf der Decke des Vaters rechte Hand, kniete hin und küßte sie. Frau Heßling, ganz still und klein selbst noch bei den letzten Atemzügen ihres Herrn, tat drüben dasselbe mit der linken. Diederich dachte daran, wie dieser verkümmerte schwarze Fingernagel auf seine Wange zugeflogen war, wenn der Vater ihn ohrfeigte; und er weinte laut. Die Prügel gar, als er von den Lumpen die Knöpfe gestohlen hatte! Diese Hand war schrecklich gewesen; Diederichs Herz krampfte sich, nun er sie verlieren sollte. Er fühlte, daß seine Mutter das gleiche im Sinn hatte, und sie ahnte seine Gedanken. Auf einmal sanken sie einander, über das Bett hinweg, in die Arme.

Bei den Kondolenzbesuchen hatte Diederich sich zurück. Er vertrat vor ganz Netzig, stramm und formensicher, die Neuteutonia, sah sich angestaunt und vergaß darüber fast, daß er trauerte. Dem alten Herrn Buck ging er bis zur äußeren Tür entgegen. Die Beleibtheit des großen Mannes von Netzig ward majestätisch in seinem glänzenden Gehrock. Würdevoll trug der den umgewendeten Zylinderhut vor sich her; und die andere, vom schwarzen Handschuh entblößte Hand, die er Diederich reichte, fühlte sich überraschend zartfleischig an. Seine blauen Augen drangen warm in Diederich ein, und er sagte:

„Ihr Vater war ein guter Bürger. Junger Mann, werden Sie auch einer! Haben Sie immer Achtung vor den Rechten Ihrer Mitmenschen! Das gebietet Ihnen Ihre eigene Menschenwürde. Ich hoffe, wir werden hier in unserer Stadt noch zusammen für das Gemeinwohl arbeiten. Sie werden jetzt wohl fertig studieren?“

Diederich konnte kaum das Ja herausbringen, so sehr verstörte ihn die Ehrfurcht. Der alte Buck fragte in leichterem Ton:

„Hat mein Jüngster Sie in Berlin schon aufgesucht? Nein? O, das soll er tun. Er studiert jetzt auch dort. Wird aber wohl bald sein Jahr abdienen. Haben Sie das schon hinter sich?“

„Nein“ – und Diederich ward sehr rot. Er stammelte Entschuldigungen. Es sei ihm bisher ganz unmöglich gewesen, das Studium zu unterbrechen. Aber der alte Buck zuckte die Achseln, als sei der Gegenstand unerheblich.

Durch das Testament des Vaters war Diederich neben dem alten Buchhalter Sötbier zum Vormund seiner beiden Schwestern bestimmt. Sötbier belehrte ihn, daß ein Kapital von siebzigtausend Mark da sei, das als Mitgift der Mädchen dienen solle. Nicht einmal die Zinsen durften angegriffen werden. Der Reingewinn aus der Fabrik hatte in den letzten Jahren durchschnittlich neuntausend Mark betragen. „Mehr nicht?“ fragte Diederich. Sötbier sah ihn an, zuerst entsetzt, dann vorwurfsvoll. Wenn der junge Herr sich vorstellen könnte, wie sein seliger Vater und Sötbier das Geschäft heraufgearbeitet hätten! Gewiß war es ja noch ausdehnungsfähig ...

„Na, is jut“, sagte Diederich. Er sah, daß hier vieles geändert werden müsse. Von einem Viertel von neuntausend Mark sollte er leben? Diese Zumutung des Verstorbenen empörte ihn. Als seine Mutter behauptete, der Selige habe auf dem Sterbebette die Zuversicht geäußert, in seinem Sohn Diederich werde er fortleben, und Diederich werde sich niemals verheiraten, um immer für die Seinen zu sorgen, da brach Diederich aus. „Vater war nicht so krankhaft sentimental wie du,“ schrie er, „und er log auch nicht.“ Frau Heßling glaubte den Seligen zu hören und duckte sich. Dies benutzte Diederich, um seinen Monatswechsel um fünfzig Mark erhöhen zu lassen.

„Zunächst“, sagte er rauh, „hab’ ich mein Jahr abzudienen. Das kostet, was es kostet. Mit euren kleinlichen Geldgeschichten könnt ihr mir später kommen.“

Er bestand sogar darauf, in Berlin einzutreten. Der Tod des Vaters hatte ihm wilde Freiheitsgefühle gegeben. Nachts freilich träumte er, der alte Herr trete aus dem Kontor, mit dem ergrauten Gesicht, das er als Leiche gehabt hatte – und schwitzend erwachte Diederich.

Er reiste, versehen mit dem Segen der Mutter. Gottlieb Hornung und ihre gemeinsame Rosa konnte er fortan nicht brauchen und zog um. Den Neuteutonen zeigte er in angemessener Form seine veränderten Lebensumstände an. Die Burschenherrlichkeit war vorüber. Der Abschiedskommers! Trauersalamander wurden gerieben, die für Diederichs alten Herrn bestimmt waren, aber die auch ihm und seiner schönsten Blütezeit gelten konnten. Vor lauter Hingabe gelangte er unter den Tisch, wie am Abend seiner Aufnahme als Konkneipant; und war nun alter Herr.

Arg verkatert stand er tags darauf, inmitten anderer jungen Leute, die alle, wie er selbst, ganz nackt ausgezogen waren, vor dem Stabsarzt. Dieser Herr sah angewidert über all das männliche Fleisch hin, das ihm unterbreitet war; an Diederichs Bauch aber ward sein Blick höhnisch. Sofort grinsten alle ringsum, und Diederich blieb nichts übrig, als auch seinerseits die Augen auf seinen Bauch zu senken, der errötet war ... Der Stabsarzt hatte seinen vollen Ernst zurück. Einem, der nicht so scharf hörte, wie es Vorschrift war, erging es schlecht, denn man kannte die Simulanten! Ein anderer, der noch dazu Levysohn hieß, bekam die Lehre: „Wenn Sie mich wieder mal hier belästigen, dann waschen Sie sich wenigstens!“ Bei Diederich hieß es:

„Ihnen wollen wir das Fett schon wegkurieren. Vier Wochen Dienst, und ich garantiere Ihnen, daß Sie aussehen wie ein Christenmensch.“

Damit war er angenommen. Die Ausgemusterten fuhren so schnell in ihre Kleider, als brennte die Kaserne. Die für tauglich Befundenen sahen einander prüfend von der Seite an und entfernten sich zaudernd, als erwarteten sie, daß eine schwere Hand sich ihnen auf die Schultern lege. Einer, ein Schauspieler mit einem Gesicht, als sei ihm alles eins, kehrte um, stellte sich nochmals vor den Stabsarzt hin und sagte laut, mit sorgfältiger Aussprache: „Ich möchte noch hinzufügen, daß ich homosexuell bin.“

Der Stabsarzt wich zurück, er war ganz rot. Stimmlos sagte er: „Solche Schweine können wir allerdings nicht brauchen.“

Diederich drückte den künftigen Kameraden seine Entrüstung aus über ein so schamloses Verfahren. Dann sprach er noch den Unteroffizier an, der vorher an der Wand seine Körperlänge gemessen hatte, und beteuerte ihm, daß er froh sei. Trotzdem schrieb er nach Netzig an den praktischen Arzt Dr. Heuteufel, der ihn als Jungen im Hals gepinselt hatte: ob der Doktor ihm nicht bescheinigen wolle, daß er skrofulös und rachitisch sei. Er könne sich doch nicht ruinieren lassen mit der Schinderei. Aber die Antwort lautete, er solle nur nicht kneifen, das Dienen werde ihm trefflich bekommen. So gab Diederich denn sein Zimmer wieder auf und fuhr mit seinem Handkoffer in die Kaserne. Wenn man schon vierzehn Tage dort wohnen mußte, konnte man so lange die Miete sparen.

Sofort ging es mit Reckturnen, Springen und anderen atemraubenden Dingen an. Kompagnieweise ward man in den Korridoren, die „Rayons“ hießen, „abgerichtet“. [pg 50]Leutnant von Kullerow trug eine unbeteiligte Hochnäsigkeit zur Schau, die Einjährigen betrachtete er nie anders als mit einem zugekniffenen Auge. Plötzlich schrie er: „Abrichter!“ und gab den Unteroffizieren eine Instruktion, worauf er sich verachtungsvoll abwandte. Beim Exerzieren im Kasernenhof, beim Gliederbilden, Sichzerstreuen und Platzwechseln ward weiter nichts beabsichtigt, als die „Kerls“ umherzuhetzen. Ja, Diederich fühlte wohl, daß alles hier, die Behandlung, die geläufigen Ausdrücke, die ganze militärische Tätigkeit vor allem darauf hinzielte, die persönliche Würde auf ein Mindestmaß herabzusetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie selbstmörderische Begeisterung. Prinzip und Ideal war ersichtlich das gleiche wie bei den Neuteutonen, nur ward es grausamer durchgeführt. Die Pausen der Gemütlichkeit, in denen man sich seines Menschentums erinnern durfte, fielen fort. Jäh und unabänderlich sank man zur Laus herab, zum Bestandteil, zum Rohstoff, an dem ein unermeßlicher Wille knetete. Wahnsinn und Verderben wäre es gewesen, auch nur im geheimsten Herzen sich aufzulehnen. Höchstens konnte man, gegen die eigene Überzeugung, sich manchmal drücken. Diederich war beim Laufen gefallen, der Fuß tat ihm weh. Nicht, daß er gerade hätte hinken müssen, aber er hinkte und durfte, wie die Kompagnie „ins Gelände“ marschierte, zurückbleiben. Um dies zu erreichen, war er zunächst an den Hauptmann selbst herangetreten. „Herr Hauptmann, bitte –“ Welche Katastrophe! Er hatte in seiner Ahnungslosigkeit vorwitzig das Wort an eine Macht gerichtet, von der man stumm und auf den Knien des Geistes Befehle ent[pg 51]gegenzunehmen hatte! Der man sich nur „vorführen“ lassen konnte! Der Hauptmann donnerte, daß die Unteroffiziere zusammenliefen, mit Mienen, in denen das Entsetzen vor einer Lästerung stand. Die Folge war, daß Diederich stärker hinkte und einen Tag länger vom Dienst befreit werden mußte.

Unteroffizier Vanselow, der für die Untat seines Einjährigen verantwortlich war, sagte zu Diederich nur: „Das will ein gebildeter Mensch sein!“ Er war es gewohnt, daß alles Unheil von den Einjährigen kam. Vanselow schlief in ihrem Mannschaftszimmer hinter einem Verschlag. Nach dem Lichtlöschen zoteten sie, bis der Unteroffizier empört dazwischenschrie: „Das wollen gebildete Leute sein!“ Trotz seiner langen Erfahrung erwartete er immer noch von den Einjährigen mehr Geist und gute Haltung als von den anderen Leuten und war immer neu enttäuscht. In Diederich sah er keineswegs den Schlimmsten. Das Bier, das einer zahlte, entschied nicht allein über Vanselows Meinung. Noch mehr sah Vanselow auf den soldatischen Geist freudiger Unterwerfung, und den hatte Diederich. In der Instruktionsstunde konnte man ihn den anderen als Muster vorhalten. Diederich zeigte sich ganz erfüllt von den militärischen Idealen der Tapferkeit und der Ehrliebe. Was die Abzeichen und die Rangordnung betraf, so schien der Sinn dafür ihm angeboren. Vanselow sagte: „Jetzt bin ich der Herr Kommandierende General“, und auf der Stelle benahm Diederich sich, als glaubte er es. Wenn es aber hieß: „Jetzt bin ich ein Mitglied der königlichen Familie“, dann war Diederichs Verhalten so, daß es dem Unteroffizier ein Lächeln des Größenwahns abnötigte.

Im Privatgespräch in der Kantine eröffnete Diederich [pg 52]seinem Vorgesetzten, daß er vom Soldatenleben begeistert sei. „Das Aufgehen im großen Ganzen!“ sagte er. Er wünsche sich nichts auf der Welt, als ganz dabei zu bleiben. Und er war aufrichtig – was aber nicht hinderte, daß er am Nachmittag, bei den Übungen „im Gelände“, keinen anderen Wunsch mehr kannte, als sich in den Graben zu legen und nicht mehr vorhanden zu sein. Die Uniform, die ohnedies, aus Rücksichten der Strammheit, zu eng geschnitten war, ward nach dem Essen zum Marterwerkzeug. Was half es, daß der Hauptmann, bei seinen Kommandos, sich unsäglich kühn und kriegerisch auf dem Pferd herumsetzte, wenn man selbst, rennend und schnaufend, die Suppe unverdaut im Magen schlenkern fühlte. Die sachliche Begeisterung, zu der Diederich völlig bereit war, mußte zurücktreten hinter der persönlichen Not. Der Fuß schmerzte wieder; und Diederich lauschte auf den Schmerz, in der angstvollen, mit Selbstverachtung verbundenen Hoffnung, es möchte schlimmer werden, so schlimm, daß er nicht wieder „ins Gelände“ hinaus mußte, daß er vielleicht nicht einmal mehr im Kasernenhof üben konnte und daß man genötigt war, ihn zu entlassen!

Es kam dahin, daß er am Sonntag den alten Herrn eines Korpsbruders aufsuchte, der Geheimer Sanitätsrat war. Er müsse ihn um seinen Beistand bitten, sagte Diederich, rot vor Scham. Er sei begeistert für die Armee, für das große Ganze und wäre am liebsten ganz dabei geblieben. Man sei da in einem großartigen Betrieb, ein Teil der Macht sozusagen und wisse immer, was man zu tun habe: das sei ein herrliches Gefühl. Aber der Fuß tue nun einmal weh. „Man darf es doch nicht so weit kommen lassen, daß er unbrauchbar wird. Schließlich habe ich Mutter und Geschwister zu ernähren.“ Der Geheim[pg 53]rat untersuchte ihn. „Neuteutonia sei’s Panier“, sagte er. „Ich kenne zufällig Ihren Oberstabsarzt.“ Hiervon war Diederich durch seinen Korpsbruder unterrichtet. Er empfahl sich, voll banger Hoffnung.

Die Hoffnung bewirkte, daß er am nächsten Morgen kaum noch auftreten konnte. Er meldete sich krank. „Wer sind Sie, was belästigen Sie mich?“ – und der Stabsarzt maß ihn. „Sie sehen aus wie das Leben, Ihr Bauch ist auch schon kleiner.“ Aber Diederich stand stramm und blieb krank; der Vorgesetzte mußte sich zu einer Untersuchung herbeilassen. Als er den Fuß zu Gesicht bekam, erklärte er, wenn er sich nicht eine Zigarre anzünde, werde ihm unwohl werden. Trotzdem war nichts zu finden an dem Fuß. Der Stabsarzt stieß ihn entrüstet vom Stuhl. „Macht Dienst, Schluß, abtreten“ – und Diederich war erledigt. Mitten im Exerzieren aber schrie er plötzlich auf und fiel um. Er ward ins „Revier“ gebracht, den Aufenthalt der Leichterkrankten, wo es nach Volk roch und nichts zu essen gab. Denn die Selbstbeköstigung, die den Einjährigen zustand, war hier nur schwer zu bewerkstelligen, und von den Rationen der anderen bekam er nichts. Vor Hunger meldete er sich gesund. Abgeschnitten von menschlichem Schutz, von allen sittlichen Rechten der bürgerlichen Welt, trug er sein düsteres Geschick; eines Morgens aber, als alle Hoffnung schon dahin war, holte man ihn vom Exerzieren weg auf das Zimmer des Oberstabsarztes. Dieser hohe Vorgesetzte wünschte ihn zu untersuchen. Er hatte einen verlegen menschlichen Ton und schlug dann wieder in militärische Schroffheit um, die gleichfalls nicht unbefangen wirkte. Auch er schien nichts Rechtes zu finden, das Ergebnis seines Eingreifens aber klang trotzdem anders. [pg 54]Diederich sollte nur „vorläufig“ weiter Dienst machen, das weitere werde sich schon ergeben. „Bei dem Fuß ...“

Einige Tage später trat ein „Revier“gehilfe an Diederich heran und fertigte auf geschwärztem Papier einen Abdruck des verhängnisvollen Fußes. Diederich ward genötigt, im Revierzimmer zu warten. Der Stabsarzt ging eben umher und nahm Gelegenheit, ihm seine volle Verachtung auszudrücken. „Nicht mal Plattfuß! Stinkt vor Faulheit!“ Da aber ward die Tür aufgestoßen, und der Oberstabsarzt, die Mütze auf dem Kopf, hielt seinen Einzug. Sein Schritt war fester und zielbewußter als sonst, er sah nicht rechts noch links, wortlos stellte er sich vor seinem Untergebenen auf, den Blick finster und streng auf dessen Mütze. Der Stabsarzt stutzte, er mußte sich in eine Lage finden, die ersichtlich die gewohnte Kollegialität nicht mehr zuließ. Nun hatte er sie erfaßt, nahm die Mütze herunter und stand stramm. Darauf zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fuß, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt blinzelte abwechselnd den Vorgesetzten, Diederich und das Papier an. Dann zog er die Absätze zusammen: er hatte das Befohlene gesehen.

Als der Oberstabsarzt fort war, näherte der Stabsarzt sich Diederich. Höflich, mit einem leisen Lächeln des Einverständnisses, sagte er:

„Der Fall war natürlich von Anfang an klar. Man mußte nur der Leute wegen –. Sie verstehen, die Disziplin –.“

Diederich bekundete durch Strammstehen, daß er alles verstehe.

„Aber“, wiederholte der Stabsarzt, „ich habe natürlich gewußt, wie Ihr Fall lag.“

Diederich dachte: „Wenn du es nicht gewußt hast, jetzt weißt du es.“ Laut sagte er:

„Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen dürfen?“

„Dafür kann ich Ihnen nicht garantieren“, sagte der Stabsarzt und machte kehrt.

Von schwerem Dienst war Diederich fortan befreit, das „Gelände“ sah ihn nicht mehr. Um so williger und freudiger war sein Verhalten in der Kaserne. Wenn des Abends beim Appell der Hauptmann, die Zigarre im Munde und leicht angetrunken, aus dem Kasino kam, um für Stiefel, die nicht geschmiert, sondern gewichst waren, Mittelarrest zu verhängen: an Diederich fand er nichts auszusetzen. Um so unerbittlicher übte er seine gerechte Strenge an einem Einjährigen, der nun schon im dritten Monat strafweise im Mannschaftszimmer schlafen mußte, weil er einst, während der ersten vierzehn Tage, nicht dort, sondern zu Hause geschlafen hatte. Er hatte damals vierzig Grad Fieber gehabt und wäre, wenn er seine Pflicht getan hätte, vielleicht gestorben. Dann wäre er eben gestorben! Der Hauptmann hatte, sooft er diesen Einjährigen ansah, ein Gesicht voll stolzer Genugtuung. Diederich dahinten, klein und unversehrt, dachte: „Siehst du wohl? Die Neuteutonia und ein Geheimer Sanitätsrat sind mehr wert als vierzig Grad Fieber ...“ Was Diederich betraf, so waren die amtlichen Formalitäten eines Tages glücklich erfüllt, und der Unteroffizier Vanselow verkündete ihm seine Entlassung. Diederich hatte sofort die Augen voll Tränen; er drückte Vanselow warm die Hand.

„Gerade muß mir das passieren, und ich hatte doch“ – er schluchzte – „so viel Freudigkeit.“

Und dann war er „draußen“.

Vier Wochen lang blieb er zu Hause und büffelte. Wenn er zum Essen ging, sah er sich um, ob ein Bekannter ihn bemerkte. Endlich mußte er sich den Neuteutonen wohl zeigen. Er trat herausfordernd auf.

„Wer von euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem anderen Standpunkt. Ich wäre überhaupt dabei geblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir, ich sei hervorragend qualifiziert. Na und da –“

Er starrte schmerzlich vor sich hin.

„Das Unglück mit dem Gaul. Das kommt davon, wenn man ein zu guter Soldat ist. Der Hauptmann läßt einen in seinem Dogcart fahren, damit der Gaul mal bewegt wird, und da ist das Unglück passiert. Natürlich habe ich den Fuß nicht geschont und zu früh wieder Dienst gemacht. Die Sache verschlimmerte sich erheblich, der Stabsarzt gab mir anheim, für jede Eventualität meine Angehörigen zu benachrichtigen.“

Dies sagte er knapp und männlich.

„Da hättet ihr nun den Hauptmann sehen sollen. Täglich kam er selbst, nach den größten Märschen, mit bestaubter Uniform, wie er war. So was gibt es auch nur beim Militär. Wir sind in den bösen Tagen wahre Kameraden geworden. Hier die Zigarre ist noch von ihm. Und als er mir dann eingestehen mußte, der Stabsarzt wolle mich fortschicken, ich kann euch versichern, das war einer der Augenblicke im Leben, die man nicht vergißt. Der Hauptmann und ich, wir kriegten beide gleichzeitig feuchte Augen.“

Alle waren erschüttert. Diederich sah tapfer um sich.

„Na, jetzt soll man sich also wieder in das bürgerliche Leben hineinfinden. Prost.“

Er büffelte weiter; und am Sonnabend kneipte er mit den Neuteutonen. Auch Wiebel erschien wieder. Er war Assessor, auf dem Wege zum Staatsanwalt und sprach nur noch von „subversiven Tendenzen“, „Vaterlandsfeinden“ und auch vom „christlich-sozialen Gedanken“. Er erklärte den Füchsen, es sei an der Zeit, sich mit Politik zu beschäftigen. Er wisse wohl, daß es nicht für vornehm gelte, aber die Gegner zwängen einen dazu. Hochfeudale Herren, wie sein Freund, der Assessor von Barnim, seien in der Bewegung. Herr von Barnim werde demnächst den Neuteutonen die Ehre geben.

Er kam, und er gewann alle Herzen, denn er benahm sich wie gleich zu gleich. Er hatte dunkles, glatt gescheiteltes Haar, das Wesen eines pflichteifrigen Beamten, sprach sachlich – aber am Schluß seines Vortrages bekam er Schwärmeraugen und verabschiedete sich rasch, mit warmen Händedrücken. Die Neuteutonen stimmten nach seinem Besuch alle darin überein, daß der jüdische Liberalismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie sei und daß die christlichen Deutschen sich um den Hofprediger Stöcker zu scharen hätten. Diederich verband, wie die anderen, mit dem Wort „Vorfrucht“ keinen deutlichen Sinn und verstand unter „Sozialdemokratie“ nur eine allgemeine Teilerei. Das genügte ihm auch. Aber Herr von Barnim hatte jeden, der nähere Aufklärung wünschte, zu sich eingeladen, und Diederich würde es sich nicht verziehen haben, wenn er eine so schmeichelhafte Gelegenheit versäumt hätte.

In seiner kalten, altmodischen Junggesellenwohnung hielt Herr von Barnim ihm ein Privatissimum. Sein politisches Ziel war eine ständische Volksvertretung, wie im glücklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche, Gewerbe[pg 58]treibende, Handwerker. Das Handwerk mußte, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die Höhe kommen, wie vor dem Dreißigjährigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht und Sittlichkeit zu pflegen. Diederich äußerte sein wärmstes Einverständnis. Es entsprach seinen Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht persönlich, sondern korporativ im Leben Fuß zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordneter der Papierbranche. Die jüdischen Mitbürger freilich schloß Herr von Barnim von seiner Ordnung der Dinge aus; waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Auflösung, des Durcheinanderwerfens, der Respektlosigkeit: das Prinzip des Bösen selbst. Sein frommes Gesicht zog sich zusammen vom Haß, und Diederich fühlte ihn mit.

„Schließlich“, meinte er, „haben wir doch die Gewalt und können sie hinauswerfen. Das deutsche Heer –“

„Das ist es eben“, stieß Herr von Barnim aus, der durch das Zimmer lief. „Haben wir darum den ruhmreichen Krieg geführt, daß mein väterliches Gut an einen Herrn Frankfurter verkauft wird?“

Während Diederich noch erschüttert schwieg, klingelte es, und Herr von Barnim sagte:

„Es ist mein Barbier, den will ich mir auch mal vornehmen.“

Er bemerkte Diederichs Enttäuschung und setzte hinzu:

„Natürlich rede ich mit solch einem Manne anders. Aber jeder von uns muß an seinem Teil der Sozialdemokratie Abbruch tun und die kleinen Leute in das Lager unseres christlichen Kaisers hinüberziehen. Tun auch Sie das Ihre!“

Damit war Diederich entlassen. Er hörte den Barbier noch sagen:

„Schon wieder ein alter Kunde, Herr Assessor, der zu Liebling hinübergeht, bloß weil Liebling jetzt Marmor hat.“

Wiebel sagte, als Diederich ihm berichtete:

„Das ist alles schön und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung für die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter. Sehen Sie mal, auch Stöcker hat im Eispalast seine verdammten Erfahrungen gemacht mit der Demokratie, ob sie sich nun christlich nennt oder unchristlich. Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute heißt es bloß noch: losschlagen, solange wir die Macht haben.“

Und Diederich stimmte erleichtert bei. Herumgehen und Christen werben, war ihm gleich ein wenig peinlich erschienen.

„Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich, hat der Kaiser gesagt.“ Wiebels Augen drohten katerhaft. „Nun, was wollen Sie mehr? Das Militär ist darüber instruiert, es könne vorkommen, daß es auf die lieben Verwandten schießen muß. Also? Ich kann Ihnen mitteilen, mein Lieber, wir stehen am Vorabend großer Ereignisse.“

Da Diederich erregte Neugier zeigte:

„Was ich durch meinen Vetter von Klappke –.“

Wiebel machte eine Pause. Diederich zog die Absätze zusammen:

„– in Erfahrung gebracht habe, ist noch nicht für die Öffentlichkeit reif. Ich will nur bemerken, daß der gestrige Ausspruch Seiner Majestät, die Nörgler möchten gefälligst den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln, eine verteufelt ernst zu nehmende Warnung war.“

„Tatsächlich? Sie glauben?“ sagte Diederich. „Dann ist mein Pech wirklich skandalös, daß ich gerade jetzt aus [pg 60]dem Dienst Seiner Majestät scheiden mußte. Ich darf sagen, daß ich gegen den inneren Feind meine volle Pflicht getan haben würde. Auf die Armee, so viel weiß ich, kann der Kaiser sich verlassen.“

Er war in diesen naßkalten Februartagen des Jahres 1892 viel auf der Straße, in der Erwartung großer Ereignisse. Unter den Linden hatte sich etwas verändert, man sah noch nicht, was. Berittene Schutzleute hielten an den Mündungen der Straßen und warteten auch. Die Passanten zeigten einander das Aufgebot der Macht. „Die Arbeitslosen!“ Man blieb stehen, um sie ankommen zu sehen. Sie kamen vom Norden her, in kleinen Abteilungen und im langsamen Marschschritt. Unter den Linden zögerten sie, wie verwirrt, berieten sich mit den Blicken und lenkten nach dem Schloß ein. Dort standen sie, stumm, die Hände in den Taschen, ließen sich von den Rädern der Wagen mit Schlamm bespritzen und zogen die Schultern hoch unter dem Regen, der auf ihre entfärbten Überzieher fiel. Manche von ihnen wandten die Köpfe nach vorübergehenden Offizieren, nach den Damen in ihren Wagen, nach den langen Pelzen der Herren, die von der Burgstraße her schlenderten; und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht, als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber ließen kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief über ihre hinaufgewendeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreienden Schutzmann trieb sie weiter, hinüber oder bis zur nächsten Ecke – aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte.

„Ich begreife nicht,“ sagte Diederich, „daß die Polizei nicht energischer vorgeht. Das ist doch eine unbotmäßige Bande.“

„Lassen Sie’s gut sein“, erwiderte Wiebel. „Die Schutzleute sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlüberlegten Absichten, das können Sie mir glauben. Es ist nämlich gar nicht immer zu wünschen, daß derartige Fäulniserscheinungen am Staatskörper gleich anfangs unterdrückt werden. Man läßt sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!“

Die Reife, die Wiebel meinte, kam täglich näher, am sechsundzwanzigsten schien sie da. Die Demonstrationen der Arbeitslosen sahen zielbewußter aus. In eine der nördlichen Straßen zurückgetrieben, quollen sie aus der nächsten, bevor man ihnen den Weg abschneiden konnte, verstärkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigten sich ihre Züge, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schloß, wichen zurück und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhaltsam wie übergetretenes Wasser. Der Wagenverkehr stockte, die Fußgänger stauten sich, mit hineingezogen in die langsame Überschwemmung, worin der Platz ertrank, in dies trübe und mißfarbene Meer der Armen, das zäh dahinrollte, dumpfe Laute heraufwälzte und wie Maste untergegangener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreckte: „Brot! Arbeit!“ Ein deutlicheres Grollen, ausbrechend aus der Tiefe, jetzt drüben, jetzt hier: „Brot! Arbeit!“ Anschwellend über die Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwolke: „Brot! Arbeit!“ Eine Attacke der Berittenen, ein Aufschäumen, Zurückfließen, und Weiberstimmen im Lärm, schrill, gleich Signalen: „Brot! Arbeit!“

Man wird überrannt, vom Friedrichdenkmal fegt es die [pg 62]Neugierigen hinunter. Aber sie haben aufgerissene Münder; aus kleinen Beamten, denen der Weg ins Amt versperrt ist, fliegt Staub auf, als würden sie geklopft. Ein verzerrtes Gesicht, das Diederich nicht kennt, schreit ihm zu: „Es kommt anders! Jetzt geht es gegen die Juden!“ – und ist untergegangen, bevor ihm einfällt, es war Herr von Barnim. Er will ihm nach, wird in einem großen Schub weit hinübergeworfen, bis vor das Fenster eines Cafés, hört das Klirren der eingedrückten Scheibe, einen Arbeiter, der schreit: „Da haben se mich neulich ’rausgesetzt for meine dreißig Fennje, weil ich keinen Zylinderhut hatte“ – und dringt mit ein durch das Fenster, zwischen die umgeworfenen Tische, auf den Boden, wo man über Scherben fällt, einander die Bäuche einstößt und laut zetert. „Niemand mehr ’rein! Wir kriegen keine Luft!“ Aber immer mehr steigen ein. „Die Polizei drängelt!“ Und die Mitte der Straße sieht man frei liegen, gesäubert, wie für einen Triumphzug. Da sagt jemand: „Das ist doch Wilhelm!“

Und Diederich war wieder draußen. Niemand wußte, wie es kam, daß man auf einmal marschieren konnte, in gedrängter Masse, auf der ganzen Breite der Straße und zu beiden Seiten bis an die Flanken des Pferdes, worauf der Kaiser saß: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Knäuel von Schreienden wurden aufgelöst und mitgerissen. Alle sahen ihn an. Dunkles Geschiebe, ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser. Sie sahen: sie hatten ihn heruntergeholt aus dem Schloß. Sie hatten: „Brot! Arbeit!“ geschrien, bis er gekommen war. Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.

Seitwärts, wo die Reihen dünner waren, sagten bürgerlich Gekleidete zu einander: „Na, Gott sei Dank, er weiß, was er will!“

„Was will er denn?“

„Der Bande zeigen, wer die Macht hat! Im guten hat er es mit ihnen versucht. Er ist sogar zu weit gegangen in den Erlassen vor zwei Jahren. Sie sind frech geworden.“

„Angst kennt er nicht, das muß man sagen. Kinder, dies ist ein historischer Moment!“

Diederich hörte es und erschauderte. Der alte Herr, der gesprochen hatte, wandte sich auch an ihn. Er hatte weiße Bartkoteletts und das Eiserne Kreuz.

„Junger Mann,“ sagte er, „was unser herrlicher junger Kaiser da macht, das werden die Kinder mal aus den Schulbüchern lernen. Passen Sie auf!“

Viele hatten gehobene Brüste und feierliche Mienen. Die Herren, die dem Kaiser folgten, blickten mit äußerster Entschlossenheit darein, ihre Pferde aber lenkten sie durch das Volk, als seien alle die Leute zum Statieren bei einer Allerhöchsten Aufführung befohlen; und manchmal schielten sie seitwärts, nach dem Eindruck im Publikum. Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Züge, sein Auge blitzte hin über die Tausende der von ihm Gebannten. Er maß sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den empörerischen Knechten! Allein und ungeschützt hatte er sich mitten unter sie gewagt, stark nur durch seine Sendung. Sie konnten sich an ihm vergreifen, wenn es im Plan des Höchsten lag; er brachte seiner heiligen Sache sich selbst zum Opfer. War Gott mit ihm, dann sollten sie es sehen! Dann bewahrten sie für immer das Gepräge seiner Tat und die Erinnerung an ihre Ohnmacht!

Ein junger Mensch mit einem Künstlerhut ging neben Diederich, er sagte: „Kennen wir. Napoleon in Moskau, wie er sich solo unter die Bevölkerung mischt.“

„Das ist doch großartig!“ behauptete Diederich, und die Stimme versagte ihm. Der andere zuckte die Achseln.

„Theater, und nicht mal gut.“

Diederich sah ihn an, er versuchte zu blitzen wie der Kaiser.

„Sie sind wohl auch so einer.“

Er hätte nicht sagen können was für einer. Er fühlte nur, daß er hier, zum erstenmal im Leben, die gute Sache zu vertreten habe gegen feindliche Bemängelungen. Trotz seiner Aufregung sah er sich noch die Schultern des Menschen an: sie waren nicht breit. Auch äußerte die Umgebung sich mißbilligend. Da ging Diederich vor. Mit seinem Bauch drängte er den Feind gegen die Mauer und schlug auf den Künstlerhut ein. Andere knufften mit. Der Hut lag schon am Boden und bald auch der Mensch. Im Weitergehen bemerkte Diederich zu seinen Mitkämpfern:

„Der hat sicher nicht gedient! Schmisse hat er auch keine!“

Der alte Herr mit Bartkoteletts und Eisernem Kreuz war auch wieder da, er drückte Diederich die Hand.

„Brav, junger Mann, brav!“

„Soll man da nicht wütend werden?“ erklärte Diederich, noch keuchend. „Wenn der Mensch uns den historischen Moment verekeln will?“

„Sie haben gedient?“ fragte der alte Herr.

„Ich wäre am liebsten ganz dabei geblieben“, sagte Diederich.

„Na ja, Sedan ist nicht alle Tage“ – der alte Herr betupfte sein Eisernes Kreuz. „Das waren wir!“

Diederich reckte sich, er zeigte auf das bezwungene Volk und den Kaiser.

„Das ist doch gerade so gut wie Sedan!“

„Na ja“, sagte der alte Herr.

„Gestatten Sie mal, sehr geehrter Herr“, rief jemand und schwenkte sein Notizbuch. „Wir müssen das bringen. Stimmungsbild, verstehnse? Sie haben wohl einen Genossen verwalkt?“

„Kleinigkeit“ – Diederich keuchte noch immer. „Meinetwegen könnt’ es jetzt gleich losgehen gegen den inneren Feind. Unseren Kaiser haben wir mit.“

„Fein“, sagte der Reporter und schrieb. „In der wildbewegten Menge hört man Leute aller Stände der treuesten Anhänglichkeit und dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Allerhöchsten Person Ausdruck geben.“

„Hurra!“ schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schrie, gelangte er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch, höher und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fußspitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen Köpfen, in einer Sphäre der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere äußersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein [pg 66]verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisation und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe!

... Einer der Schutzleute, deren Kette das Tor absperrte, stieß Diederich vor die Brust, daß ihm der Atem ausblieb; er aber hatte die Augen so voll Siegestaumel, als reite er selbst über alle diese Elenden hinweg, die gebändigt ihren Hunger verschluckten. Ihm nach! Dem Kaiser nach! Alle fühlten wie Diederich. Eine Schutzmannskette war zu schwach gegen so viel Gefühl; man durchbrach sie. Drüben stand eine zweite. Man mußte abbiegen, auf Umwegen den Tiergarten erreichen, einen Durchschlupf finden. Wenige fanden ihn; Diederich war allein, als er auf den Reitweg hinausstürzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gefährlichsten Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder: der Kaiser vom Pferd herunter, blitzte ihn an, er durchbohrte ihn. Diederich riß den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu plötzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tümpel, die Beine in die Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan! Der Kaiser wandte sich nach seinen Begleitern um, schlug sich auf den Schenkel und lachte. Diederich aus seinem Tümpel sah ihm nach, den Mund noch offen.

Der Untertan

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