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III.

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Um weiteren Belästigungen durch die Familie Göppel aus dem Wege zu gehen, reiste er sogleich ab. Die Hitze machte das Kupee zu einem unheimlichen Aufenthalt. Diederich, der allein war, zog nacheinander den Rock, die Weste und die Schuhe aus. Einige Stationen vor Netzig stieg noch jemand ein: zwei fremd aussehende Damen, die durch den Anblick von Diederichs Flanellhemd beleidigt schienen. Er seinerseits fand sie widerwärtig elegant. Sie unternahmen es, in einer unverständlichen Sprache eine Beschwerde an ihn zu richten, worauf er die Achseln zuckte und die Füße in den Socken auf die Bank legte. Sie hielten sich die Nase zu und stießen Hilferufe aus. Der Schaffner erschien, der Zugführer selbst, aber Diederich hielt ihnen sein Billett zweiter Klasse hin und verteidigte sein Recht. Er gab dem Beamten sogar zu verstehen, er möge sich nur nicht die Zunge verbrennen, man könne nie wissen, mit wem man es zu tun habe. Als er dann den Sieg erstritten hatte und die Damen abgezogen waren, kam statt ihrer eine andere. Diederich sah ihr entschlossen entgegen, aber sie zog einfach aus ihrem Beutel eine Wurst und aß sie aus der Hand, wobei sie ihm zulächelte. Da rüstete er ab, erwiderte, breit glänzend, ihre Sympathie und sprach sie an. Es stellte sich heraus, daß sie aus Netzig war. Er nannte seinen Namen, woraus sie frohlockte, sie seien alte Bekannte! „Nun?“ Diederich betrachtete sie forschend: das dicke, rosige Gesicht mit dem fleischigen Mund und der kleinen, frech eingedrückten Nase; das weißliche Haar, nett glatt [pg 108]und ordentlich, den Hals, der jung und fett war, und in den Halbhandschuhen die Finger, die die Wurst hielten und selbst rosigen Würstchen glichen. „Nein,“ entschied er, „kennen tu’ ich Sie nicht, aber kolossal appetitlich sind Sie. Wie ein frischgewaschenes Schweinchen.“ Und er griff ihr um die Taille. Im selben Augenblick hatte er eine Ohrfeige. „Die sitzt“, sagte er und rieb sich. „Haben Sie mehr solche zu vergeben?“ – „Es langt für alle Frechmöpse.“ Sie lachte aus der Kehle und zwinkerte ihn mit ihren kleinen Augen unzüchtig an. „Ein Stück Wurst können Sie haben, aber sonst nichts.“ Ohne zu wollen, verglich er ihre Art, sich zu wehren, mit Agnes’ Hilflosigkeit, und er sagte sich: „So eine könnte man getrost heiraten.“ Schließlich nannte sie selbst ihren Vornamen, und als er noch immer nicht weiterfand, fragte sie nach seinen Schwestern. Plötzlich rief er: „Guste Daimchen!“ Und beide schüttelten sich vor Freude. „Sie haben mir doch immer Knöpfe geschenkt von den Lumpen in Ihrer Papierfabrik. Das vergess’ ich Ihnen nie, Herr Doktor! Wissen Sie, was ich mit den Knöpfen gemacht hab’? Die hab’ ich gesammelt, und wenn meine Mutter mir mal Geld für Knöpfe gab, hab’ ich mir Bonbons gekauft.“

„Praktisch sind Sie auch!“ Diederich war entzückt. „Und dann sind Sie immer zu uns über die Gartenmauer geklettert, Sie kleine Göre. Hosen hatten Sie meistenteils keine an, und wenn der Rock ’raufrutschte, kriegte man hinten was zu sehen.“

Sie kreischte; ein feiner Mann habe für so was kein Gedächtnis. „Jetzt muß es aber noch schöner geworden sein“, setzte Diederich noch hinzu. Sie ward plötzlich ernst.

„Jetzt bin ich verlobt.“

Mit dem Wolfgang Buck war sie verlobt! Diederich [pg 109]verstummte, mit enttäuschter Miene. Dann erklärte er zurückhaltend, er kenne Buck. Sie sagte vorsichtig: „Sie meinen wohl, er ist ein bißchen überspannt? Aber die Bucks sind auch eine sehr feine Familie. Na ja, in anderen Familien ist wieder mehr Geld“, setzte sie hinzu. Hierdurch betroffen, sah Diederich sie an. Sie zwinkerte. Er wollte eine Frage stellen; aber er hatte den Mut verloren.

Kurz vor Netzig fragte Fräulein Daimchen: „Und Ihr Herz, Herr Doktor, ist noch frei?“

„Um die Verlobung bin ich noch herumgekommen.“ Er nickte gewichtig. „Ach! Das müssen Sie mir erzählen“, rief sie. Aber sie fuhren schon ein. „Wir sehen uns hoffentlich bald wieder“, schloß Diederich. „Ich kann Ihnen nur sagen, ein junger Mann kommt manchmal in verdammt brenzlige Sachen hinein. Für ein Ja oder Nein ist das Leben verpfuscht.“

Seine beiden Schwestern standen am Bahnhof. Wie sie Guste Daimchen erblickten, verzogen sie zuerst das Gesicht, dann aber stürzten sie herbei und halfen das Gepäck tragen. Sie erklärten ihren Eifer, kaum daß sie mit Diederich allein waren. Guste hatte nämlich geerbt, sie war Millionärin! Darum also! Er war erschrocken vor Hochachtung.

Die Schwestern erzählten das Nähere. Ein alter Verwandter in Magdeburg hatte Guste all das Geld vermacht, dafür, daß sie ihn gepflegt hatte. „Und sie hat es sich verdient,“ bemerkte Emmi, „er soll zuletzt furchtbar unappetitlich gewesen sein.“ Magda setzte hinzu: „Und sonst kann man sich natürlich auch noch allerlei denken, denn Guste war doch ein ganzes Jahr mit ihm allein.“

Sofort bekam Diederich einen roten Kopf. „So was sagt ein junges Mädchen nicht!“ schrie er entrüstet; und [pg 110]als Magda beteuerte, das sagten auch Inge Tietz, Meta Harnisch und überhaupt alle: „Dann fordere ich euch energisch auf, dem Gerede entgegenzutreten.“ Es entstand eine Pause; darauf sagte Emmi: „Guste ist nämlich schon verlobt.“ – „Das weiß ich“, knurrte Diederich.

Bekannte kamen ihnen entgegen, Diederich hörte sich „Herr Doktor“ nennen, erglänzte stolz dabei und ging weiter zwischen Emmi und Magda, die von der Seite seine neue Barttracht bewunderten. Zu Hause empfing Frau Heßling den Sohn mit ausgebreiteten Armen und einem Aufschrei, wie von einer Verschmachtenden, die gerade noch gerettet wird. Und was Diederich nicht vorausgesehen hatte: auch er weinte. Auf einmal empfand er die feierliche Schicksalsstunde, in der er das erstemal als wirkliches Haupt der Familie ins Zimmer trat, „fertig“, mit dem Doktortitel ausgezeichnet und bestimmt, Fabrik und Familie nach seiner überlegenen Einsicht zu lenken. Er gab Mutter und Schwestern die Hände, allen zugleich, und sagte mit ernster Stimme: „Ich werde mir immer bewußt bleiben, daß ich meinem Gott für euch Rechenschaft schulde.“

Aber Frau Heßling war in Unruhe. „Bist du bereit, mein Sohn?“ fragte sie. „Unsere Leute erwarten dich.“ Diederich trank sein Bier aus und ging, an der Spitze der Seinen, hinunter. Der Hof war sauber gescheuert, den Eingang der Fabrik umrahmten Kränze und beschrieben eine Schleife um die Inschrift „Willkommen!“ Davor stand der alte Buchhalter Sötbier und sagte: „Na guten Tag, Herr Doktor. Ich bin nicht ’raufgekommen, weil ich noch was zu tun hatte.“

„Heute hätten Sie das auch lassen können“, erwiderte Diederich und ging an Sötbier vorbei. Drinnen im [pg 111]Lumpensaal fand er die Leute. Alle standen sie in einem Haufen zusammen: die zwölf Arbeiter, die die Papiermaschine, den Holländer und die Schneidemaschine bedienten, und die drei Kontoristen, samt den Frauen, deren Tätigkeit das Sortieren der Lumpen war. Die Männer räusperten sich, man fühlte eine Pause, bis mehrere der Frauen ein kleines Mädchen hinausschoben, das einen Blumenstrauß vor sich hinhielt und mit einer Klarinettenstimme dem Herrn Doktor Glück und Willkommen wünschte. Diederich nahm mit gnädiger Miene den Strauß; nun war es an ihm, sich zu räuspern. Er wandte sich nach den Seinen um, dann sah er den Leuten scharf in die Augen, allen nacheinander, auch dem schwarzbärtigen Maschinenmeister, obwohl der Blick des Mannes ihm peinlich war – und begann:

„Leute! Da ihr meine Untergebenen seid, will ich euch nur sagen, daß hier künftig forsch gearbeitet wird. Ich bin gewillt, mal Zug in den Betrieb zu bringen. In der letzten Zeit, wo hier der Herr gefehlt hat, da hat mancher von euch vielleicht gedacht, er kann sich auf die Bärenhaut legen. Das ist aber ein gewaltiger Irrtum, ich sage das besonders für die alten Leute, die noch von meinem seligen Vater her dabei sind.“

Mit erhobener Stimme, noch schneidiger und abgehackter; und dabei sah er den alten Sötbier an:

„Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.“

Er versuchte, seine Augen blitzen zu lassen, sein Schnurrbart sträubte sich noch höher.

„Einer ist hier der Herr, und das bin ich. Gott und meinem Gewissen allein schulde ich Rechenschaft. Ich werde euch stets mein väterliches Wohlwollen entgegenbringen, Umsturzgelüste aber scheitern an meinem unbeugsamen Willen. Sollte sich ein Zusammenhang irgendeines von euch –“

Er faßte den schwarzbärtigen Maschinenmeister ins Auge, der ein verdächtiges Gesicht machte.

„– mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so zerschneide ich zwischen ihm und mir das Tischtuch. Denn für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Feind meines Betriebes und Vaterlandsfeind ... So, nun geht wieder an eure Arbeit und überlegt euch, was ich euch gesagt habe.“

Er machte schroff kehrt und ging schnaufend davon. In dem Schwindelgefühl, das seine starken Worte ihm erregt hatten, erkannte er kein einziges Gesicht mehr. Die Seinen folgten ihm, bestürzt und ehrfurchtsvoll, indes die Arbeiter einander noch lange stumm ansahen, bevor sie nach den Bierflaschen griffen, die zur Feier des Tages bereitstanden.

Droben legte Diederich vor Mutter und Schwestern seine Pläne dar. Die Fabrik war zu vergrößern, das hintere Nachbarhaus anzukaufen. Man mußte konkurrenzfähig werden. Der Platz an der Sonne! Der alte Klüsing, draußen in der Papierfabrik Gausenfeld, bildete sich wohl ein, er werde ewig das ganze Geschäft machen?... Endlich tat Magda die Frage, woher er denn das Geld nehmen wolle; aber Frau Heßling schnitt ihr das vorlaute Wort ab. „Dein Bruder weiß das besser als wir.“ Vorsichtig setzte sie hinzu: „Manches Mädchen wäre glücklich, wenn sie sein Herz gewinnen könnte“ – und sie hielt, seines Zornes gewärtig, die Hand vor den Mund. Aber [pg 113]Diederich errötete nur. Da wagte sie, ihn zu umarmen. „Es wäre mir ja ein so entsetzlicher Schmerz,“ schluchzte sie, „wenn mein Sohn, mein lieber Sohn, aus dem Hause ginge. Für eine Witwe ist es doppelt schwer. Die Frau Oberinspektor Daimchen kriegt es nun auch zu fühlen, denn ihre Guste heiratet ja den Wolfgang Buck.“

„Oder auch nicht“, sagte Emmi, die Ältere. „Denn der Wolfgang soll doch was mit einer Schauspielerin haben.“ Frau Heßling vergaß ganz, die Tochter zu berufen. „Aber wo doch so viel Geld da ist! Eine Million, sagen die Leute!“

Diederich stieß verachtungsvoll hervor, den Buck kenne er, der sei nicht normal. „Es liegt wohl in der Familie. Der Alte hat doch auch schon eine Schauspielerin geheiratet.“

„Man sieht die Folgen“, sagte Emmi. „Denn von seiner Tochter, der Frau Lauer, hat man sich allerlei erzählt.“

„Kinder!“ bat Frau Heßling ängstlich. Aber Diederich beruhigte sie.

„Laß nur, Mutter, es wird Zeit, daß man der Katze die Schelle umhängt. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß die Bucks ihre Stellung hier in der Stadt schon längst nicht mehr verdienen. Sie sind eine verrottete Familie.“

„Die Frau von Moritz, dem Ältesten,“ sagte Magda, „ist einfach eine Bäuerin. Neulich waren sie mal in der Stadt, er ist auch schon ganz verbauert.“ Emmi empörte sich.

„Na, und der Bruder des alten Herrn Buck? Immer elegant, und die fünf unverheirateten Töchter! Sie lassen sich Suppe aus der Volksküche holen, ich weiß es positiv.“

„Die Volksküche hat ja der Herr Buck gegründet“, erklärte Diederich. „Und die Fürsorge für die entlassenen Sträflinge auch, und was sonst noch. Ich möchte wissen, wann er eigentlich Zeit hat, an seine eigenen Geschäfte zu denken.“

„Es würde mich nicht wundern,“ sagte Frau Heßling, „wenn nicht mehr viel da wäre. Obwohl ich vor dem Herrn Buck natürlich die größte Hochachtung habe, er ist doch so angesehen.“

Diederich lachte bitter. „Warum eigentlich? In der Verehrung des alten Buck sind wir aufgezogen worden. Der große Mann von Netzig! Im Jahre achtundvierzig zum Tode verurteilt!“

„Das ist aber auch ein historisches Verdienst, sagte dein Vater immer.“

„Verdienst?“ schrie Diederich. „Wenn ich nur weiß, einer ist gegen die Regierung, ist er für mich schon erledigt. Und Hochverrat soll ein Verdienst sein?“

Und er stürzte sich, vor den erstaunten Frauen, in die Politik. Diese alten Demokraten, die noch immer das Regiment führten, waren nachgerade die Schmach von Netzig! Schlapp, unpatriotisch, mit der Regierung zerfallen! Ein Hohn auf den Zeitgeist! Weil im Reichstag der alte Landgerichtsrat Kühlemann saß, ein Freund des berüchtigten Eugen Richter, darum stockte hier das Geschäft, und niemand kriegte Geld. Natürlich, für so ein freisinniges Nest gab es weder Bahnanschlüsse noch Militär. Kein Zuzug, kein Betrieb! Die Herren im Magistrat, immer dieselben paar Familien, das kannte man, die schoben sich untereinander die Aufträge zu, und für andere Leute war nichts da. Die Papierfabrik Gausenfeld hatte sämtliche Lieferungen an die Stadt, denn auch ihr Besitzer Klüsing gehörte zu der Bande des alten Buck!

Magda wußte noch etwas. „Neulich ist die Liebhabervorstellung im Bürgerkränzchen abgesagt worden, weil dem Herrn Buck seine Tochter, Frau Lauer, krank war. Das ist doch Popismus.“

„Nepotismus heißt es“, sagte Diederich streng. Er rollte die Augen. „Und dabei ist der Herr Lauer ein Sozialist. Aber der Herr Buck mag sich hüten! Wir werden ihm auf die Finger sehen!“

Frau Heßling hob flehend die Hände. „Mein lieber Sohn, wenn du jetzt in der Stadt deine Besuche machst, versprich mir, daß du auch zum Herrn Buck gehst. Er ist nun mal so einflußreich.“

Aber Diederich versprach nichts. „Andere wollen auch ’ran!“ rief er.

Trotzdem schlief er in dieser Nacht unruhig. Schon um sieben ging er in die Fabrik hinunter und schlug sofort Lärm, weil noch die Bierflaschen von gestern umherlagen. „Hier wird nicht gesoffen, hier ist keine Kneipe. Herr Sötbier, das steht doch wohl im Reglement.“ – „Reglement?“ sagte der alte Buchhalter. „Wir haben gar keins.“ Diederich war sprachlos; er schloß sich mit Sötbier ins Kontor ein. „Kein Reglement? Dann wundert mich allerdings gar nichts mehr. Was sind das für lächerliche Bestellungen, mit denen Sie sich da abgeben?“ – und er warf die Briefe auf dem Pult umher. „Es scheint höchste Zeit gewesen zu sein, daß ich eingreife. Das Geschäft versumpft in Ihren Händen.“

„Versumpfen, junger Herr?“

„Ich bin für Sie der Herr Doktor!“ Und er verlangte, daß man einfach alle anderen Fabriken unterbieten solle.

„Das halten wir nicht aus“, sagte Sötbier. „Überhaupt wären wir gar nicht imstande, so große Aufträge auszuführen wie Gausenfeld.“

„Und Sie wollen ein Geschäftsmann sein? Dann stellen wir eben mehr Maschinen ein.“

„Das kostet Geld“, sagte Sötbier.

„Dann nehmen wir welches auf! Ich werde hier Schneid hineinbringen. Sie sollen sich wundern. Wenn Sie mich nicht unterstützen wollen, mache ich es allein.“

Sötbier wiegte den Kopf. „Mit Ihrem Vater, junger Herr, war ich immer einig. Wir haben zusammen das Geschäft in die Höhe gebracht.“

„Jetzt ist eine andere Zeit, merken Sie sich das. Ich bin mein eigener Geschäftsführer.“

Sötbier seufzte: „Das ist die stürmische Jugend“ – indes Diederich schon die Tür zuwarf. Er durchmaß den Raum, worin die mechanische Trommel, laut schlagend, die Lumpen in Chlor wusch, und wollte das Zimmer des großen Kochholländers betreten. Im Eingang kam ihm unvermutet der schwarzbärtige Maschinenmeister entgegen. Diederich zuckte zusammen, fast hätte er dem Arbeiter Platz gemacht. Dafür rannte er ihn mit der Schulter beiseite, bevor der Mann ausweichen konnte. Schnaufend sah er der Arbeit des Holländers zu, dem Drehen der Walze, dem Schneiden der Messer, das den Stoff in Fasern zerteilte. Grinsten ihn die Leute, die die Maschine bedienten, nicht etwa von der Seite an, weil er vor dem schwarzen Kerl erschrocken war? „Der Kerl ist ein frecher Hund! Er muß ’raus!“ Ein animalischer Haß stieg in Diederich herauf, der Haß seines blonden Fleisches gegen den mageren Schwarzen, den Menschen von einer anderen Rasse, die er gern für niedriger gehalten hätte und die ihm unheimlich schien. Diederich fuhr auf.

„Die Walze ist falsch gestellt, die Messer arbeiten schlecht!“ Da die Leute ihn nur ansahen, schrie er: „Maschinenmeister!“ Und als der Schwarzbärtige eintrat: „Sehen Sie sich die Schweinerei mal an! Die Walze ist viel zu tief auf die Messer gesenkt, sie zerschnei[pg 117]den mir das ganze Zeug. Ich mache Sie verantwortlich für den Schaden!“

Der Mann beugte sich über die Maschine. „Schaden ist keiner da“, sagte er ruhig, aber Diederich wußte schon wieder nicht, ob er unter seinem schwarzen Bart nicht feixte. Der Blick des Maschinenmeisters hatte etwas düster Höhnisches, Diederich ertrug ihn nicht, er gab es auf zu blitzen und warf nur die Arme. „Ich mache Sie verantwortlich!“

„Was ist denn los?“ fragte Sötbier, der den Lärm gehört hatte. Dann erklärte er dem Herrn, daß der Stoff durchaus nicht zu kleinfaserig geschnitten werde, und daß es immer so gemacht worden sei. Die Arbeiter nickten mit den Köpfen, der Maschinenmeister stand gelassen dabei. Diederich fühlte sich einem Kompetenzstreit nicht gewachsen, er schrie noch: „Dann wird es künftig gefälligst anders gemacht!“ und kehrte plötzlich um.

Er gelangte in den Lumpensaal, und er gab sich Haltung, indem er fachkundig die Frauen überwachte, die auf den Siebplatten der langen Tische die Lumpen sortierten. Als eine kleine dunkeläugige es unternahm, ihn aus ihrem bunten Kopftuch heraus ein wenig anzulächeln, prallte sie gegen eine so harte Miene, daß sie erschrak und sich duckte. Farbige Fetzen quollen aus den Säcken, das Getuschel der Frauen verstummte unter dem Blick des Herrn, und in der warmen, dumpfigen Luft war nichts mehr zu vernehmen als das leise Rattern der Sensen, die in die Tische gerammt, die Knöpfe abschnitten. Aber Diederich, der die Heizungsrohre untersuchte, hörte etwas Verdächtiges. Er beugte sich hinter einen Haufen Säcke – und fuhr zurück, errötet und mit zitterndem Schnurrbart. „Nun hört alles auf!“ schrie er, „’rauskommen!“ Ein [pg 118]junger Arbeiter kroch hervor. „Das Frauenzimmer auch!“ schrie Diederich. „Wird’s bald?“ Und, als endlich das Mädchen sich zeigte, stemmte er die Fäuste in die Hüften. Hier ging es ja heiter zu! Seine Fabrik war nicht nur eine Kneipe, sondern noch ganz was anderes! Er zeterte, daß alles zusammenlief. „Na, Herr Sötbier, dies ist wohl auch immer so gemacht worden? Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Erfolgen. Also die Leute sind gewohnt, die Arbeitszeit zu benutzen, um sich hinter den Säcken zu amüsieren. Wie kommt der Mann hier herein?“ Es sei seine Braut, sagte der junge Mensch. „Braut? Hier gibt es keine Braut, hier gibt es nur Arbeiter. Ihr beide stehlt mir die Arbeitszeit, die ich euch bezahle. Ihr seid Schweine und außerdem Diebe. Ich schmeiß’ euch ’raus, und ich zeig’ euch an, wegen öffentlicher Unzucht!“

Er sah herausfordernd umher.

„Deutsche Zucht und Sitte verlang’ ich hier. Verstanden?“ Da traf er den Maschinenmeister. „Und ich werde sie durchführen, auch wenn Sie da ein Gesicht schneiden!“ schrie er.

„Ich habe kein Gesicht geschnitten“, sagte der Mann ruhig. Aber Diederich war nicht länger zu halten. Endlich konnte er ihm etwas nachweisen!

„Ihr Benehmen ist mir schon längst verdächtig! Sie tun Ihren Dienst nicht, sonst hätte ich die beiden Leute nicht abgefaßt.“

„Ich bin kein Aufpasser“, warf der Mann dazwischen.

„Sie sind ein widersetzlicher Bursche, der die ihm unterstellten Leute an Zuchtlosigkeit gewöhnt. Sie arbeiten für den Umsturz! Wie heißen Sie überhaupt?“

„Napoleon Fischer“, sagte der Mann. Diederich stockte.

„Nap–. Auch das noch! Sie sind Sozialdemokrat?“

„Jawohl.“

„Dachte ich mir. Sie sind entlassen.“

Er wandte sich nach den Leuten um: „Merkt euch das!“ – und verließ schroff den Raum. Auf dem Hof lief Sötbier ihm nach. „Junger Herr!“ Er war in großer Aufregung und wollte nichts sagen, bevor sie nicht die Tür des Privatkontors hinter sich geschlossen hatten. „Junger Herr,“ sagte der Buchhalter, „das geht nicht, der Mann ist ein Organisierter.“ – „Deswegen soll er ’raus“, erwiderte Diederich. Sötbier setzte auseinander, daß das nicht gehe, weil dann alle die Arbeit niederlegen würden. Diederich wollte es nicht begreifen. Waren denn alle organisiert? Nein. Nun also. Aber, erklärte Sötbier, sie hatten Furcht vor den Roten, sogar auf die alten Leute war kein Verlaß mehr.

„Ich schmeiß’ sie ’raus!“ rief Diederich. „Samt und sonders, mit Kind und Kegel!“

„Wenn wir dann nur andere kriegten“, sagte Sötbier und sah unter seinem grünen Augenschirm mit einem dünnen Lächeln dem jungen Herrn zu, der vor Zorn gegen die Möbel anrannte. Er schrie:

„Bin ich in meiner Fabrik der Herr oder nicht? Dann will ich doch sehen –“

Sötbier ließ ihn austoben, dann sagte er: „Herr Doktor brauchen dem Fischer gar nichts zu sagen, er geht uns nicht fort, er weiß ja, daß wir davon zu viele Scherereien hätten.“

Diederich bäumte sich nochmals auf.

„So. Ich brauch’ ihn also nicht zu bitten, daß er die Gnade hat und bleibt? Der Herr Napoleon! Ich brauch’ ihn nicht für Sonntag zum Mittagessen einzuladen? Es wäre auch zuviel Ehre für mich!“

Der Kopf war ihm rot angeschwollen, er fand das Zimmer zu eng und riß die Tür auf. Der Maschinenmeister ging eben vorbei. Diederich sah ihm nach, der Haß gab ihm deutlichere Sinneseindrücke als sonst, er bemerkte gleichzeitig die krummen, mageren Beine des Menschen, seine knochigen Schultern mit den Armen, die vornüberhingen – und nun der Maschinenmeister mit den Leuten sprach, sah er seine starken Kiefern arbeiten unter dem dünnen schwarzen Bart. Wie Diederich dies Mundwerk haßte, und diese knotigen Hände! Der schwarze Kerl war längst vorüber, und seine Ausdünstung roch Diederich noch immer.

„Sehn Sie mal, Sötbier, die Vorderflossen hängen ihm bis an den Boden. Gleich wird er auf allen vieren laufen und Nüsse fressen. Dem Affen werden wir ein Bein stellen, verlassen Sie sich darauf! Napoleon! So ein Name ist allein schon eine Provokation. Aber er soll sich zusammennehmen, denn so viel weiß ich, daß einer von uns beiden –“ Diederich rollte die Augen: „– auf dem Platz bleiben wird.“

Der Untertan

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