Читать книгу Der Untertan - Heinrich Mann - Страница 7

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„Uff!“ machte Diederich, als er allein war. „Das wäre erledigt.“ Er sagte sich: „Es hätte ebensogut schief gehen können.“ Und mit Empörung: „So eine hysterische Person!“ Sich selbst würde sie sicher am Boot festgehalten haben. Er hätte das Bad allein nehmen müssen. Auf den ganzen Trick war sie doch nur verfallen, weil sie durchaus geheiratet werden wollte! „Die Weiber sind zu gerissen, und sie haben keine Hemmungen, da kommt unsereiner nun mal nicht mit. Diesmal hat sie mich, weiß Gott, noch ärger an der Nase herumgeführt als damals mit Mahlmann. Na, mir soll es eine Lehre für das Leben sein. Nun aber Schluß!“ Und festen Schrittes ging er zu den Neuteutonen. Fortan verbrachte er jeden Abend dort, und am Tage büffelte er für das mündliche Examen, aber zur Vorsicht nicht zu Hause, sondern im Laboratorium. Wenn er dann heimkam, ward ihm das Steigen der Stockwerke schwer, er mußte sich gestehen, daß er Herzklopfen habe. Zögernd öffnete er die Zimmertür: – nichts; und nachdem ihm anfangs leichter geworden war, kam es schließlich doch jedesmal dazu, daß er die Wirtin fragte, ob jemand dagewesen sei. Niemand war dagewesen.

Nach vierzehn Tagen aber kam ein Brief. Er hatte ihn geöffnet, bevor er es bedachte. Dann wollte er ihn ungelesen in den Schreibtisch werfen – zog ihn aber wieder hervor und hielt ihn weit fort vom Gesicht. Hastig, mit mißtrauischen Augen griff er hier und da eine Zeile heraus. „Ich bin so unglücklich ...“ „Kennen wir!“ antwortete Diederich. „Ich wage mich nicht zu Dir ...“ „Dein Glück!“ „Es ist schrecklich, daß wir uns fremd ge[pg 99]worden sind ...“ „Wenigstens siehst du es ein.“ „Verzeih mir, was geschehen ist, oder ist nichts geschehen?...“ „Gerade genug!“ „Ich kann nicht weiterleben ...“ „Fängst du schon wieder an?“ Und er schleuderte das Blatt endgültig in die Lade, zu jenem anderen, das er in einer zuchtlosen Nacht mit Überschwenglichkeiten bedeckt und zum Glück nicht abgeschickt hatte.

Eine Woche später aber, wie er in der Nacht heimkam, hörte er hinter sich Schritte, die besonders klangen. Er fuhr herum: eine Gestalt blieb stehen, die Hände ein wenig erhoben und leer vor sich hingehalten. Noch während er das Haustor aufschloß und eintrat, sah er sie im Halbdunkel dastehen. Im Zimmer machte er kein Licht. Er schämte sich, indes sie aus dem Dunkel hinaufspähte, das Zimmer zu beleuchten, das ihr gehört hatte. Es regnete. Wie viele Stunden hatte sie gewartet? Gewiß stand sie noch immer dort, mit ihrer letzten Hoffnung. Das war nicht auszuhalten! Er wollte das Fenster aufreißen – und wich zurück. Einmal fand er sich plötzlich auf der Treppe, mit dem Hausschlüssel in der Hand. Gerade gelang es ihm noch, umzukehren. Darauf schloß er ab und zog sich aus. „Mehr Haltung, mein Lieber!“ Denn diesmal wäre man aus der Sache nicht mehr leicht herausgekommen. Das Mädel war zweifellos zu bedauern, aber schließlich hatte sie es gewollt. „Vor allem habe ich Pflichten gegen mich selbst.“ – Am Morgen, schlecht ausgeschlafen, nahm er es ihr sogar sehr übel, daß sie noch einmal versucht hatte, ihn aus seiner Bahn zu reißen. Jetzt, da sie wußte, daß die Prüfung bevorstand! Solche Gewissenlosigkeit sah ihr ähnlich. Und durch die nächtliche Szene, diese Bettlerrolle im Regen, hatte ihre Gestalt nachträglich etwas Verdächtiges und Unheimliches [pg 100]bekommen. Er betrachtete sie als endgültig gesunken. „Auf keinen Fall mehr das geringste!“ beteuerte er sich, und er beschloß, noch für den kurzen Rest seines Aufenthaltes die Wohnung zu wechseln: „selbst wenn es mit einem Geldopfer verbunden sein sollte.“ Glücklicherweise suchte ein Kollege grade ein Zimmer; Diederich verlor nichts und zog sofort um, weit hinauf nach dem Norden. Kurz darauf bestand er sein Examen. Die Neuteutonia feierte ihn mit einem Frühschoppen, der bis gegen Abend dauerte. Zu Hause ward ihm gesagt, daß in seinem Zimmer ein Herr auf ihn warte. „Es wird Wiebel sein,“ dachte Diederich, „er muß mir doch Glück wünschen.“ Und von Hoffnung geschwellt: „Vielleicht ist es der Assessor von Barnim?“ Er öffnete, und er prallte zurück. Denn da stand Herr Göppel.

Auch er fand nicht gleich Worte. „Nanu, im Frack?“ sagte er dann, und zögernd: „Waren Sie vielleicht bei mir?“

„Nein“, sagte Diederich und erschrak aufs neue. „Ich habe nur meine Doktorprüfung gemacht.“

Göppel erwiderte: „Ach so, ich gratuliere.“ Dann brachte Diederich hervor: „Wie haben Sie denn meine neue Adresse gefunden?“ Und Göppel antwortete: „Ihrer früheren Wirtin haben Sie sie allerdings nicht gesagt. Aber es gibt ja auch sonst noch Mittel.“ Darauf sahen sie einander an. Göppels Stimme war ruhig gewesen, aber Diederich fühlte schreckliche Drohungen darin. Er hatte den Gedanken an die Katastrophe immer hinausgeschoben, und jetzt war sie da. Er mußte sich setzen.

„Nämlich,“ begann Göppel, „ich komme, weil es Agnes gar nicht gut geht.“

„Oh!“ machte Diederich mit verzweifelter Heuchelei. „Was fehlt ihr denn?“ Herr Göppel wiegte bekümmert [pg 101]den Kopf. „Das Herz will nicht; aber es sind natürlich nur die Nerven ... Natürlich“, wiederholte er, nachdem er vergeblich gewartet hatte, daß Diederich es wiederhole. „Und nun wird sie mir melancholisch vor Langeweile, und ich möchte sie aufheitern. Ausgehen darf sie nicht. Aber kommen Sie doch mal wieder zu uns, morgen ist Sonntag.“

„Gerettet!“ fühlte Diederich. „Er weiß nichts.“ Vor Freude ward er zum Diplomaten, er kratzte sich den Kopf. „Ich hatte es mir schon fest vorgenommen. Aber jetzt muß ich dringend nach Haus, unser alter Geschäftsführer ist krank. Nicht mal meinen Professoren kann ich Abschiedsbesuche machen, morgen früh reise ich gleich ab.“

Göppel legte ihm die Hand auf das Knie. „Sie sollten es sich überlegen, Herr Heßling. Seinen Freunden schuldet man manchmal auch was.“

Er sprach langsam und hatte einen so eindringlichen Blick, daß Diederich wegsehen mußte. „Wenn ich nur könnte“, stammelte er; Göppel sagte:

„Sie können. Überhaupt können Sie alles, was hier in Frage kommt.“

„Wieso?“ Diederich erstarrte im Innern. „Sie wissen wohl, wieso“, sagte der Vater; und nachdem er seinen Stuhl ein Stück zurückgeschoben hatte: „Sie denken doch hoffentlich nicht, daß Agnes mich hergeschickt hat? Im Gegenteil, ich hab’ ihr versprechen müssen, daß ich gar nichts tue und Sie ganz in Ruhe lasse. Aber dann hab’ ich mir überlegt, daß es doch eigentlich zu dumm wäre, wenn wir beide noch lange umeinander herum gehen wollten, so wie wir uns kennen, und wie ich Ihren seligen Vater gekannt habe, und bei unserer Geschäftsverbindung und so weiter.“

Diederich dachte: „Die Geschäftsverbindung ist gelöst, mein Bester.“ Er wappnete sich.

„Ich gehe gar nicht um Sie herum, Herr Göppel.“

„Na also. Dann ist ja alles in Ordnung. Ich verstehe wohl: der Sprung in die Ehe, den tut kein junger Mann, besonders heute, ohne erst mal zu scheuen. Aber wenn die Geschichte so glatt liegt wie hier, nicht wahr? Unsere Branchen greifen ineinander, und wenn Sie Ihr väterliches Geschäft ausdehnen wollen, kommt Ihnen Agnes’ Mitgift sehr gelegen.“ Und in einem Atem weiter, indes seine Augen abirrten: „Momentan kann ich zwar nur zwölftausend Mark flüssig machen, aber Zellulose kriegen Sie, soviel Sie wollen.“

„Siehst du wohl?“ dachte Diederich. „Und die zwölftausend müßtest du dir auch pumpen – wenn du sie noch kriegst.“ – „Sie haben mich mißverstanden, Herr Göppel“, erklärte er. „Ich denke nicht ans Heiraten. Dazu wären zu große Geldmittel nötig.“

Herr Göppel sagte mit angstvollen Augen und lachte dabei: „Ich kann noch ein übriges tun ...“

„Lassen Sie nur“, sagte Diederich, vornehm abwehrend.

Göppel ward immer ratloser.

„Ja, was wollen Sie dann überhaupt?“

„Ich? Gar nichts. Ich dachte, Sie wollten was, weil Sie mich besuchen.“

Göppel gab sich einen Ruck. „Das geht nicht, lieber Heßling. Nach dem, was nun mal vorgefallen ist. Und besonders, da es schon so lange dauert.“

Diederich maß den Vater, er zog die Mundwinkel herab. „Sie wußten es also?“

„Nicht sicher“, murmelte Göppel. Und Diederich, von oben:

„Das hätte ich auch merkwürdig gefunden.“

„Ich habe eben Vertrauen gehabt zu meiner Tochter.“

„So irrt man sich“, sagte Diederich, zu allem entschlossen, womit er sich wehren konnte. Göppels Stirn fing an, sich zu röten. „Zu Ihnen hab’ ich nämlich auch Vertrauen gehabt.“

„Das heißt: Sie hielten mich für naiv.“ Diederich schob die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich zurück.

„Nein!“ Göppel sprang auf. „Aber ich hielt Sie nicht für den Schubbejack, der Sie sind!“

Diederich erhob sich mit formvoller Ruhe. „Geben Sie Satisfaktion?“ fragte er. Göppel schrie:

„Das möchten Sie wohl! Die Tochter verführen und den Vater abschießen! Dann ist Ihre Ehre komplett!“

„Davon verstehen Sie nichts!“ Auch Diederich fing an, sich aufzuregen. „Ich habe Ihre Tochter nicht verführt. Ich habe getan, was sie wollte, und dann war sie nicht mehr loszuwerden. Das hat sie von Ihnen.“ Mit Entrüstung: „Wer sagt mir, daß Sie sich nicht von Anfang an mit ihr verabredet haben? Dies ist eine Falle!“

Göppel hatte ein Gesicht, als wollte er noch lauter schreien. Plötzlich erschrak er, und mit seiner gewöhnlichen Stimme, nur daß sie zitterte, sagte er: „Wir geraten zu sehr in Feuer, dafür ist die Sache zu wichtig. Ich habe Agnes versprochen, daß ich ruhig bleiben will.“

Diederich lachte höhnisch auf. „Sehen Sie, daß Sie schwindeln? Vorhin sagten Sie, Agnes weiß gar nicht, daß Sie hier sind.“

Der Vater lächelte entschuldigend. „Im guten einigt man sich schließlich immer. Nicht wahr, mein lieber Heßling?“

Aber Diederich fand es gefährlich, wieder gut zu werden.

„Der Teufel ist Ihr lieber Heßling!“ schrie er. „Für Sie heiß’ ich Herr Doktor!“

„Ach so“, machte Göppel, ganz starr. „Es ist wohl das erstemal, daß jemand Herr Doktor zu Ihnen sagen muß? Na, auf die Gelegenheit können Sie stolz sein.“

„Wollen Sie vielleicht auch noch meine Standesehre antasten?“ Göppel wehrte ab.

„Gar nichts will ich antasten. Ich frage mich nur, was wir Ihnen getan haben, meine Tochter und ich. Müssen Sie denn wirklich so viel Geld mithaben?“

Diederich fühlte sich erröten. Um so entschlossener ging er vor.

„Wenn Sie es durchaus hören wollen: mein moralisches Empfinden verbietet mir, ein Mädchen zu heiraten, das mir ihre Reinheit nicht mit in die Ehe bringt.“

Sichtlich wollte Göppel sich nochmals empören; aber er konnte nicht mehr, er konnte nur noch das Schluchzen unterdrücken.

„Wenn Sie heute nachmittag den Jammer gesehen hätten! Sie hat es mir gestanden, weil sie es nicht mehr aushielt. Ich glaube, nicht mal mich liebt sie mehr: nur Sie. Was wollen Sie denn, Sie sind doch der erste.“

„Weiß ich das? Vor mir verkehrte bei Ihnen ein Herr namens Mahlmann.“ Und da Göppel zurückwich, als sei er vor die Brust gestoßen:

„Nun ja, kann man das wissen? Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.“

Er sagte noch: „Kein Mensch kann von mir verlangen, daß ich so eine zur Mutter meiner Kinder mache. Dafür hab’ ich zuviel soziales Gewissen.“ Damit drehte er sich um. Er hockte nieder und legte Sachen in den Koffer, der geöffnet dastand.

Hinter sich hörte er den Vater nun wirklich schluchzen – und Diederich konnte nicht hindern, daß er selbst gerührt [pg 105]ward: durch die edel männliche Gesinnung, die er ausgesprochen hatte, durch Agnes’ und ihres Vaters Unglück, das zu heilen ihm die Pflicht verbot, durch die schmerzliche Erinnerung an seine Liebe und all diese Tragik des Schicksals ... Er hörte, gespannten Herzens, wie Herr Göppel die Tür öffnete und schloß, hörte ihn über den Korridor schleichen und das Geräusch der Flurtür. Nun war es aus – und da ließ Diederich sich vornüber fallen und weinte heftig in seinen halbgepackten Koffer hinein. Am Abend spielte er Schubert.

Damit war dem Gemüt Genüge getan, man mußte stark sein. Diederich hielt sich vor, ob etwa Wiebel jemals so sentimental geworden wäre. Sogar ein Knote ohne Komment, wie Mahlmann, hatte Diederich eine Lektion in rücksichtsloser Energie erteilt. Daß auch die anderen in ihrem Innern vielleicht doch weiche Stellen haben könnten, erschien ihm im höchsten Grade unwahrscheinlich. Nur er war, von seiner Mutter her, damit behaftet; und ein Mädel wie Agnes, die gerade so verrückt war wie seine Mutter, würde ihn ganz untauglich gemacht haben für diese harte Zeit. Diese harte Zeit: bei dem Wort sah Diederich immer die Linden mit dem Gewimmel von Arbeitslosen, Frauen, Kindern, von Not, Angst, Aufruhr – und das alles gebändigt, bis zum Hurraschreien gebändigt durch die Macht, die allumfassende, unmenschliche Macht, die mitten darin ihre Hufe wie auf Köpfe setzte, steinern und blitzend.

„Nichts zu machen“, sagte er sich, in begeisterter Unterwerfung. „So muß man sein!“ Um so schlimmer für die, die nicht so waren: sie kamen eben unter die Hufe. Hatten Göppels, Vater und Tochter, irgendeine Forderung an ihn? Agnes war großjährig, und ein Kind hatte er ihr [pg 106]nicht gemacht. Also? „Ich wäre ein Narr, wenn ich zu meinem Schaden etwas täte, wozu ich nicht gezwungen werden kann. Mir schenkt auch keiner was.“ Diederich empfand stolze Freude, wie gut er nun schon erzogen war. Die Korporation, der Waffendienst und die Luft des Imperialismus hatten ihn erzogen und tauglich gemacht. Er versprach sich, zu Haus in Netzig seine wohlerworbenen Grundsätze zur Geltung zu bringen und ein Bahnbrecher zu sein für den Geist der Zeit. Um diesen Vorsatz auch äußerlich an seiner Person kenntlich zu machen, begab er sich am Morgen darauf in die Mittelstraße zum Hoffriseur Haby und nahm eine Veränderung mit sich vor, die er an Offizieren und Herren von Rang jetzt immer häufiger beobachtete. Sie war ihm bislang nur zu vornehm erschienen, um nachgeahmt zu werden. Er ließ vermittels einer Bartbinde seinen Schnurrbart in zwei rechten Winkeln hinaufführen. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel kaum wieder. Der von Haaren entblößte Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas katerhaft Drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht.

Der Untertan

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