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II.

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Er reinigte sich notdürftig und kehrte um. Auf einer Bank saß eine Dame; Diederich ging ungern vorüber. Noch dazu starrte sie ihm entgegen. „Gans“, dachte er zornig. Da sah er, daß sie ein tief erschrockenes Gesicht hatte, und dann erkannte er Agnes Göppel.

„Eben bin ich dem Kaiser begegnet“, sagte er sofort.

„Dem Kaiser?“ fragte sie, wie aus einer anderen Welt. Er begann, unter großen, ungewohnten Gesten herauszujagen, was ihn erstickte. Unser herrlicher junger Kaiser, ganz allein unter rasenden Aufrührern! Ein Café hatten sie demoliert, Diederich selbst war drin gewesen! Unter den Linden hatte er blutige Kämpfe bestanden für seinen Kaiser! Kanonen sollte man auffahren!

„Die Leute hungern wohl“, sagte Agnes schüchtern. „Es sind ja auch Menschen.“

„Menschen?“ Diederich rollte die Augen. „Der innere Feind sind sie!“

Da er Agnes wieder erschrecken sah, beruhigte er sich etwas.

„Wenn es Ihnen Vergnügen macht, daß wegen des Packs alle Straßen abgesperrt werden müssen.“

Nein, das kam Agnes sehr ungelegen. Sie hatte in der Stadt Besorgungen gehabt, und wie sie zurück nach der Blücherstraße wollte, ging kein Omnibus mehr, und nirgends kam man durch. Sie war zurückgedrängt worden bis hierher. Es war kalt und naß, ihr Vater würde sich ängstigen; was sollte sie tun? Diederich verhieß ihr, er werde es schon machen. Sie gingen zusammen weiter. [pg 68]Er wußte auf einmal nichts mehr zu sagen und wendete den Kopf umher, als suchte er den Weg. Sie waren allein zwischen kahlen Bäumen und nassem alten Laub. Wo waren die männlichen Hochgefühle von vorhin? Diederich empfand Beklommenheit, wie auf seinem letzten Spaziergang mit Agnes, als er, von Mahlmann gewarnt, auf einen Omnibus sprang, ausriß und verschwand. Gerade sagte Agnes: „Sie haben sich aber sehr, sehr lange nicht bei uns sehen lassen. Papa hat Ihnen doch geschrieben?“

Sein eigener Vater sei gestorben, sagte Diederich, betreten. Jetzt mußte Agnes zuerst ihr Beileid ausdrücken, dann fragte sie weiter: warum er damals plötzlich fortgeblieben sei, vor drei Jahren.

„Nicht wahr? Es sind schon fast drei Jahre.“

Diederich bekam Festigkeit. Das Verbindungsleben habe ihn völlig in Anspruch genommen. Dort herrsche nämlich eine verdammt strenge Zucht. „Und dann habe ich meiner Wehrpflicht genügt.“

„Oh!“ – Agnes sah ihn an, „was aus Ihnen alles geworden ist! Und jetzt sind Sie wohl schon Doktor?“

„Das soll jetzt kommen.“

Er sah unzufrieden geradeaus. Seine Schmisse, seine stattliche Breite, alle seine wohlerworbene Männlichkeit: für sie war das nichts? Sie bemerkte es gar nicht?

„Aber Sie“, sagte er plump. In ihr blasses, so schmales Gesicht stieg eine ganz dünne Röte, bis auf den Sattel der kleinen eingedrückten Nase mit den Sommersprossen.

„Ja. Mir geht es manchmal nicht gut, aber es wird schon wieder besser werden.“

Diederich bereute.

„Ich meinte doch natürlich, daß Sie noch hübscher geworden sind“ – und er betrachtete ihr rotes Haar, das [pg 69]unter dem Hut hervorquoll, noch dicker als früher, weil ihr Gesicht so klein geworden war. Dabei erinnerte er sich seiner Demütigungen von damals und wie anders die Dinge jetzt lagen. Herausfordernd sagte er:

„Wie geht es denn Herrn Mahlmann?“

Agnes bekam eine wegwerfende Miene.

„Denken Sie an den noch? Wenn ich den mal wiedersähe, wär’s mir gleich.“

„So? Aber er hat ein Patentbureau und könnte ganz gut heiraten.“

„Wennschon.“

„Früher interessierten Sie sich doch für ihn.“

„Woraus schließen Sie das?“

„Er schenkte Ihnen immer etwas.“

„Ich hätte es lieber nicht angenommen; aber dann –“ sie sah auf den Weg, auf das nasse Laub vom Vorjahr, „dann hätte ich auch Ihre Geschenke nicht annehmen dürfen.“

Darauf schwieg sie erschrocken. Diederich fühlte, daß etwas Schweres geschehen war, und schwieg auch.

„Das war doch nicht der Rede wert,“ stieß er endlich heraus, „ein paar Blumen.“ Und mit wiedergekehrter Entrüstung: „Mahlmann hat Ihnen sogar ein Armband geschenkt.“

„Ich trage es niemals“, sagte Agnes. Er hatte auf einmal Herzklopfen, er brachte hervor: „Und wenn es von mir gewesen wäre?“

Stille; er hielt den Atem an. Ganz leise kam es von ihr her:

„Dann ja.“

Darauf gingen sie plötzlich rascher und ohne mehr zu sprechen. Sie kamen vor das Brandenburger Tor, sahen die Linden bedrohlich von Polizei erfüllt, eilten vorbei und [pg 70]bogen in die Dorotheenstraße. Hier war es wenig belebt, Diederich verlangsamte den Schritt, er fing an zu lachen.

„Das ist eigentlich hochkomisch. Was Mahlmann Ihnen nämlich schenkte, war mit meinem Geld bezahlt. Er nahm mir ja alles ab, ich war noch ein ganz grüner Junge.“

Sie blieb stehen. „Oh!“ – und sie sah ihn an, ihre goldbraunen Augen zitterten. „Das ist schrecklich. Können Sie mir das verzeihen?“

Er lächelte überlegen. Das seien alte Geschichten, Jugendtorheiten.

„Nein, nein“, sagte sie verstört.

Die Hauptsache, meinte er, sei jetzt, wie sie nach Hause komme. Hier ging es schon wieder nicht weiter. Omnibusse waren auch nicht zu sehen. „Es tut mir leid, aber Sie werden sich meine Gesellschaft noch länger gefallen lassen müssen. Übrigens wohne ich gleich hier. Sie könnten mit hinaufkommen, da wären Sie wenigstens im Trockenen. Aber natürlich, eine junge Dame darf das nicht.“

Sie hatte noch immer diesen flehenden Blick.

„Sie sind so gut“, sagte sie, stärker atmend. „Sie sind so edel.“ Und da sie schon das Haus betraten: „Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben?“

„Ich weiß, was ich der Ehre meiner Korporation schulde“, erklärte Diederich.

Sie mußten an der Küche vorbei, aber es war niemand darin. „Legen Sie doch so lange ab“, sagte Diederich gnädig. Er stand da, ohne Agnes anzusehen, und trat, während sie den Hut abnahm, von einem Fuß auf den anderen.

„Ich muß die Wirtin suchen, damit sie Tee macht.“ Er wandte sich schon nach der Tür, zuckte aber zurück: Agnes hatte seine Hand ergriffen und küßte sie! „Aber Fräulein [pg 71]Agnes“, murmelte er, furchtbar erschrocken, und legte ihr, wie tröstend, den Arm um ihre Schulter; da sank sie gegen die seine. Er drückte seinen Mund in ihr Haar, ziemlich tief, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Unter seinem Druck bebte und flog ihr Körper, als würde er geschlagen. Er fühlte sich in der dünnen Bluse lau und feucht an. Diederich ward es heiß, er küßte Agnes auf den Hals. Und plötzlich kam ihr Gesicht auf ihn zu: mit offenem Mund, halbgeschlossenen Augen und mit einem Ausdruck, den er nie gesehen hatte und der ihm schwindlig machte. „Agnes! Agnes, ich liebe dich“, sagte er wie aus tiefer Not. Sie antwortete nicht, aus ihrem offenen Mund kamen kleine warme Atemstöße, und er fühlte sie fallen, er trug sie, die zu zerfließen schien.

Dann saß sie auf dem Diwan und weinte. „Sei mir nicht bös, Agnes“, bat Diederich. Sie sah ihn an mit ihren nassen Augen.

„Ich weine doch vor Glück“, sagte sie. „Ich hab’ so lange auf dich gewartet.“

„Warum?“ fragte sie, da er ihre Bluse schließen wollte. „Warum deckst du es schon zu? Findest du es schon nicht mehr schön?“

Er verwahrte sich. „Ich bin mir der übernommenen Verantwortung vollkommen bewußt.“

„Verantwortung?“ sagte Agnes. „Wer hat die? Ich habe dich drei Jahre lang geliebt. Du wußtest es ja nicht. Es war wohl das Schicksal!“

Diederich, die Hände in den Taschen, bedachte, daß dies das Schicksal der leichtsinnigen Mädchen sei. Andererseits empfand er das Bedürfnis, sich ihre Versicherungen wiederholen zu lassen. „Also wirklich mich, nur mich hast du geliebt?“

„Ich sah, daß du mir nicht glaubtest. Es war schrecklich, als ich merkte, du kamst nicht mehr, und es war aus. Es war ganz schrecklich. Ich wollte dir schreiben, ich wollte zu dir gehen. Jedesmal verlor ich den Mut, weil du mich doch nicht mehr mochtest. Ich kam so herunter, daß Papa eine Reise mit mir machen mußte.“

„Wohin denn?“ fragte Diederich. Aber Agnes antwortete nicht, sie zog ihn wieder an sich.

„Sei lieb mit mir! Ich hab’ nur dich!“

Diederich dachte verlegen: „Dann hast du nicht viel.“ Agnes schien ihm verkleinert und sehr im Wert gesunken, seit er den Beweis hatte, daß sie ihn liebte. Auch sagte er sich, einem Mädchen, das so etwas tat, dürfe man nicht alles glauben.

„Und Mahlmann?“ fragte er höhnisch. „Ein bißchen war doch wohl los mit ihm.“ – „Na laß nur“, sagte er, da sie sich mit starrem Entsetzen aufrichtete. Er suchte gutzumachen. Er sei doch auch noch ganz benommen von seinem Glück.

Sehr langsam zog sie sich an. „Dein Vater wird aber gar nicht wissen, was los ist“, meinte Diederich. Sie hob nur die Schultern. Als sie fertig war und er schon die Tür geöffnet hatte, blieb sie noch stehen und sah in das Zimmer zurück, mit einem langen, angstvollen Blick.

„Vielleicht“, sagte sie, wie zu sich selbst, „komme ich nie wieder. Mir ist, als sollte ich heute nacht sterben.“

„Wieso denn?“ sagte Diederich, peinlich berührt. Statt einer Antwort ließ sie sich noch einmal an ihn hinsinken, den Mund auf seinem, die Brust auf seiner und von den Hüften zu den Füßen wie mit ihm verwachsen. Diederich wartete geduldig. Dann löste sie sich, öffnete die Augen und sagte:

„Du mußt nicht denken, daß ich etwas von dir verlange. Ich hab’ dich geliebt, nun ist alles gleich.“

Er bot ihr einen Wagen an, aber sie wollte gehen. Unterwegs fragte er nach ihrer Familie und nach anderen Bekannten. Erst am Belle-Alliance-Platz ward er unruhig, und etwas heiser brachte er hervor:

„Natürlich denke ich nicht daran, mich meinen Verpflichtungen dir gegenüber zu entziehen. Nur vorläufig: du verstehst, ich verdiene noch nichts, ich muß erst fertig sein und zu Hause mich in den Betrieb einleben ...“

Agnes erwiderte dankbar und ruhig, als habe man ihr ein Kompliment gemacht:

„Es wäre schön, wenn ich später einmal deine Frau werden könnte.“

Da sie in die Blücherstraße einbogen, blieb er stehen. Unsicher meinte er, es sei jetzt wohl besser, wenn er umkehre. Sie sagte:

„Weil uns jemand sehen könnte? Das würde gar nichts machen, denn ich muß zu Hause doch erzählen, daß ich dir begegnet bin und daß wir im Café zusammen gewartet haben, bis die Straßen wieder frei waren.“

„Na, die kann lügen“, dachte Diederich. Sie setzte hinzu:

„Für Sonntag bist du zu Mittag geladen, du mußt bestimmt kommen.“

Diesmal war es ihm zuviel, er fuhr auf. „Ich soll –? Bei euch soll ich –?“

Sie lächelte sanft und schlau. „Es geht doch nicht anders. Wenn man uns einmal sähe –: willst du denn nicht, daß ich wiederkomme?“

O ja, das wollte er. Trotzdem mußte sie ihm zureden, bis er sein Erscheinen versprach. Vor ihrem Hause verabschiedete er sich mit einer formellen Verbeugung, kehrte [pg 74]rasch um und dachte: „So ein Weib ist scheußlich raffiniert. Lange tu’ ich da nicht mit.“ Indes bemerkte er mit Unlust, daß es Zeit sei, auf die Kneipe zu gehen. Es verlangte ihn nach Hause, er wußte nicht, warum. Als er dann die Tür seines Zimmers hinter sich zugezogen hatte, blieb er davor stehen und starrte in die Dunkelheit. Plötzlich reckte er die Arme in die Höhe, wandte das Gesicht nach oben und sagte in einem langen Aufatmen:

„Agnes!“

Er fühlte sich verwandelt, leicht, wie vom Boden gehoben. „Ich bin ganz furchtbar glücklich“, dachte er, und: „So schön kommt es im ganzen Leben nicht wieder!“ Er hatte die Gewißheit, daß er bis jetzt, bis zu dieser Minute, alle Dinge falsch angesehen, falsch bewertet hatte. Dort hinten kneipten sie nun und machten sich wichtig. Juden oder Arbeitslose, was gingen einen die an, warum sollte man sie hassen? Diederich fühlte sich bereit, sie zu lieben! Hatte er denn wirklich, er selbst, den Tag in einem Gewühl von Menschen verbracht, die er für Feinde gehalten hatte? Sie waren Menschen: Agnes hatte recht! War er selbst es, der jemand um einiger Worte willen geschlagen hatte, geprahlt, gelogen, sich töricht abgearbeitet und endlich, zerrissen und sinnlos, sich in den Schmutz geworfen hatte vor einem Herrn zu Pferd, dem Kaiser, der ihn auslachte? Er erkannte, daß er, bis Agnes kam, ein hilfloses, bedeutungsloses und armes Leben geführt habe. Bestrebungen wie die eines Fremden, Gefühle, die ihn beschämten, und niemand, den er liebte – bis Agnes kam! „Agnes! Süße Agnes, du weißt ja gar nicht, wie ich dich liebhabe!“ Aber sie sollte es wissen. Er fühlte, daß er es nie wieder so werde sagen können wie in dieser Stunde, und er schrieb einen Brief. Er [pg 75]schrieb, daß auch er diese drei Jahre immer auf sie gewartet habe, und daß er keine Hoffnung gehabt habe, weil sie zu schön für ihn sei, zu fein und zu gut; daß er sich das mit Mahlmann nur eingeredet habe aus Feigheit und aus Trotz; daß sie eine Heilige sei, und nun sie zu ihm herabgestiegen, liege er zu ihren Füßen. „Hebe mich auf, Agnes, ich kann stark sein, ich fühle es, und ich will Dir mein ganzes Leben weihen!“ – Er weinte, drückte das Gesicht in das Diwankissen, worin er ihren Duft noch spürte, und unter Schluchzen, wie als Kind, schlief er ein.

Am Morgen freilich war er erstaunt und befremdet, sich nicht im Bett zu finden. Sein großes Erlebnis fiel ihm ein, ein süßer Stoß ging durch sein Blut, bis zum Herzen. Aber auch der Verdacht kam ihm, daß er sich peinliche Übertreibungen habe zuschulden kommen lassen. Er las den Brief wieder durch: das war alles recht schön, und es konnte einen auch wirklich aus der Fassung bringen, wenn man auf einmal mit so einem großartigen Mädel ein Verhältnis hatte. Wäre sie jetzt nur dagewesen, er hätte zärtlich sein wollen! Aber den Brief schickte man doch besser nicht ab. Es war unvorsichtig in jeder Beziehung. Am Ende fing Vater Göppel ihn ab ... Diederich verschloß den Brief im Schreibtisch. „An das Essen hab’ ich gestern überhaupt nicht gedacht!“ Er ließ sich ein ausgiebiges Frühstück bringen. „Und rauchen wollte ich nicht, damit ihr Geruch nicht verginge. Das ist doch Blödsinn. So darf man nicht sein.“ Er zündete eine Zigarre an und ging ins Laboratorium. Was er auf dem Herzen hatte, beschloß er statt in Worte – denn so hohe Worte waren unmännlich und unbequem – lieber in Musik auszuströmen. Er mietete ein Klavier und versuchte sich plötzlich mit viel mehr Glück als in der Klavierstunde an Schubert und Beethoven.

Am Sonntag, wie er bei Göppels klingelte, machte Agnes selbst ihm auf. „Das Mädchen kann nicht vom Herd fort“, sagte sie; aber den wahren Grund sagte ihr Blick. Aus Ratlosigkeit senkte Diederich die Augen auf das silberne Armband, womit sie klapperte, als sollte er hinsehen.

„Kennst du es nicht?“ flüsterte Agnes. Er ward rot.

„Das von Mahlmann?“

„Das von dir! Ich trag’ es zum erstenmal.“

Der Untertan

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