Читать книгу Zwischen den Rassen - Heinrich Mann - Страница 10
II
ОглавлениеHaie begleiteten das Schiff. Lola sah zu, wie Matrosen sie an Angeln herauszogen und ihnen, kaum daß der Kopf den Schiffsrand erreicht hatte, Stöcke in den Rachen und durch den ganzen Leib trieben. Als die wehrlosen Ungeheuer das Deck mit den Schwänzen peitschten und die Matrosen sich vor Freude auf die Kniee klatschten, fühlte sie lähmende Traurigkeit. Die Passagiere versammelten sich; dies war ein Fest; — und da sah Lola im Geist ein Kind zwischen die Leute drängen und mit ihnen in Freude ausbrechen: erkannte sich selbst, wie sie einst auf ihrer ersten Meerfahrt gewesen war und belauschte sich, dies unwissende, heitere und grausame Kind, mit Verachtung, Sehnsucht und einer Spur von Grauen. Nicht wahr, jetzt wird das Messer genommen und das Tier zerstückt? Richtig: sie hatte dies also auch damals erlebt. Damals gehörte es nicht zum Außerordentlichen; die Neger daheim hatten ganz ebenso grausam gehandelt an den Tieren, die sie fingen; und Lola selbst, hatte sie nicht einst eine Schlange, von der sie erschreckt worden war, ganz langsam zerschnitten, in lauter Ringe, und die Schlange lebte immer noch? Sie besah die Hand, die es getan hatte: diese selbe Hand. „Und ich denke, wenn ich der Großen Insel gedenke, nur an feurige Papierröllchen, die übers Wasser schnellten, und an den Duft der Orangenblüten! Das ist ein Irrtum. Als ich nach Europa reiste, schienen es an Bord lauter liebe Menschen, die nur darauf sannen, einander Freude zu machen. Die Wahrheit ist anders; o, was alles lese ich jetzt in den Gesichtern, die die Haie sterben sehen!“
Sie zog die Kapuze ihres Regenmantels in die Schläfen und hatte nun, über das Geländer gebeugt, nur noch ein kurzes Stück braunen Wassers vor Augen, beprickelt von Regen. „Der gute alte Herr, der auf jener Reise allen Kindern Schokolade schenkte und fast weinte, wenn man sie nicht nahm: was für ein Schuft er vielleicht war!“ Darauf bemerkte sie: „Schrecklich mißtrauisch und menschenfeindlich bin ich geworden! Wie lange lebt man auch schon!“ Ihr Mantel ward steif von Wasser; die braune, stockende Luft ließ sich schwer atmen. „So, deucht mich, ist’s jetzt immer. Als ich von Rio kam, strahlten Meer und Himmel unauslöschlich.“
Mai hatte es leichter. Mit allen war sie befreundet, erfreute sich des besten Appetits und vieler Anbeter. „Warum hältst du dich immer zurück?“ fragte sie oft. „Wie sympathisch ist Herr Soundso!“ Und Lola gab dies zu, weil die Worte, die ihre Verachtung des Herrn Soundso enthielten, ihr selbst den Hals zuschnürten. Aber war es möglich, etwas anderes zu fühlen für jemand, der unter allen Damen nur einer die Hand küßte, und zwar der, die den höchsten Titel führte? Oder für einen andern Herrn Soundso, der auch sympathisch sein sollte, und der dem Kellner nur zwei Glas Kognak eingestand, wenn er drei getrunken hatte? So war die Menschheit; um so schlimmer für den, der nicht die Gabe hatte, davon abzusehen.
„Du hast dich schwer getrennt,“ meinte Mai herzlich. „Warum warst du nicht aufrichtig mit mir? Sage doch, bitte, bitte, an wen du denkst!“
„An niemand besonders, ich versichere dich.“
Und sie versank in immer trüberen Zorn. Wär’s noch ein einzelner gewesen, an dem sie litt! Aber der, den sie zurückgelassen hatte, war nichts. Nicht seinetwegen erduldete sie nun dieselbe schwere Einsamkeit, die ihre frühen Mädchenjahre verbittert hatte. Nur erinnert hatte er sie daran, wie vor ihm andere seiner Rasse und Art, daß allein ihre Sinne einen Gefährten finden konnten; daß in keinem Lande Menschen erwüchsen, die ganz ihresgleichen waren; daß sie in der Seele allein war . . . Sie sah ins Wasser und sehnte sich: „Wer einer Heimat entgegenführe!“
Sie hatte eine gehabt: eine Wahlheimat, die Schritt für Schritt zu erobern gewesen war: ihre Kunst. Und auch aus der war sie verstoßen; denn die Branzilla saß in der Nervenheilanstalt.
Die Branzilla war eine der allerletzten Lehrerinnen des bel canto. Ein berühmter Geiger hatte zufällig Lolas Altstimme entdeckt, den Umfang und die Stärke der Stimme bestaunt; hatte Lola eine unermeßliche Zukunft verheißen und nicht geruht, bis sie zur Branzilla reiste. Wie Lola ins Zimmer trat, machte die Alte gerade ihrem Mann eine Szene: dem angebeteten Tenor von einst, der nun fett, leer und ängstlich umherschlich. Sie warf ihm seine alten Geliebten vor, das Unrecht, das er ihr bei dem und dem, vor dreißig Jahren gesungenen Duo getan habe, und daß er ihr zur Last liege. So oft Lola das Paar beisammen traf, war’s das gleiche; der Alte flüchtete, die Augen gen Himmel gerollt; — und als Lola einmal nach Beendigung der Stunde das Vorzimmer öffnete, da hing er an der Decke . . . Und nun ihre Bosheit sich auf den Mann nicht mehr ausleeren konnte, bespie die Alte damit alle Welt, vertrieb die letzten Schülerinnen, brachte Lola bis zu Tränenkrisen. Aber mochte Mai sich empören, Lola blieb ihrer Tyrannin treu, folgte ihr blindlings in alle die Hauptstädte, wo die Branzilla ehemals gefeiert worden war, und wo sie nun das unbekannte Dahinleben nicht ertrug; schlichtete die Streitigkeiten, die die Alte in den Hotels, den Geschäften und überall anzettelte; sorgte für sie; ließ sie ihre kopflosen Ungerechtigkeiten herunterkeifen und schloß den Auftritt mit einem festen und doch geduldigen „Adieu, Madame“, — worauf sie zur genauen Stunde wiederkehrte. Statt einem Gesetz, einem Befehl, die ihr Leben nicht kannte, unterwarf sie sich den Launen einer Hexe; und ihre Zickzackfahrten durch Europa waren nicht planlos, da sie hinter der herführten, in der, wie in einer Ruine, der Geist einer großen, fast schon entschwundenen Kunst hauste.
Denn das arme, täglich verwirrtere Gehirn der Branzilla schien wunderbar genesen, wenn sie den Stoff unter den Händen hatte, aus dem sie schuf. Der Stoff war die Stimme der Schülerin. Lola war sich bewußt, sie selbst sei nichts, sei nicht mehr als ein dumpfes Werkzeug, und was aus ihr werden solle, sei im Geist der Lehrerin schon aufgebaut, wie ein Tempel aus Luft, unfaßbar für jeden, vertraut nur ihr, die ihn durch eine Gebärde, ein Wort, durch einen der kindlich mystischen Ausdrücke, die die Seher finden, für eine Sekunde vor die Schülerin hinzaubern konnte, so daß Lola sah: dort hinan! Wer vermochte das noch: durch ein Wort, ein eigenes, dem nichts Wirkliches entsprach, das richtige Spiel eines Kehlkopfes bewirken! Niemand wußte mehr von dieser Kunst. Bei den Heutigen waren Lehrerinnen unbeliebt, die zwei Jahre brauchten; und die Ausbildung währte ehemals acht. Lola hätte es, einmal in der Schule der Branzilla, nicht mehr ausgehalten, sich mit einem Ungefähr zu begnügen. Sie war fremd überall, und nur mit einer alten halb Irren hielt sie Gemeinschaft; — aber eines Tages wollte sie im Besitz einer unerhörten Kunst vor die Welt hintreten!
Und in jedes Gasthaus brachte sie eine eigene Luft mit, machte jedes flüchtige Quartier heimisch, in das sie ihre Gesänge, die seit Jahren geübten, schickte. Aus der Unordnung der hastig umhergeworfenen Gegenstände, der zerstreuten Stunden, der regellosen Vergnügungen und der zufälligen Menschen rettete sie sich in den Winkel, wo das Klavier stand, wie auf ihr eigenes Stück Erde. Von hier würde sie alles Land erobern! Würde unabhängig, würde Fürstin sein, der die Herzen schlagen. Wie hochgemut und stark sie, indes die anderen, alle zum Untergang bestimmt, leere Worte redeten, Ränke, Liebeleien vergeudeten, mit sich selbst umgingen wie mit Wertlosigkeiten: wie hochgemut, stark und voll Verachtung sie an sich arbeitete! Ihre Heimat erweiterte! . . . Aber man lockte sie daraus fort; die Überflüssigen umschwärmten sie. Umsonst übte sie tagelang mit ihrem Taktzähler: der Schwarm der Festlichen übertäubte das Ticken der kleinen strengen Maschine. Eine Wallung von Leichtsinn, und Lola war mitten darin, ging unter in der Jagd der nach Freude Fiebernden. Dann trat der Mann auf: einer derer, die sie im Blut hatte, die sie nicht vermeiden konnte; — und die Kunst lag unbegreiflich dahinten . . . Eines Tages stand sie dann wieder am Klavier neben der Alten, deren Stimme hart und böse war; und der Tag hatte bleiches, schmerzendes Licht, wie einer nach durchtobter Nacht, der reuebeladen ist, und den man lieber verschliefe. Und oft, wenn so ihre Tage in einer luxuriösen Landstreicherei zerflossen, dachte sie mit Neid aller Angebundenen, Behüteten, in einen engen Kreis von Pflicht und Gemeinschaft Geschlossenen. An ihrer Stimme, die so kostbar war, trug Lola, wie jemand an einem Klumpen Gold in einer Wüste. Andere saßen in heimlicher Werkstatt und bearbeiteten ihn . . .
Und dann war die Branzilla verschwunden. Es war geschehen, wie Lola das letzte Mal sie wochenlang allein gelassen hatte. Lola hatte es mit Zorn erfahren. War denn der Rest Kraft, den die Alte ihr noch zu geben hatte, schon verbraucht? Die Branzilla mochte verrückt sein, wie sie wollte: sie blieb die einzige, die Lolas Stimme beherrschte, die ihre Stimme sah. Dazu taugte sie noch, dazu sammelte sich noch ihre Vernunft. Lola sagte dies den Leuten, die sie ihr weggenommen hatten. „Laßt sie doch verrückt sein: es ist meine Sache! Ich bin sie gewohnt, wie sie ist, und werde sie behüten. Gebt sie mir zurück!“ Umsonst: die Lehrerin blieb verloren; — und Lola wußte sogleich, nun sei’s zu Ende. Die Methode der Branzilla ließ einen unselbständig bis zuletzt. Lola war ohnmächtig ohne ihre Führerin. Der Weg zur Kunst, in diese neue Heimat, war verloren.
So, aus Ratlosigkeit, Haltlosigkeit geriet sie nach Barcelona, wieder in einen Schwarm, wieder an einen Mann; — und fuhr nun, enttäuscht und zum ersten Mal ganz hilflos, planlose Fahrten.
„Wer einer Heimat entgegenführe!“
Vom Denken, vom Begreifen und vom Sehnen war sie heiß und erregt. Aufseufzend blickte sie um sich, ohne etwas zu erkennen. Der Schiffsarzt strich in gleichen Pausen an ihr vorbei. Endlich, wie sie sich umwandte, blieb er stehen und sie mußte in seine schwermütigen Augen sehen. Ob auch sie die Gesellschaft fliehe, fragte er. Er war häßlich, und wieder nicht häßlich genug, um zu reizen. Das war, schloß Lola, sein ganzes Unglück und verschaffte seinen Augen den Anschein von Seele. Sie verlangte das Hospital zu sehen. Es sei zu traurig dort, erwiderte er, für eine junge Dame, die selbst nicht heiteren Gemütes scheine. Ob er sie unterhalten dürfe. Er begann von sich selbst zu erzählen, einfache und wahre Dinge, denen sie mit Achtung zuhören konnte. Noch mehrmals im Lauf des Abends näherte er sich, tat ihr wohl durch gütige und gelassene Rede; und so oft Lola ihn bat, ihr seine Kranken zu zeigen, weigerte er sich.
Aber das Wetter ward heller; nun stürmte es. Mai lachte mit den Fröhlichen; dann schlich sie zu Lola und flüsterte:
„Glaubst du, daß es gefährlich ist?“
Und Lola ging mit ihr, damit Mai sähe, man habe das Recht, lustig zu sein.
Die Nacht ward ausgelassen. Die Nähe Italiens, die Befriedigung, wieder in den heimischen Gewässern zu fahren, die leichte Furcht bei dem bedrohlichen Schwanken und inmitten der gemeinsamen Gefahr die Aussicht, schon morgen auseinanderzustieben, sich nie wiederzusehen: das bewirkte in allen Wohlwollen und Leichtsinn. In der Kajüte fielen die Stühle um; man taumelte einander in die Arme, um sich im Kreise zu drehen zu dem Gekratz der wackelnden Musikanten. Lola erhob ihren Kelch und trank einem zu, einem mit einer großen Habichtsnase und lustig blinzelnden Augen — einem all derer, die Mai sympathisch fand und gegen die jetzt auch Lola nichts mehr einwandte: da sah sie einen Schatten auf der Treppe. Sie ließ den Arm sinken. Das freudlose Gesicht des Doktors kam auf sie zu; mit einem Vorwurf in der Stimme und einem um Entschuldigung bittenden Lächeln fragte er:
„Wollen Sie jetzt das Hospital sehen?“
Lola fuhr zusammen, wie ertappt, wie auf einem Verrat betroffen. „Er erinnert mich daran,“ bemerkte sie, „daß wir zusammen traurig waren.“ Sie senkte den Kopf und folgte ihm. Dann, empört: „Wie darf er verlangen, daß ich es bleibe! Damit er mich trösten, mir wohltun kann. O! Alles auf dieser Welt ist Eigennutz und Grausamkeit.“
Draußen peitschte sie der Wind; das endlose Dunkel heulte um sie her; es griff nach ihr, mit den gespenstisch heraufschießenden Armen seiner Gischtwellen. Ihr Führer nahm sie bei der Hand und ließ sie über Staffeln hinabsteigen, tief in das Schiff hinein. „Da sind wir;“ und in der Tür, die er aufstieß, mischte sich Karboldunst mit dem Schiffsgeruch. „Kommen Sie nicht?“ Aber Lola spähte von der Schwelle mit Furcht durch die Kabine, die einem Schacht glich, zu den Menschen hin, die in ihren Betten, eng wie Särge, umhergeschüttelt stöhnten, und zu denen, die in Lumpen am Boden hockend, erloschene Blicke zu ihr aufhoben. Jener eine Blick aber glänzte so, daß von ihm der Raum voll eines flackernden Lichtes schien. Diese beiden Augen brannten auf unbegreifliche Weise in einem Gesicht, so alt und müde, daß vielleicht nur das rote Tuch, womit es umwickelt war, seinen auseinanderstrebenden Staub zusammenhielt.
„Wer ist das? Mein Gott?“
Der Arzt hörte sie nicht; er neigte sich über den Alten, lauschte in sein Gewimmer hinein; dann beschrieb er, langsam aufgerichtet, eine feierliche Gebärde.
„Sie werden Ihre Heimat wiedersehen. Ich werde machen, daß Sie es erleben.“
Rasch wandte er sich ab.
„Gehen wir.“
Draußen:
„Dieser Alte ist jung nach Amerika gegangen. Die Arbeit seines Lebens hat ihm so viel eingetragen, daß er vor seinem Tode nochmals die Überfahrt bezahlen konnte. Er will auf seiner Heimaterde sterben. Das ist sein Ziel. Dafür meint er nun gelebt zu haben.“
„Wird er’s erreichen, wird er?“
„Nein,“ entschied der Doktor, mit leiserer Stimme und Schultern, die sich beugten. „Wir werden morgen in Genua landen, im majestätischen Genua; aber er wird es nicht sehen. Ich kann es nicht machen. In diesem Augenblick lebt er nur noch durch den einen Gedanken in seinem Kopf: in seiner Heimat zu sterben.“
Vor der Treppe zu den Gesellschaftsräumen nahm er plötzlich Abschied und tauchte ins Dunkel. Lola sah mit Verwunderung, daß dort innen noch der gleiche kopflose Jubel tobe, und ging in ihre Kabine. Sie lag im Dunkeln; — und das Wimmern dahinten, sie wußte nicht, war es das der Geigen oder das jenes Sterbenden. Seine Augen verließen sie nicht, ihre Stirn war erfüllt von diesem übermenschlichen Feuer, das mit Überwindung eines absterbenden Leibes ganz frei dahinbrannte, das nur ein Gedanke, ein Wille, eine Sehnsucht war: die Sehnsucht nach der Heimat.
Und sie sah ihn, wie er jung aufs Schiff stieg. Die Jacke über der Schulter, den Hut im Nacken, übermütig trotz der Rührung, küßte er ein letzesmal Eltern, Geschwister und das Mädchen, das ihm treu bleiben wollte. Hatte Lola ihn nicht drüben aussteigen gesehen, oder einen, der ihm glich? Italiener in roten Hemden, die Jacke über der Schulter, waren so viele dort umhergegangen. Sie hörte ihn seine Früchte ausschreien, sah ihn an einem Kanoe zimmern und stand am Wege, wie er sein Maultier mit Waren vorbeitrieb. Denn er handelte mit allem, hielt keine Arbeit für zu schlecht, lebte nüchtern und schrieb Briefe, worin ein wenig Geld lag: „Mut! Bald kann ich euch nachkommen lassen. Carlotta, ich seh’ uns schon in der Kirche.“ Darüber sterben die Eltern; aber er hat noch die Geschwister, und Carlotta wartet auf ihn. Er spricht nicht mehr vom Nachkommen; es geht nicht alles, wie er dachte; nur zurücklegen möchte er eine Kleinigkeit, und dann heimkommen . . . Wie? Wäre es möglich? Carlotta nimmt nun doch den andern? Sie ist imstande, ihn zu verraten? Wozu kann dann alles noch dienen! . . Ach, ein Kind hat sein Bruder? Wie hübsch! Er wird ihm etwas mitbringen, wird es einst ausstatten. Die Geschäfte gehen besser, sie sollen sich wundern . . . Und von Jahr zu Jahr: Der Bortolo schon tot? Und Don Felice?
Und auch der, und auch der? Warum schreibst nun du selbst nicht mehr? . . Schweigen. Und der alte Einsame vergißt die Todesfälle, von denen ihm einst berichtet ward; wenn er von der Rückkehr träumt, stehen alle unverwandelt am Ufer, und Carlotta trägt noch die rote Schürze, die er ihr gab. Sein Geist geht zwischen Gebäuden um, die abgetragen sind, und bei Menschen, die unter Kreuzen liegen. Zuletzt tritt er dennoch die Reise an, für die er fünfzig Jahre arbeitete und lebte. Nun fährt er dahin — werden die Atemzüge ausreichen? — fährt, seherisch vor Angst und Drang, dem unmöglichen Ziel seines Lebens zu, dem, was es für ihn nicht gibt, dem Phantom einer Heimat!
. . . Lola schluchzte noch immer. Sie beweinte in fremden Schicksalen das Sinnbild der eigenen; und eine besänftigende Brüderlichkeit floß ihr aus jenen zu. Sie schämte sich ihrer Menschenfeindschaft; verachtete die Gabe, die sie bis dort hinabblicken lehrte, wo niemand mehr dem Erkanntwerden gewachsen ist; entsetzte sich: „Hab’ ich denn nicht immer lieben, nur lieben wollen? Einst war ich doch entschlossen, mich eher lebendig begraben zu lassen als daß Erneste oder Mai stürbe! Wie ist es möglich, daß Menschen dies je aus dem Sinn verlieren: einander helfen, einander lieben!“