Читать книгу Zwischen den Rassen - Heinrich Mann - Страница 9

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„Nein, von vorn kann ich’s nicht. Ich kann’s nur, wenn ich die Krawatte grade so halte wie bei mir selbst. So also, wenn Sie gestatten.“

Er trat hinter sie und schob die Arme über ihre Schultern. Seine Arme berührten sie kaum, und doch war sie darin eingeschlossen und spürte einen angstvollen Kitzel. Sie mußte auf seine weißen, starken Hände hinabsehen, die gleich unter ihrem Kinn sich bewegten. Wie er den Knoten anzog, streifte seine Wange ihre Schläfe.

„Rascher!“ verlangte sie, zwischen den Zähnen.

Er ließ los, ging um sie herum und sah ihr in die Augen. Die seinen hatten wieder das Düstere, Besinnungslose, das sie kannte, und das ihr so gefährlich war. Seine Zähne waren in die Unterlippe gedrückt. Da begann er unvermutet weich:

„Ihr Anblick tut mir weh! Nicht zwanzig Stunden sind’s, daß wir in diesem selben Raum beieinander waren, allein wie jetzt, und der Mond schien herein. Wir hatten musiziert, Ihre märchenhaften Alttöne waren verhallt, ich hatte mich in großer Bewegung vom Klavier erhoben, und den Kopf in der Hand betrachtete ich Sie, die Sie, ein Knie auf den Stuhlrand gestützt, das Gesicht nach dem offenen Fenster gewendet hielten. Ich war im Schatten, Ihre Gestalt entlang floß Mondlicht; es rann Ihnen über die Lippen, die sich, Ihnen unbewußt, voneinander lösten; es füllte Ihre Augen; — und mit der beglänzten Hand, die Sie mir überließen, zog ich zu mir hin, in mein Dunkel und an mein Herz, die ganze tiefe nächtliche Süßigkeit, die durch Sie atmete, o Lola!“

Der junge Brasilianer hatte beim Sprechen den Hals hin und her gerückt, wie ein vom eigenen Gesang berauschter Vogel. Nun stand er noch und hörte die Tenorarie seiner Sinnlichkeit ausklingen. Lola machte sich von seinem Gesicht los. Sie sah an ihrem Dreß hinab — und erleichtert auflachend, warf sie sich ins Sofa.

„Nicht übel, mein Lieber. Etwas kitschig zwar, und auf ein modernes Mädchen werden Sie, fürchte ich, damit nicht wirken . . . Sehen Sie, die Krawatte muß ich mir nun doch selbst binden!“

In der Tür zeigten sich der Herzog von Fingado und Herr Aguirre. Beim Anblick des Eindringlings blieben sie mit zurückhaltenden Mienen stehen. Lola versuchte ihre feindselig abwartende Haltung nachzuahmen: da platzte sie aus. Die beiden starrten sie an; dann wandte ihr der massige Vierziger mit angewiderter Miene den Rücken. Der unjunge Zwanziger überwand seinen Schrecken und machte, den spitzen, gelblich gefiederten Schädel herausfordernd im Nacken, zwei Schritte gegen den Feind. Lola lachte heftiger, und Da Silva klärte die Herren auf, die in Ratlosigkeit umschlugen und dann in Bewunderung. Aber hinter ihnen rauschte es, und Frau Gabriel brach, kaum daß sie ein wenig gestutzt hatte, in Jammern aus.

„Wie siehst du aus! Wer hat mir mein Kind so verunstaltet? Sie, Herr Da Silva? Ihnen habe ich auch sonst Vorwürfe zu machen! Dazu hat man nun eine hübsche Tochter!“

Die Herren erklärten sich im Gegenteil ganz einverstanden mit Lolas Verwandlung. Fingado hatte einen Gedanken.

„Wenn der künftige Gatte des gnädigen Fräuleins Sie so sähe . . .“

„Was dann?“ forschte Da Silva drohend.

Hinter den leeren blauen Augen des Herzogs geschah eine müde, vergebliche Arbeit.

„Ich weiß wirklich nicht,“ schloß er, mit einem Lächeln des Verzichtes.

Indes Frau Gabriel ihren jungen Landsmann mit den Vorwürfen bekannt machte, die er verdiente, widmete der Abgeordnete sich Lola. Er türmte seine fein bekleidete Fettmasse vor sie hin und plauderte, wie er allein es konnte: nur ohne seine gewohnte Unerschütterlichkeit. Seine rosigen Wangen zuckten; die Wulstfinger betasteten unruhig die Hüften; die launigen Augen vergaßen sich bis zu einem verdächtigen Gefunkel, — das Aguirre fühlte und durch Unterwürfigkeit gut zu machen suchte. „Ganz wie ein ungesundes Baby!“ dachte Lola. Sie hörte Mai sagen:

„Ich beklage mich über Ihren Mangel an Offenheit gegen mich . . .“

„Das ist wahr, Herr Da Silva: warum sagen Sie Mai nicht, wen Sie lieben?“ rief sie hinüber, gekitzelt durch ihre Wirkung, durch das neue Wesen das sie vorstellte, und die Erwartungen, die man ihm sichtlich entgegenbrachte.

„Sie gehen in den Klub?“ begann sie gegen Aguirre. „Ich habe seit gestern nacht keinen Heller mehr . . .“

Sie brach ab, drehte sich einmal um sich selbst und sagte in einem Atemzug:

„Pumpen Sie mir was! Wer so viel gestohlen hat wie Sie!“

Der Politiker kroch noch tiefer. Lola lächelte plötzlich zaghaft.

„Gehen wir? Bitte, gehen wir!“ verlangte sie hastig. Und man ging.

„Zu Fuß, Mai! Mir zu Gefallen! Wohin? Ganz gleich: eine Irrfahrt.“

Sie atmete tief die matte Luft der Dämmerungsstunde. Zu Da Silva, der mit ihr hinter den anderen zurückblieb, sagte sie:

„Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich mich nach — fast hätte ich gesagt: nach Hause sehne, ich meine nach dem reichlich kalten Ort, wo ich erzogen wurde, und dem feuchten Nordostwind, der den Geruch eines nordischen Meeres mitbrachte.“

Und unvermittelt:

„Wie ich die Männer verachte!“

„Sie haben doch noch soeben einen großen Erfolg bei ihnen gehabt,“ bemerkte Da Silva, mit beißender Stimme; „und ich beglückwünsche Sie. Den Aguirre überläßt man Ihnen; dem Herzog allerdings hat Mistreß Job bereits einen Teil seiner Schulden bezahlt, und Sie würden sich mit der Dame auseinanderzusetzen haben.“

„Ich verbiete Ihnen, verstehen Sie, über Frauen schlecht zu reden! Solche Geschichten erfinden die Männer, um für sich Reklame zu machen.“

„Wie Sie gleich aufgebracht sind! Ich spreche doch zu einer Frau, die weniger abhängig von ihrem Geschlecht ist als die anderen — und es heute abend zeigt.“

„Merken Sie sich: wer, um mir zu schmeicheln, eine andere Frau herabsetzt, mit dem bin ich schon fertig. Nichts kann kränkender für mich selbst sein.“

„Böse im Ernst?“

„Nein; denn ich will mir den Spaß nicht verderben . . . Mai! Nicht wahr, wir treffen uns zum Essen bei Durieu? Ich gehe mit Herrn Da Silva einen andern Weg.“

„Allein mit Herrn —?“

Lola erklärte, in Gesellschaft Mais erkenne man sie. Auch habe sie als Amerikanerin das anerkannte Recht, zu gehen mit wem und wohin sie wolle.

„Und dann siehst du doch, daß ich ein Freund des Herrn Da Silva bin. Ja, Mai, Herr Da Silva und ich, wir sind richtige Freunde.“

„Sind wir Freunde,“ sagte Da Silva im Weitergehen, „so müssen Sie mir eine Warnung erlauben. Gestern sind Sie wieder allein ausgegangen. Ich achte Sie zu hoch, um —“

„Ja: früher haben Sie mir wegen solcher Dinge Szenen gemacht. Sie bessern sich;“ und sie wußte: „Er achtet mich höher, seit er mich für seine Braut hält. Ist das echt männlich!“

Er schwieg unzufrieden. Sie richteten sich nach der Musik, die herscholl. Wie sie auf den Platz einbogen, über dessen Palmenhain der Kirchengiebel mächtig ausgriff und der Bronzereiter dahinsprengte, war das Stück zu Ende. Viele fächelnde, die Hüften wiegende junge Frauen mit ihren Mägden und Anbetern, viele prall gekleidete, rauchende junge Männer begannen langsam zu kreisen.

„Sie kennen wohl die Frau gar nicht, die eine Dueña und eine Magd bei sich hat und die Ihnen zulächelt? Das ist die, in deren Schuld sie vorgeblich seit gestern nacht sind.“

„La Gelida? Aber die habe ich schon oft gesehen und wußte nicht . . . Wie gut ihr die Dämmerung steht! Ihr grau und unsicher gebogenes Profil scheint von dem Auge, das ein großes schwarzes Loch ist, ganz aufgezehrt zu werden. Ihr Lächeln — sehen Sie, ich möchte es erwidern, aber es schüchtert mich ein.“

„So?“ machte Da Silva zornig. „Ich aber rate Ihnen zu der Gelida nicht, denn ich war zugegen, als sie operiert ward. Das nimmt einem manche Lust.“

„Wirklich?“

Aus tiefem Herzen:

„Dann möchte ich Ihren Beruf haben!“

Der junge Mann hieb seinen Stock durch die Luft. Gereizt:

„O, andere entbrennen nur noch heftiger. Einer von uns sezierte seine eigene Geliebte, und als er in ihrem Magen eine unverdaute Speise fand, aß er sie.“

Lola schwieg. Entsetzen, Scham und Vergnügen stritten sich um ihr Herz, und es klopfte. Mit Frohlocken in der Stimme sagte sie dann:

„Würden Sie mir das auch erzählt haben, wenn ich Röcke an hätte?“

„Wenn wir erst verheiratet sind,“ verhieß er, herablassend aus Ärger, „erfahren Sie mehr.“

Sie lachte auf.

„Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich für die freie Liebe eingenommen bin?“

Er schob gequält die Schultern hin und her.

„Ich verstehe Sie nicht. Sind Sie raffiniert, oder was sind Sie?“

„Ach was: ich bin ein junger Mann, wie Sie sehen können, dem alle Frauen zulächeln. Sehen Sie, welch Erfolg? Warum stehe ich, die doch alle hübsch nennen, sonst immer hinter Mai zurück, heute aber errege ich Aufsehen? Ich bin eigentlich ein verkleideter Mann, und jetzt habe ich mich demaskiert. Man hat kaum Zeit, jeder dieser Schönen mit den Wimpern zu winken.“

Da Silva sah rundum.

„Wer ist schön? Wenn ich Schönheit noch sehen könnte!“ — und seine Stimme fuhr auf. Nun, mit schmerzlich erbittertem Tonfall:

„Aber Sie halten mich so besessen mit Ihrem Gesicht, mit Ihrer Gestalt, daß ich für die anderen Maß und Sinn verloren habe. Sind sie schön, sind sie häßlich? Ich verstehe nichts, ich sehe nur dies eine kleine unerbittliche Geschöpf, und es erstickt in mir alles, was nicht sein eigen ist.“

Lola bückte sich ein wenig, mit einem Schauer im Nacken, als werde gleich eine Hand hineingreifen. „Immer das Gesicht, immer die Gestalt: immer der Körper,“ dachte sie, auf einmal matt von Widerwillen und Traurigkeit. Er sagte stürmisch:

„Sie sind über alle Vergleiche schön!“

„Ach, wie reizend wär’s,“ meinte sie und ermunterte sich, „wenn alle so dächten! Tatsache ist, daß jeder sich zuerst um mich bemüht; dann erst besinnt er sich und geht zu Mai.“

„Gut für ihn.“

„Danke. Warum blicken Sie mit solcher Wut auf dies arme hübsche Mädchen?“

„Kommen Sie auf die andere Seite: Sie werden sehen.“

Das Mädchen, das ohne Begleitung war, trat in das weitoffene, erhellte Gewölbe eines Tabakladens. Alle Männer wandten den Kopf nach ihr; die Stutzer, die am Ladentisch lehnten, wichen keinen Schritt breit. Das Mädchen verlangte etwas; aber so oft sie den Mund öffnete, ward gepfiffen.

„Sie will Räucherkerzen, man sieht es,“ sagte Lola. „Was hat sie denn begangen, mein Gott?“

Das Mädchen errötete plötzlich tief; die Männer lachten schadenfroh; der, der den Witz gemacht hatte, blähte sich. Das Mädchen stürzte, die Augen verwirrt und naß, ins Freie. Wie sie nahe kam, stieß Da Silva einen Pfiff aus. Sie floh weiter. Lola rief:

„Das ist abscheulich! Ich will Sie nicht mehr kennen! Wenn die Ärmste niemand hat, schließe ich mich ihr an: ich!“

„Vergessen Sie, daß Sie ein Mann sind? Reden Sie sie an, ists grade solche Beleidigung, wie wenn Sie pfeifen.“

Lola blieb ratlos stehen. Zwei blonde Damen mit Spazierstöcken stelzten über das Pflaster und betraten gelassen denselben Laden, — wo alles ihnen Platz machte. Lola sagte sich, daß jeder sie auf die Stufe dieser beiden stellen, ihr die gleichen Rechte einräumen werde; und doch war sie der Mißhandlung jener anderen mit einer Angst gefolgt, als sei’s eine Drohung, die auch ihr gelte.

„Es ist furchtbar,“ sagte sie, „unter euch eine Frau zu sein. Bei uns ist der Mann unser Kamerad.“

„Bei euch? Sie sind keine Nordländerin. Sie haben etwas von jenem uns so erbitternden Reiz, gewiß. Wir Männer des Südens folgen allzu gern der zweideutigen Herausforderung, die von der befreiten Frau ausgeht. Wozu kommt ihr her? Ihr verderbt unsere Frauen, daß sie sich ohne unseren Schutz auf die Straße wagen und, wenn wir sie ließen, sich im Café mitten unter uns setzen würden. Ihr verderbt auch uns, daß wir den schlaffen Kitzel der Kameradschaft mit euch fühlen möchten, wie eure heruntergekommenen Männer. Ich will’s nicht. Ich will Ihr Herr werden.“

„Manchmal reden Sie wie das Alter, das Sie wirklich haben;“ und Lola lachte gezwungen.

„Nicht nur meine Worte, auch meine Muskeln sind die eines Fünfundzwanzigjährigen. Sie werden es fühlen.“

Lola hob schweigend die Schultern. Nach einer Weile:

„Jetzt gehen wir drüben in das Café: ich will mich mitten unter euch setzen.“

„Ich bin Ihr Begleiter, aber ich verlasse mich darauf, daß Sie selbst wissen, wie weit Sie gehen dürfen.“

„Sie werden mich als einen jungen Polen vorstellen, der in Paris studiert.“

„Ich werde mich Ihnen empfehlen und es Ihnen überlassen, sich zu kompromittieren.“

Aber er trat mit ein.

„Welch Glück: da sitzt die Gelida. Machen Sie mich sofort mit ihr bekannt!“

„Und der Kreis um sie her? Dabei sind Leute, die Sie kennen.“

„Sie werden keinen Skandal erleben. Mut, armer Freund!“

Sie wurden aufgenommen und setzten sich. Die Unterhaltung ward zu Ehren der schönen Kurtisane geführt, die, hinter sich ihre Dueña und ihre Magd, denen, die gut sprachen, ein wenig von ihrem Lächeln zuteilte. Lola begann darum zu werben. Man wendete die Stühle, um diesen jungen Menschen sprechen zu sehen. Wenn sie seine kleine kokette Hand weich durch die Luft streichen und bei einer seiner leichten, raschen Bewegungen seine Taille sich biegen sahen, schien den Männern ringsum sein Geist frischer, belebender. Er gab stürmische, junge Meinungen zum besten: „Die Liebe ist etwas sehr Einseitiges und eigentlich ein Mangel an Selbstzucht;“ — wobei alle die zuhörten, sich, sie wußten nicht warum, beglückt fühlten. Lola sah die Mienen, die sie bewegte, das schöne Gesicht der Gelida, aus dem ihr freundliche, wohlklingende Zustimmungen kamen; und sie hatte eine Empfindung von Leichtigkeit und Freiheit wie nie im Leben. Nie hatte sie Da Silva so ruhig ansehen können. Was kümmerten sie nun seine gefalteten Brauen. Bei allem was sie sagte, fühlte sie ihn neben sich als Besiegten; der Genuß, den sie von ihren Worten hatte, kam daher, daß sie gut waren, und daß er es hätte leugnen wollen; und diese Schauer des Sicherhebens, des Fliegens und Besonntseins daher, daß er so tief unten blieb.

Das Diner war hergerichtet. Da Silva behauptete, er und sein Freund hätten eine dringende Verabredung. Warum er heute so mürrisch sei, ward er gefragt. Lola forderte ihn auf, zu gehen und sie zu entschuldigen. Sie saß bei Tisch neben der Gelida. Ein Dichter rezitierte. Da Silva versuchte ungeschickt, ihn zu kritisieren. Lola lächelte und sprach der Gelida von dem Jüngling, dem in seinen arbeitsamen Nächten manchmal die Phantome von Frauen über die aufgeschlagenen Seiten tänzelten, und der solchen beklommenen Stolz genieße, wenn er die Augen wegwende. Sie sah Da Silva seine Lippe kauen und in sich versinken. Wie alle durcheinander redeten, der Nachtwind an der Tür lauter mit dem Perlenvorhang klimperte und eine Glocke elfmal dröhnte, sprang Lola auf, ließ die Freiheit leben; und mit dem letzten Ruf war sie entschlüpft.

Sie befand sich in einem Gäßchen und sah am Ende der schmalen Häuserflucht, wie durch ein Rohr, die große Gestalt des Kolumbus von Sternen umwogt. In trunkener Wallung erhob sie beide Arme. Wie aber hinter ihr der Schritt, den sie kannte, vernehmlich ward, verwirrte es sie panisch, als breche auf einmal ein künstlicher Turmbau in ihr zusammen. Ernüchtert, kalt vor Furcht, versteckte sie sich in einem Portal; aber Da Silva fand sie. Wie unvorsichtig sie sei. Ob sie glaube, daß es den Helden der Nacht auf einen Mord ankomme. Lola, die an Da Silvas Seite weiterging, wünschte sich inständig, daß aus dem nächsten Schatten ein Befreier springe und sie töte.

Denn sie hatte erkannt: Alles war umsonst. Begeistert meinte sie zu sein, und war nur berauscht gewesen. Den Geist, der sie von ihm erlösen sollte: eben der Drang nach ihm hatte ihn ihr eingegeben; und nie hatte er fester seine Hand auf ihr gehalten, als da sie ihn tief unter sich glaubte.

Dabei durchmaßen sie den Quai.

„Wohin geht’s?“ dachte Lola verstört; und: „Wenn ich den nächsten Straßenrand mit dem rechten Fuß erreiche, entkomme ich ihm heute noch. Sonst nicht. Sonst nicht.“

Aber noch vor dem Ziel, das sie meinte, rückten ihre beiden Schatten nach vorn, und beim Heraufkommen seiner breiten Schultern schloß Lola die Augen. Das Schweigen folterte sie. Wie entsetzlich nervenstark und seiner sicher er war! „Ich zähle bis zwanzig, und hat er dann noch nichts gesagt, rufe ich um Hilfe.“

Gleichwohl rauschte der Brunnen auf der Plaza del Palacio inmitten seines und ihres Schweigens. Hier, unter der grellsten Helle, folgten sie beide auf einmal dem Zwang, einander anzusehen. Lola sah etwas düster Schmachtendes, tierisch Leidendes, das sie schrecklicher erschütterte als die Siegerhärte, die sie sich vorgestellt hatte. Langsam von ihm wegsehend: „Ja, das ist er. Er ist ein beschränkter Gewaltmensch, und ich liebe ihn mit Widerwillen: aber er ist der Typus, dem ich unterliegen soll. Die vorigen, in Paris und in Rom, waren vom selben. Dieselben zusammentreffenden Brauen, die harte Marmorfarbe wie hier, woraus jede Wimper, jeder Blutstropfen der Lippen drohend hervorstarrt. Wozu sich quälen? Er liebt mich, so gut er’s versteht. Mit dem, was zu ihm gehört, liebe auch ich ihn. Ich habe noch mehr, — wovon er nicht weiß: aber wer wird je davon wissen. Wozu auf dem Unmöglichen bestehen, wozu so viel kämpfen; warum nicht ein einziges Mal ganz unvernünftig glücklich sein.“

Sie nahm tiefere Züge Meerwindes; und inzwischen stiegen sie kaum beleuchtete Gassen hinan, erreichten einen Gartenplatz und tasteten sich durch das Dunkel eines bitter duftenden Gebüsches. „Wo ist denn der Weg?“ Und statt des Weges suchten sie einer des andern Hand. Lola zuckte zusammen, als sie die ihre gefangen fühlte; aber sie fühlte auch, daß er in diesem Augenblick mit Zartheit an sie denke; und während des Lächelns, das langsam über ihr Gesicht hinging, war ihr’s, als lächele das ganze Dunkel. Sie dachte unbestimmt an weit Vergangenes: an ihre Kindheit. Wie sie eine Balustrade trafen, stützten sich beide darauf; ihre Unterarme lagen, ohne sich zu berühren, einander so nahe, daß jeder des andern Wärme spürte; und drunten über dem nächtlichen Gitter aus Masten und Schlöten suchten sie das Meer: lange und beklommen von Sehnsucht. „Der Mond muß bald aufgehen.“

Lola sagte:

„Daheim auf der Großen Insel war’s das Schönste, wenn das Meer leuchtete. Ach nun weiß ich wieder: mein Großvater zündete viele Papierröllchen an und schoß sie in weiten, leuchtenden und zischenden Bogen über das Meer.“

Der junge Mann lachte kindlich und sprach von seiner Meerfahrt, derselben, die einst auch Lola gemacht hatte. Ob sie sich nicht jenes Inselkönigs erinnere, den man für zwei Franken sehen konnte. Abwechselnd riefen sie zurück, was ihnen beiden begegnet war; und bei jedem Zusammentreffen ihrer Erlebnisse durchrann Lola der Schauer des Vorherbestimmten.

„Gleich wird der Mond aufgehen,“ murmelte sie, mit süßer Angst. Jenes Kinderglück auf der Großen Insel bewegte sich leise unter allen ihren Einfällen; und die heimliche Gewißheit, nie werde es wieder so gut werden, ließ sie, sie wußte nicht warum, von erlittenen Schmerzen sprechen, von ihrer Einsamkeit, von der Müdigkeit, die in ihr zunehme. Schweres Drängen nach Gemeinschaft, nach Menschennähe zitterte in ihrer Stimme und machte ihre Arme flugbereit: bereit um einen Nacken zu fliegen.

Er sah sie mehrmals unruhig von der Seite an.

Plötzlich: „Woran denken wir?“ — mit einer Bewegung, die er sofort zurücknahm. Aber sie war nun wieder erinnert, daß er sie haben wolle und nichts weiter; daß sie nicht seine Gefährtin sei, nur eine Geliebte; daß irgend eine der flüchtigen Begierden, in deren Wirbeln sie dahinlebte, sie an diese Stelle geweht habe und die nächste sie weitertreiben werde; und daß alles dies nicht mehr sei als ein heißer Windstoß über die nackte Haut. Das Entsetzen des Verirrtseins packte sie, und sie wagte sich nicht zu rühren.

Er sagte:

„Ich habe über Sie nachgedacht: ich durchschaue Sie vollkommen. Nehmen Sie gegen Ihre Zustände dies: nie mehr als einen Tropfen und nur wenn sie in Gesellschaft gehen wollen.“

Seine Stimme war ihr nun verdächtig. Unter einem eisigen Mißtrauen zog sie sich innerlich zusammen. Was hatte dieser Mensch mit ihr vor? „Noch niemand hat Gutes mit mir vorgehabt!“ Er war ein Feind. „Mein Gott, in wessen Gewalt bin ich geraten!“ Sie stieß zurück, was er ihr hinhielt. Er bemerkte plötzlich ihre Veränderung, bereute ungestüm, an Schwärmerei und Regungen der Güte eine gelegene Zeit vergeudet zu haben, und tat einen harten Griff nach ihr. Sie wich aus, bückte sich und entkam in die Finsternis der Steige. Der Mond war nicht aufgegangen.

Sie stieß auf die Treppe, stürzte vorwärts, durch das Netz der leeren Gassen, immer darauf gefaßt, die Schultern unter seiner zufassenden Hand zu ducken. Drunten auf dem weiten, grellen Platz schien ihr der Anblick einiger Bummler unbegreiflich, ein rettendes Wunder. Alles hatte sich doch schon aufgelöst, alles war doch schon verloren gewesen. Sie sprang, noch fliegenden Atems, in einen vorüberfahrenden Wagen. Während der Fahrt erlebte sie immer aufs neue den Augenblick, als er nach ihr griff. Sie wand sich vor Angst und Haß.

Wie sie in ihrem Zimmer das Licht aufdrehte, stand vor ihr im Spiegel der elegante, selbstsichere junge Mann, den sie, schien es, hier zurückgelassen hatte. „Was ist seither aus mir geworden! Mein Gott!“ Sie ließ sich in den Sessel fallen und weinte.

Sie wachte auf und saß noch immer in ihren Männerkleidern da. Im offnen Fenster lag grauer Halbtag; drunten knirschten die ersten Karren. Lola fror es; sie fühlte sich müde und verlassen. „Wenn ich’s nun getan hätte?“ dachte sie, starren Blicke. „Ich hätte jetzt einen Herrn. Vielleicht wäre ich glücklich.“ Dann: „Wenn er jetzt käme? Wenn er jetzt drunten stände?“ Sie sah hinab: nein; und sie seufzte.

Beim Auskleiden fand sie in der Westentasche das Fläschchen, das sie zurückgestoßen hatte. Also war’s ihm gelungen, es ihr aufzudrängen! Sie stellte es weit weg, wanderte ein paarmal ratlos in die Runde, zog schließlich ein Morgenkleid an und ging hinüber in den Salon. Vor der Tür zu Mais Schlafzimmer kehrte sie um, machte den Weg noch einmal und holte das Fläschchen. Es ließ sich in der hohlen Hand verstecken, ohne daß sie die Finger schloß. Dann trat sie bei Mai ein.

Mai schlief; Lola sah ihr zu, wie sie kindlich atmete, wie ihr schönes, faltenloses Gesicht sich glücklich ausruhte. Einmal lächelte sie, wie bei einem Siege. Was träumte ihr? Gewiß, daß man sie anbete. Lola stand und sann sich fest in Mai. „Wie seltsam, daß ich zu ihr gehöre! Ich habe doch Welten für mich, von denen die arme Mai nichts ahnt; aber dann falle ich, ob ich will oder nicht, wieder auf die ihre zurück und spüre in meinem Blut diesen schönen, dummen Männertypus, den ich verachte. Ist es nicht, als ob ich manchmal das Bewußtsein verlöre, in Mai zurückkehrte, aus der ich einst hervorgegangen bin, und sie für mich fühlen und handeln ließe? Da geht man dahin und ist nicht man selbst. Was kann alles auch in dem Namen stecken, den einem andere gegeben haben. Lola: . . . Lo—la . . . Ich höre etwas unheimlich Schmelzendes, Willenloses darin. Lola: nein, es kann auch sehr frisch und mutig klingen . . .“

Da erwachte Mai, und beide erschraken.

„Du bist also doch gekommen?“ stammelte Mai. „Ich habe dich nicht gehört. Du hast mir schreckliche Sorge gemacht. Ich konnte doch niemand nach dir fragen: was hätte man gedacht!“

Lola erkannte, nun Mai zu Sorgen erwacht war, plötzlich Spuren des Alterns an ihr. Sie erinnerte sich: auch dies Kinderwesen mußte kämpfen und leiden.

Zärtliche Reue hob Lolas Herz auf; sie warf sich vor dem Bett auf die Knie, schob die Arme unter Mais Nacken.

„Ich habe dich lieb, Mai. Wir wollen fort von hier!“

„Fort? Warum?“ fragte Mai erschrocken.

„Weil . . . Siehst du: man hat mich erkannt. Was ich getan habe, war dumm. Nun ist’s besser, wir gehen. Ja, so: der Herzog und Aguirre. Denen tragen wir auf, zu erzählen, wir seien schon gestern abgereist. Sie werden diskret sein, niemand wird beweisen können, daß er mich heute nacht gesehen hat.“

„Und Da Silva?“

Lola fuhr zurück, mit plötzlich verschlossener Miene.

„Wie ist’s mit Da Silva?“ wiederholte Mai unsicher. Lola näherte sich ihr wieder.

„Er ist ein guter Freund,“ sagte sie sanft. „Gegen meine Schmerzen und Müdigkeiten hat er mir dies gegeben. Meinst du, daß ich’s versuchen soll?“

Sie nahm Mais goldenen Arzneilöffel und ließ einen Tropfen hineinfallen.

„Soll ich?“

Zögernd:

„Soll ich?“

Und dann:

„So; nun werden wir sehen.“

Wenn es nun ein Gift war, das sie wahnsinnig machte und ihm in die Arme trieb: sie hatte es genommen, es war geschehen. Ihre Züge waren besänftigt; sie neigte sich tief auf Mai, deren Gesicht dem Weinen nahe war.

„Arme Mai, ich bin schlecht: ich bedachte nicht, daß du dich schwer trennst. Immer lege ich dir Opfer auf. Aber dort, wohin wir gehen, sollst du dich anbeten lassen . . .“

Sie streichelte und tröstete. Mai schluchzte und schlief ein. Lola schloß sich in ihr Zimmer, setzte sich vor ein Buch und verstopfte, wie als Kind, mit den Fingern die Ohren. Sie genoß, was sie las, mit immer hellerem Geist. Eine Stunde später bemerkte sie, daß Teppich und Tisch voll Sonne waren. Sie lehnte sich zurück, atmete tief auf und fühlte, wie weit nun die Nacht zurückliege. „Von hier —“ sie sah das Buch an — „bis zu ihm ist’s endlos weit. Was geht er mich an? Ganz leicht werde ich ihn entbehren.“

Als sie fertig angezogen den Salon betrat, kniete Mais Mädchen vor einem Koffer.

„Hast du auch schon angefangen?“ fragte Mai.

„Ach, packen . . .“ Und ein Angstschauer überraschte sie.

„Willst du denn nicht mehr reisen?“

„Ich . . . will . . . reisen;“ dabei ließ sie den Kopf sinken. Dann:

„Das heißt . . .“

„Ja,“ dachte sie, „ich will’s darauf ankommen lassen.“

„Das heißt, selbst zu packen habe ich heute keine Lust. Wenn Germaine Zeit hat . . .“

Ja: Mai gab Germaine frei; Lola war gerettet.

Zwischen den Rassen

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