Читать книгу Zwischen den Rassen - Heinrich Mann - Страница 5
III
ОглавлениеLola war allein.
Sie weinte auf einer Bank, zusammengekrümmt, lange und wild. Das Fräulein stand anfangs dabei und flüsterte hier und da ein Trostwort, das fragend klang, als wisse sie es selbst nicht genau. Dann machte sie einige Schritte, sah sich wartend um, verschwand im Hause. Bald kam sie wieder und rief sehr munter, ob Lola diesen schönen Pfirsich möge. Als aber das Kind zornig den Kopf schüttelte und wilder schluchzte, zog das Fräulein sich so rasch zurück, als flöhe sie.
Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen. Das Fräulein öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer: da sprang kläffend ein kleiner weißer Spitz auf Lola zu, und Lola, die daheim vor Großpais riesigen Hunden keine Furcht gehabt hatte, wich mit einem Aufschrei zurück.
„Ami!“ rief das Fräulein und redete, zu ihm niedergebeugt, ernsthaft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hatten sich gegenseitig erschreckt; und der Hund mußte hinaus, — wo er winselte.
Nun kramte das Fräulein in einem Schrank, zog ein großes buntes Buch hervor und hielt es Lola entgegen. Sie wollte Lola auf einen Schemel setzen; Lola glitt damit aus, griff um sich und warf ein Glas Wasser über die Handarbeit, neben der es gestanden hatte. Das Fräulein strich ihr die Wange und lächelte. Dann schlug sie das bunte Buch bei der ersten Seite auf; es war ein Affe darauf, ein Ast und noch mehrere Dinge; und wiederholte, auf den Affen zeigend, ein Wort: immer nur das eine. Zuerst beachtete Lola es nicht; dann merkte sie wohl, daß sie es nachsprechen solle: aber sie schwieg; und diese Rache für alles, was mit ihr geschah, tat ihr wohl. Trotzdem richtete das Fräulein seinen Finger jetzt auf den Ast und sagte dazu ein anderes Wort, viele Male. Sie führte Lola auch zu einem weißen Turm, der in einer Ecke des Zimmers ragte, und zu dem Schirm, der davorstand: darauf waren aus bunten Perlen eine Dame und ein Kind, und zu beider Füßen ein Tier, das Lola nicht kannte. Es schien ihr sanft, zärtlich, zum Zerbrechen sein; und seine großen Augen glitzerten, als seien sie voll Tränen. Mitleid durchschauerte Lola, mit dem Tier, mit sich selbst, — und da stammelte sie das Wort nach, das das Fräulein ihr schon längst vorsagte: „Reh“, und weinte, leise und ohne Trotz.
Wie die Tränen gestillt waren, nahm das Fräulein sie mit zum Essen, an eine lange Tafel, wo viele Mädchen schwatzten und klapperten. Lola aß nichts, aus Traurigkeit; sie saß betäubt da, erschrak, wenn ihr Name genannt ward, und dachte, weh und wund: „Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Warum hat Pai mich nicht mitgenommen?“ Nach Tisch ward sie in den Garten gebracht, aber sie schüttelte den Kopf und ging dem Fräulein nach, bis sie wieder im Zimmer und bei dem Reh war: denn das war hier ihr einziger Freund. „Reh, Reh,“ flüsterte sie ihm zu. Das Fräulein küßte sie leise auf die Locken und ließ sie mit ihrem Kameraden allein. Als Lola später zu Bett gelegt werden sollte, hatte sie sich schon in Schlaf geweint.
Beim Erwachen in heller Sonne fiel ihr als erstes das Reh ein; dann der Spitz Ami. Sie bedachte vieles Erlebte und auch, ob sie dies Zimmer schon kenne. Neugierig sah sie sich darin um. Noch ein anderes Bett stand da, aber es war schon verlassen. Sie ließ sich aus dem ihren gleiten und trippelte umher: da trat das Fräulein herein, hob Lola auf ihren Arm, zeigte sich auf die Brust und sagte mehrmals:
„Erneste“.
Lola hatte in ihrem rotgeschlafenen Gesichtchen große, aufmerksame braune Augen, die, auf den Mund des Fräuleins gerichtet, ganz leise seitwärts hin und her rückten; ihre blonden Locken hingen wirr geringelt, die leichten Linien ihrer Lippen fügten sich fein ineinander; und am Saume ihres Hemdchens streichelten sich ihre rosigen kleinen Füße. Sie äußerte nichts; aber als sie fand, das Fräulein habe genug „Erneste“ gesagt, nickte sie bedächtig, zum Zeichen, daß sie verstanden habe.
Sie bekam ihren Kakao, grub im Garten, ward, wie die Glocke geläutet hatte, von den Mädchen in einem Ringelreihen geschwenkt und dann wieder von Fräulein Erneste in das Zimmer des Rehes geholt. Der Spitz Ami knurrte nur, und er wedelte dabei. Lola sollte auch heute „Affe“ und „Ast“ nachsprechen. Sie tat es zerstreut, sah dabei immer das Reh an: sie hatte keinen Sinn für die Dinge, auf die Erneste sie jetzt noch hinzulenken wünschte; und nur zufällig bemerkte sie, daß es sich um die zweite Seite des bunten Buches handelte, und daß dort jedes Bild mit einer Marzipanscheibe bedeckt war. Nahm man sie weg, kamen darunter zum Vorschein: ein Baum, ein Bäcker, ein Bottich. Sie erlernte diese Worte in großer Eile, um zu erfahren, was auf der dritten Seite wäre.
Von diesen Erlebnissen, die sie interessiert hatten, wollte sie bei Tisch — war nicht heute alles lustiger bei Tisch? — ihrer Nachbarin erzählen, einem Mädchen, daß nur wenige Jahre älter sein konnte. Sie erzählte ausführlich, die andere aber lachte nur und stieß eine dritte an. Lola, in Eifer, kam von dem Reh auf die Tiere daheim; sprach von daheim und von Nene und Mai. Plötzlich ward sie inne, daß alle still waren, zu beiden Seiten des Tisches, und sie ansahen: die meisten mit Neugier, einige spöttisch; — und keine, erinnerte sie sich nun, keine einzige hatte sie verstanden! Errötet, ratlos beschämt, sah sie die Reihen entlang, konnte, zitternden Gesichtes, die Tränen noch gerade hinunterschlucken und beugte sich mit einem kleinen einsamen Lächeln über ihren Teller.
Nun kam eine Stunde, in der alles durchs Haus sprang und sang. Auch Lola sollte singen, sie tat nur so, als begriffe sie nicht. Da faßte aber Erneste ihre beiden Arme, und die Nase kraus vor Freundlichkeit und während alle umherstanden, sagte sie ihr mehrere Worte, deren jedes ungefähr klang wie „singen“: nur nicht ganz. Schließlich aber fand sie’s wirklich: singen; und da sang Lola. Sie sang näselnd: „Ihr Negerknaben meines Vaters . . .“, schloß dabei halb die Lider und sah nun alles, was sie sang, sah die Heimat . . . Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwarm der auf sie Einredenden weit fort.
Eine Weile darauf fiel ihr ein, daß sie dieses Lied einmal bei der deutschen Großmama gesungen hatte. Seltsam: an den Aufenthalt bei der Großmama hatte sie noch gar nicht wieder gedacht; ihr war, als sei sie von der großen Insel gradeswegs hierher verschlagen, und alles dazwischen war verworren wie ein Schiffbruch. Nun kam ihr eine Fratze in den Sinn, die der lustige Onkel einmal geschnitten hatte: und von da aus fand sie sich in allem wieder zurecht. Ach! Das war doch Lolas Großmama, denn Pai war ihr Sohn, und sie hatte ihn lieb. Eine aufzuckende Hoffnung: Ob Pai nicht bei ihr war? Daß Lola daran nicht früher gedacht hatte! Pai war nicht abgereist, er war bei seiner Mama! Lola ging zu Fräulein Erneste und sagte „Großmama“: nur das eine, bittende Wort; und Erneste verstand es, sie ließ Lola hinführen.
Die Großmama breitete die Arme aus, Lola aber lief, ohne ihrer zu achten, um sie herum: „Pai! Pai!“ — in sein Zimmer, in das Wohngemach, in den Garten: „Pai! Pai!“ Sie kehrte von ihrer vergeblichen Runde wieder.
„Wo ist Pai?“
Die Großmama bedeutete ihr etwas, Lola wußte wohl, was, aber sie glaubte ihr nicht. Einer der Onkel kam, die Magd ward gerufen, und alle wiederholten dasselbe. Lola schüttelte nicht mehr den Kopf, aber ihre Meinung stand fest. Zuletzt erschien der lustige Onkel und wünschte ihr Guten Tag in ihrer Sprache. Immer die zwei Worte, die er sich einst von Pai hatte ins Ohr sagen lassen. „Dummer Papagei,“ dachte sie, und sie verlangte fort.
Sie spähte in jedes Haustor, zerrte ihre Begleiterin in die Läden, die sie mit Pai besucht hatte, und auf einem leeren Platz, wo es wehte, blieb sie stehen und rief flehentlich „Pai!“ Keins der trägen Fenster öffnete sich; es fror Lola bitterlich; und die Magd zog sie fort.
Aber für das bunte Buch war sie nicht mehr zu haben, nicht mehr für den Garten und kaum noch für das Reh. Sie sah jeden mit Mißtrauen an, der ein Wort zu ihr sprach: eins dieser unverständlichen Worte, deren Geräusch um sie her war. Zu Fräulein Erneste sagte sie: „das ist nicht wahr,“ obwohl sie gar nicht wußte, was das Fräulein gemeint hatte; bei Berührungen brach sie in Geschrei aus; und ihr Drang war immer: auf die Straße, durch die Stadt, und in die Häuser spähen. Sie schrie, bis das Fräulein ängstlich ward und sie hinausließ. Das dauerte mehrere Tage.
Dann wich Lolas Glaube. Sie hatte gewiß in jedem Winkel nachgesehen und überall ihr „Pai!“ gerufen. So wollte Pai sie wohl nicht hören, oder er war wirklich fort. Ja, er war fort: die Leute hatten recht. Aber dann hatte Pai selbst sie verraten und unter diesen Fremden zurückgelassen. Wem also war noch zu trauen? Scheu sah das Kind sich um. In diesen Tagen brach ein Gewitter aus; und Lola — wie hatte sie daheim zu urweltlichen Unwettern gejauchzt! — ward von jedem dieser Blitze in eine andere Zimmerecke gescheucht: bleich und mit geschlossenen Lippen; denn niemandes Hilfe wußte sie anzurufen.
Ward Lola jetzt um ihr Lied gebeten, schüttelte sie, mürrisch und verlegen, die Schultern. Auch sprach sie nicht mehr; und sie dachte ganz Ungewöhnliches. „Ich werde vielleicht sehr krank werden und kann dann niemandem sagen, wo es weh tut, und muß immer so schreien, wie damals der Neger schrie, der ein Loch im Magen hatte.“ Wenn sie allein im Zimmer war und mit sich selbst und ihren Puppen plauderte, mußte sie manchmal lauschen: so seltsam klein und allein klang ihr die eigene Stimme; — und sie fühlte es plötzlich, tief in ihrem erschauernden Herzen, es gäbe im Hause und in der ganzen Stadt und auf allen Straßen die hinausführten, keinen Menschen, der, wie die daheim, zu ihr sagen könne: „Meine kleine Lola, meine liebe kleine Lola.“ Sie flüsterte die ersehnten Worte vor sich hin und sah dabei ihre Puppen an. Da bemerkte sie, daß auch die Puppen sie ihr nie sagen und, was sie ihnen vorplauderte, nie verstehen würden: waren doch auch sie aus diesem fremden Lande. Sie schob sie weg. Und selbst das Reh! Daheim gab es kein solches Tier, und es wußte nichts von Lola. „Hörst du denn nicht?“ bat sie, mit Tränen. „Reh! Reh!“ Aber das Reh sah sie fremd an.
Lola war allein.
Am Sonntag ward sie wieder zur Großmama gebracht. Sie benahm sich scheu und verdrossen; man verlor endlich die Geduld und überließ sie nach dem Essen sich selbst. Unzufrieden, weil niemand mehr sich um sie bekümmerte, drückte sie sich im Garten umher. Wie es kalt war in diesem Lande! Ängstlich und feindselig sah sie zu den grauen Wolken hinauf, die herabdrohten. Der Pavillon, der sie am ersten Tage versteckt hatte, damals, als sie schon vorausgeahnt hatte, Pai werde sie allein lassen: heute stand er offen, und Lola betrat ihn. Es waren wunderliche alte Möbel darin; sie bemühte sich, einen Wandschrank zu öffnen: — da geschah ein Poltern unter ihr. Sie fuhr zusammen. Es polterte stärker, es schlug sogar gegen den Boden, auf dem sie stand. Erstarrt, horchte sie. Ein furchtbarer Krach: nun drang es gleich zu ihr ein; und Lola schrie los, mit allen Kräften höchster Not:
„Der Teufel! Der Teufel!“
Sofort hörte das Poltern auf, und im nächsten Augenblick stand in der Tür der lustige Onkel, ganz bleich, und blickte Lola zornig an. Sie schrie, zu ihrer Rechtfertigung und aus Eigensinn, noch einmal: „Der Teufel!“ Da stürzte aber der Onkel auf sie zu und legte sie über sein Knie . . . Und nachdem Lola dies durchgemacht hatte, war es ihr viel leichter und sanfter. Der Onkel nahm sie bei der Hand und führte sie in das Kellergewölbe, unter dem Gartenhaus. Er zeigte ihr, wie er Holz gehackt habe, und wie die geschwungene Axt manchmal gegen die niedrige Decke gestoßen sei. Was er dazu redete, hatte einen guten, tröstlichen Ton; — und Lola ward betroffen und sehr nachdenklich. Denn es war klar, daß dies gegen alle ihre bisherigen Erfahrungen ging. Wenn daheim aus dem Urwald heraus irgend eine ungewohnte Stimme erscholl, lief es bei den Schwarzen von Mund zu Mund: „Der Teufel“; und blinzelte irgendwo ein Licht, das niemand kannte, ward geraunt: „Der Teufel“. Als der Onkel Holz hackte, hätte die schwarze Anna nur bei Lola sein sollen: ganz sicher würde sie gewimmert haben: „Der Teufel“. Er war es also nicht? Wenigstens nicht immer? Das war tröstlich, und der Onkel war gut, daß er Lola dies gelehrt hatte. Sie lächelte ihm zu. Sie hatte auf einmal alle Menschen lieber, ging ins Zimmer, umarmte die Großmama und klatschte in die Hände bei dem Gedanken, daß sie auch dem Fräulein Erneste etwas recht Liebes antun wolle. Eifrig verglich sie im Innern die schwarze Anna mit Fräulein Erneste und wunderte sich, wie viel näher ihr Erneste sei. Die schwarze Anna war dumm, mit ihrem Teufel; Lola schämte sich ihrer ein wenig. Wie sie nach Haus kam, stellte sie sich vor Erneste hin, sammelte sich und sagte zutraulich:
„Ast, Boot, Reh, Erneste.“
Dabei lächelte sie entschuldigend, denn für ein achtjähriges Mädchen war dies natürlich kindisch; aber was sollte sie sagen? Erneste verstand Lola; vor Rührung bekam sie ein bekümmertes Gesicht und Tränen in die Augen.
Einige Wochen später schlug sie Lola vor, einen Brief an Pai zu schreiben.
„Schreibe in deiner Sprache.“
Lola tat es; aber sie fügte mit Genugtuung eine Anzahl ihrer deutschen Wörter hinein: alle waren in einem Brief schon nicht mehr unterzubringen. Die Antwort kam. Auch Herr Gabriel hatte auf portugiesisch geschrieben; nur am Schluß stand der Satz: „Ich habe dich lieb“; und diese Worte, die er noch nie in seiner eigenen Sprache hatte äußern dürfen, waren von ihm mit einer Süßigkeit erfüllt worden, die Lolas schwache Hände noch nicht herauspressen konnten. Erneste sah diese Zeilen lange an und sagte dann:
„Bewahre den Brief gut auf, Kind.“
Den nächsten schrieb Lola — sie war vier Monate bei Erneste — ganz deutsch, und ihr Vater antwortete ebenso. Inzwischen aber war ein Brief angekommen; Lola wußte nicht gleich, wer ihn abgeschickt habe. Sie war sehr gespannt.
„Ah!“
„Nun?“ fragte Erneste.
„Von Mai!“ — und sie betrachtete ihn angestrengt.
„Was schreibt dir deine Mama?“
„Ja, ja“, machte Lola, und: „Gleich komme ich wieder.“
Sie lief ins Schlafzimmer und buchstabierte. Mais Schrift sah Lola zum erstenmal; die schöne Mai lag immer nur in der Hängematte. Wie mußte sie Lola lieb haben, daß sie ihr schrieb! Lola küßte den Brief. Dann versuchte sie es nochmals: nein; wirklich, sie verstand nichts, oder nur hier und da ein paar Worte. „Mai, Mai“, stammelte sie, und plötzlich weinte sie. Kleinlaut berichtete sie später Erneste:
„Jetzt ist es sehr heiß in Rio, schreibt Mai, und hier ist es so kalt.“
Tags darauf wußte sie:
„Nene war krank und ist nun wieder gesund.“
Sie las immer in dem Brief; er hatte schon Risse, Fettflecke und Tränenspuren. Eines Morgens beim Erwachen fand Lola ihr Händchen hoch in der Luft. Im Traum hatte sie’s nach einer Frucht ausgestreckt, die Mai ihr hinhielt, — und zog es nun leer zurück. Noch sah sie Mais Gesicht: und da verstand sie plötzlich einige von Mais Worten in ihrem Brief. Schon war Lolas erste Sprache, Wort für Wort, zurückgedrängt von ihrer zweiten; neue Gesichter schoben sich ihr vor die alten; und eine neue Luft malte alle Dinge anders. Draußen schneite es; das erste Mal hatte Lola den Schnee für Zucker gehalten; und Mai kannte ihn noch immer nicht. Mai lag in großer Wärme in ihrer Hängematte und kannte, obwohl sie Mai war, nichts von allem, was Lola sah. Wie rätselhaft das war! Lola dachte sich darin fest; sie saß am Boden, den Blick nach innen, die Lippen leise gelöst, und hielt mit allen Kräften den Geschmack solches Gedankens fest. Manchmal war es nur ein Wort, ein Name, den sie in solcher Weise ganz auszukosten suchte: Erneste, wie konnte jemand so heißen; Er—ne—ste, wie jede der Silben plötzlich verwunderlich und komisch war. Jeden Augenblick wurden sie fremder! Im Frühling, auf einem Ausflug, ward Lola vermißt und allein zwischen Waldhügeln bei einer Quelle gefunden. Das nasse Laub hing um sie her, es roch herb nach Kräutern, die Quelle rann, Lola saß ohne Regung. Worüber sie nachgedacht habe. „Über die Quelle.“ Im Sommer lag sie oft am Rande eines Heliotropbeetes auf dem Bauch, schob den Kopf zwischen die Blumen und lauschte in die große Tiefe dieses Duftes.
Ein Gesicht, das sie lange schon kannte, ward ihr auf einmal wie durchleuchtet: nun fühlte sie’s. Einmal, im Schulzimmer, sah sie, anstatt nachzuschreiben, unverwandt auf ihre Lieblingslehrerin, auf die raschen kleinen Mienen und die flinken, pickenden Bewegungen des Fräuleins.
„Lola, warum siehst du mich immerfort an?“ fragte Fräulein Mina. Lola erklärte:
„Du aussiehst wie ein klein Vogel.“
Die französische Lehrerin ward gehaßt von Lola: besonders seit sie Lola gedroht hatte, wenn sie noch länger die Kirschkerne verschlucke, werde ihr ein Kirschbaum aus dem Halse wachsen. Lola wühlte sich mit dem Blick in dieses fette, graue, schnüffelnasige Geschöpf hinein, bis sie in dem Fräulein deutlich eine große, dicke Ratte sah und bei einer zufälligen Berührung besinnungslos aufschrie!
In eine Vorstellung, eine Begierde konnte sie sich rettungslos festrennen, bis zu kleinen Verbrechen. Einmal log sie, in dem unvermittelten Drange, eine Sache ganz für sich zu haben. Nun hatte sie’s: ein Geheimnis; und kostete tagelang aus, daß niemand wisse, was sie wußte. Das war ein neues Leben, eine eigene Welt! Etwas später stiftete sie, um des Abenteuers willen, eine große Verschwörung an, verbunden mit Diebstahl. Zwar handelte es sich um die „Ratte“, die ohnehin jeden Streich verdiente. Mittlerweile nannten alle sie so; Lola hatte den Namen durchgesetzt und in Vielen Widerwillen erregt gegen die Lehrerin. Es war nicht schwer, die Mädchen zu überzeugen, daß sie der Ratte eine große, scheußliche Puppe ins Bett legen müßten. Man brauchte eine Maske, eine Haube, eine Jacke, eine Brille. Das Geld? Man wußte doch, wo die Ratte ihres aufbewahrte. Es war nur gerecht, daß sie selbst sich die Puppe kaufte. So geschah es. Die Ratte fiel zuerst in Ohnmacht, und wie der Verlust des Geldes herauskam, erlitt sie einen Weinkrampf. Lola sah ihn mit an: sie sah den Schmerz des häßlichen und geizigen Geschöpfes, ward hineingezogen und lebte ihn mit, außer sich vor Reue. Sie sah eine dicke Ratte sich ängstigen, die sie vergiftet hatte, und hätte gern, wenn es noch möglich gewesen wäre, das Gift selbst gegessen. Sie bat um Verzeihung, nahm sogar, mit leidenschaftlicher Selbstüberwindung, die Hand der Ratte. Denselben Ekel empfand sie auch jetzt noch; aber sie sah dieses Wesen leiden; sah unendlich mehr davon, als die andern sahen; und begriff nicht mehr, wie sie solch Leiden hatte zufügen mögen! Viel lieber statt anderer leiden! In mancher Nacht kam ihr die Frage: „Wenn ich mich lebendig begraben lassen sollte, oder Erneste sollte sterben, oder Mai: was würde ich wählen?“ Sie warf sich seufzend und heiß umher: nun hieß es sich entscheiden, das Furchtbarste auf sich nehmen. Und plötzlich war sie hindurch, sah Licht, war sanft und süß durchronnen und hatte sich dargebracht: „O, lieber, viel lieber will ich lebendig begraben werden!“
Sie war erschüttert; ein Drang nach Güte, eine schmerzliche Wallung von Liebenwollen hob ihr Herz auf; — und da kam rechtzeitig der neue Geschichtslehrer, Herr Dietrich. Er war schüchtern und ironisch, und er sprach immer wie zu erwachsenen Damen. Alle interessierten sich für ihn, einige erkundeten seine Lebensumstände. Er wohnte mit seiner Mutter und seinen jungen Geschwistern zusammen und unterhielt sie. Wie Lola von seinem Leben träumte! Liebreich mußte es dahinfließen, voll sanfter, gütiger, edler Gedanken. Mit zwei andern, die für ihn schwärmten, wagte sie es unter einem Vorwand, ihn aufzusuchen. Kein Teppich lag auf den weißen Dielen seines Zimmers. Herr Dietrich stand von seinem Schreibtisch auf, der dabei ins Wanken kam, und deckte verlegen ein Kissen auf einen Riß im Ledersofa. Das ganze Haus roch nach saurer Milch. Tagelang erbitterte Lola sich gegen Erneste, die ihn nicht besser bezahlte. Alle hätten hingehen sollen und es ihr vorhalten. Lola sonderte sich ab, so oft sie konnte, lernte den Leitfaden der Geschichte auswendig, und wenn sie ihn sich wiederholte, war es ihr, als sagte sie ihm etwas Liebes. Als sie an einem Märztag, es lag noch Schnee, allein im Garten gewesen war, kam sie erregt zu Erneste gelaufen.
„Erneste, ich weiß jetzt, wie der Frühling aussieht!“
„Wieso?“
„Wie Herr Dietrich sieht er aus!“
Lola leuchtete. Die Offenbarung, die sie soeben empfangen hatte, war einfach und tiefwahr.
Erneste dachte: „Mit zwölf Jahren schon? . . .“ Sie faßte sich und äußerte:
„Aber Kind, für ein Mädchen, das bald dreizehn wird, ist das doch zu kindisch. Herr Dietrich ist natürlich ein Mensch wie wir alle.“
Lola stutzte; war er das? Warum mußte sie dann soviel an ihn denken? Immer hatte sie jenen leichten Geruch von saurer Milch in der Nase: soviel dachte sie an Herrn Dietrich. „Ich will ihn mir ganz genau ansehen.“ Gerade heute war Herrn Dietrich sein gelber Strumpf über seinen schwarzen Schuh gerutscht. Lola starrte finster und nachdenklich darauf hin. Ähnliches konnte man auch bei andern Lehrern sehen: aber Herr Dietrich, der so edel war! an den Lola so viel denken mußte! Nun bemerkte sie auch, wie Herr Dietrich sich mit Jenny abgab; wie die dicke, freche Jenny, das Kinn auf der geziert ausgespreizten Hand, ihn anschmachtete; wie er errötend wegsah und, nachdem er ein wenig an seinem Kneifer gerückt hatte, ihr zulächelte. Da ward es Lola kalt und zornig zu Sinn; es trieb sie, Herrn Dietrich zu zeigen, daß er für sie durchaus kein Ideal sei. Er stand grade vor ihr; seine rötliche, knochige Hand lag auf ihrem Tisch; und in seiner Manschette konnte sie Haare sehen. Vorsichtig führte sie zwei Finger hinein, erfaßte ein Haar, machte „Kieks!“ — und da hatte sie’s. Herr Dietrich zuckte zusammen; dann rief er mit roter, entrüsteter Miene:
„So etwas tut man nicht!“
Lola, ziemlich erschrocken über ihre Tat, aber trotzig, betrachtete das Haar.
„Gib’s her!“ — und Herr Dietrich nahm es ihr weg.
Als er sie später etwas fragte, antwortete sie nicht, obwohl sie’s wußte. Sie beschloß ihm brieflich ihre Verachtung auszusprechen; den ganzen Nachmittag arbeitete sie daran. „Wenn ich einen Menschen gern habe, verlange ich mehr von ihm als von andern, Sie haben mich sehr enttäuscht,“ wollte sie ihm sagen, und: „Ich bin viel zu stolz, um jemand noch gern zu haben, der eine andere liebt.“ Indes fiel ihr ein, daß Herr Dietrich von ihrer Neigung nichts gewußt habe, und daß ihn darum auch ihre Enttäuschung nichts angehe. Wahrscheinlich würde er ihr mit seiner entrüsteten Miene den Brief zurückgeben und dazu schreien: „So etwas tut man nicht!“
Sie hielt sich nun für fertig mit der Liebe Dennoch verlor sie den Winter darauf ihr Herz an einen italienischen Leierkastenmann. Sie lag im Fenster und lebte in seinen Augen. Bleich und traurig schmachtete er herauf. Lola sagte:
„Wie ist er schön! Ich habe noch nie einen schönen Mann gesehen.“
Die dicke Jenny störte sie diesmal nicht: im Gegenteil, sie fragte, ob Lola seine Bekanntschaft machen wolle, sie begleite sie gern. Lola schrak zurück, sie wußte noch nicht, wovor. Aber am Sonntag wartete sie mit ihrem ganzen Wochengeld. Der Italiener kam, nur war er betrunken und kotbespritzt, fing Streit an und ward verhaftet. Lola warf aufs Geratewohl ihre zehn Mark hinunter und rettete sich.
Die Trennung von dieser Liebe war hart. Wochenlang zuckte Lola schmerzlich zusammen, pfiff jemand auf der Straße eine von des Italieners Arien. Bei der Ankündigung der Oper, aus der sie stammten, geriet Lola in Erregung und verlangte hin. Sogar die Begleitung der Ratte nahm sie mit in den Kauf. Auf ihrem Balkonplatz bekam sie Herzklopfen; aber wie sie sich den Leierkastenmann vor Augen rufen wollte, bemerkte sie, daß sein Bild unauffindbar war, und daß nur die Klänge und Gebärden von dort drüben sie erfüllten und bewegten. Ihr schien es der erste Theaterbesuch; und alles mutete sie wie eigene tiefe Erinnerungen an. Woran sie jemals ahnungsvoll gerührt hatte, das war hier aufgeschlossen und entzaubert. Der letzte Duft schöner Blumen, Namen, Gesichter schien hier herausgepreßt. Die Worte klangen alle voller und sinnreicher, die Dinge hatten höhere Farben, die Mienen erglänzten inniger. Hier wiederholte sich, hätte man meinen sollen, das Leben Lolas in stärkerem Licht: als habe sie dort auf der Bühne ihr eigenes Herz, höher schlagend, vor Augen. Alles, wofür man sonst keine Verwendung wußte, konnte hier spielen. Man konnte sich ganz geben, wie man war; denn die Menschen hielten endlich das, was man sich von ihnen versprach. Der Held dieser Oper war so edel, wie Herr Dietrich hätte bleiben sollen, und so schön wie der Italiener, ohne sich dabei zu betrinken.
Bei der Heimkehr war es Lola, als habe sie nun ein Zauberwort erfahren: Schauspielerin, und sei dadurch erlöst und mit sich selbst bekannt gemacht.
„Wie sonderbar!“ dachte sie im Bett und starrte zur dunklen Decke hinauf; „das also bin ich!“ Erneste rührte sich, und Lola hätte sie fast, in rascher Regung, aufgeweckt und ihr Schicksal Erneste offenbart. Noch hielt sie zurück; sie hatte sich erst selbst an seine Erkenntnis zu gewöhnen. Beim Aufwachen aber erschütterte sie sogleich ein großer Jubel; sie machte sich schnell fertig und lief zu Erneste, gerade so herzhaft und ohne Arg, wie damals, als sie mit der Nachricht kam, der Frühling sehe aus wie Herr Dietrich.
„Erneste!“ rief Lola, „weißt du, was ich werden will? Schauspielerin!“
„Auch gut,“ erwiderte Erneste und befestigte gelassen den Papierdeckel auf einem Glas mit Eingemachtem. Lola erklärte freudig:
„Gestern im Theater habe ich es gemerkt, und jetzt weiß ich es ganz genau.“
„Dummes Kind; trinke lieber deinen Kakao.“
„Warum, dumm? Ich glaube, daß ich Talent habe.“
„Das glaube ich auch: du rezitierst sehr niedlich; deswegen verfällt aber doch kein verständiges Mädchen auf solches dumme Zeug. Möchtest du wohl einen Löffel Gichtbeerenkompott?“
Verwirrt ließ Lola sich den Löffel in den Mund schieben.
„Nun geh, Kind,“ sagte Erneste, und Lola ging, den Kopf gesenkt. Vor der Tür zum Frühstückszimmer richtete sie sich auf und kehrte nach der Speisekammer zurück.
„Erneste!“
Lola war blaß, ihre Stimme hatte gezittert; Erneste sah sie sprachlos an.
„Erneste, du hast so getan, als ob es Scherz wäre. Es ist mir aber ganz ernst.“
„Um so schlimmer,“ sagte Erneste, polternd vor Schrecken. „Geh ins Klassenzimmer und erwarte, welche Strafarbeit ich dir aufgeben werde!“
„Ich will alle Strafarbeiten machen, die du mir aufgibst, Erneste. Aber ich bin fest entschlossen, Schauspielerin zu werden.“
Lola redete das wie ein Diktat; irgend eine Macht weihte sie zum Sprechen.
„Es ist das erste Mal, daß ich so zu dir spreche, Erneste: daraus kannst du ersehen, wie wichtig dies ist,“ sagte sie sanft, mit feuchten Augen; denn Erneste tat ihr leid. Erneste war auf einen Holzschemel gefallen; ihre von Fruchtsaft blauen Finger lagen wie tote kleine Soldaten durcheinander im Schoß; ihr Gesicht war ganz lang und über alle Maßen verstört.
„Was kannst du denn auch dagegen haben,“ meinte Lola, „wenn ich es nun einmal als meinen Beruf erkannt habe.“
Da aber kam alles wieder zu Leben an Erneste; sie sprang auf.
„Dein Beruf? Eine unanständige Person zu werden, das soll dein Beruf sein? Dazu habe ich dich durch sieben Jahre auf Gottes Wegen erhalten? Du weißt nicht, was du redest: das ist das einzige, was mir noch Hoffnung läßt. Jenny, mein Kind, sie weiß nicht, was sie redet; schweige um Gotteswillen über das was du gehört hast!“
Lola wandte sich um: in der Tür stand die dicke Jenny und sah sie mit heuchlerischem Entsetzen an.
„Du begreifst, Jenny, wenn sie dabei bliebe, das wäre noch schlimmer als das mit Susanne, und davon habe ich doch schon graue Haare. Versprich mir, mein Kind, daß niemand etwas erfahren soll!“
Jenny versprach es artig. Dann entließ Erneste sie; und da sie unbeachtet stand, ging auch Lola. Ernestes Aufregung begriff sie nicht. Lola wollte zur Bühne und möglichenfalls dieselben Stücke spielen, die in der Klasse gelesen wurden. Was hatte das mit Susanne zu tun, die weggeschickt war, weil sie irgend etwas, nicht recht verständliches, mit dem Gärtner zu tun gehabt haben sollte? Lola saß in Rätseln; aber schon nach der ersten Unterrichtsstunde fing sie neugierige Blicke auf, die sogleich, mit künstlicher Fremdheit, weggelenkt wurden; und auch die Lehrerin, die jetzt darankam, starrte erst einmal Lola recht unverschämt forschend ins Gesicht, und dann richtete sie plötzlich das Wort an eine andere. In der Pause bemerkte Lola, daß manche ihr auswichen, und daß einem harmlosen Mädchen, mit dem sie sprach, von Jenny und mehreren andern so lange bedeutsam gewinkt ward, bis es sich verlegen von Lola losmachte. Lola ging gradeswegs auf Jenny zu: was das eigentlich heiße. Jenny wendete sich gepeinigt hin und her, murmelte, als sei sie um Lolas willen in Sorge, daß nur keine es höre: das wisse Lola wohl selbst am besten; und rasch tauchte sie in einen Kreis Schwatzender.
Ernestes Benehmen war noch viel auffallender. Lola erinnerte sich nicht, daß Erneste jemals länger als eine Nacht mit ihr böse gewesen war. Am Morgen hatte sie sich immer anmerken lassen, daß sie gern versöhnt werden wolle. Dabei ging sie beinahe bittend zu Werke; infolge jeder von Lolas Ungezogenheiten war Erneste es, die gewissermaßen Vergebung suchte, und deren Miene um ein gutes Wort warb. Lola bat schwer um Verzeihung. Wenn sie sich dazu entschloß, tat sie’s aus Mitleid mit Erneste. Das junge Mädchen dachte dann an des Kindes erste Begegnung mit Erneste: als Erneste zuerst streng auf sie eingedrungen und plötzlich, wie sie Lolas Tränen sah, ganz aus der Fassung geraten war. So ging es immer. Erneste schien sich manchmal viel zu dünken, und plötzlich fiel sie in Schüchternheit. Nachdem sie anfangs ihre gnädige Gesinnung als Belohnung hingestellt hatte, bemühte sie sich schließlich um Lolas Zuneigung. Was sie bekam, war eine etwas geringschätzige Freundlichkeit.
Jetzt aber gebärdete sich Erneste, Tag um Tag, traurig und behutsam gegen Lola: wie wenn Lola schwer krank sei und man könne mit ihr nur noch wenig und leise reden. Lola sah: auch die wohlwollenden Mitschülerinnen bekamen davon die Empfindung, Lola sei aufgegeben; — und sie selbst geriet über sich ins Unklare. Hätte Erneste ihr Szenen gemacht! Lola würde sich versteift, sich behauptet haben. So erschien, was sie gewagt hatte, allmählich ihr selbst als etwas Ungeheuerliches. Keine andere also war dessen fähig! Lola fühlte sich abgesondert, ihre Schritte unheimlich gedämpft, ihr ganzes Dasein fragwürdig. „Bin ich denn anders als alle?“
Da erinnerte sie sich gewisser Träume, gewisser ahnender, grübelnder Gefühle, für die sie, kam sie damit heraus, nirgends Verständnis gefunden hatte. Befremdet und etwas peinlich berührt, hatte man sie stehen gelassen. Die besten hatten gutmütig gelacht. Auch das mit Herrn Dietrich und dem Frühling fiel Lola wieder ein: und nun bedeckte sie, im verschlossenen Schlafzimmer, die Augen mit den Händen, glühend rot durch diese vor Jahren gesprochenen Worte. Plötzlich richtete sie sich auf.
„Und ich bin doch so!“ sagte sie laut vor sich hin, und:
„Auch ich habe mein Recht!“
Sie überlegte:
„Sollte alles daher kommen, daß ich aus einem andern Lande bin? Wenn im Sommer alle stöhnen, dann wird mir erst wohl. Natürlich: ich gehöre gar nicht hierher! O, zu Hause, wie viel schöner war es zu Hause!“
Irgend ein glänzendes Bild aus Kindertagen war ihr unvermutet durch den Sinn geschossen; sie hielt den Atem an: es war fort. Durch Nachdenken wollte sie ihre Gefühle von einst zurückbannen: es kam nichts; und als sie endlich eins zu halten meinte, war es nur die Erinnerung an eine Ansicht aus den Tropen, die sie kürzlich in einer Zeitschrift gesehen hatte. Klagend trat sie ans Fenster, die Schultern hochgezogen, als träfe sie der kalte Regen, der gegen die Scheibe schlug.
„Hier bin ich nicht heimisch geworden; und das, was meine Heimat war, habe ich vergessen. Wohin gehöre ich denn?“
„Drüben hatte ich meine Familie und meine Freunde. Drüben verstanden alle mich. Drüben war ich glücklich.“
Und bittere Gedanken richteten sich gegen den Vater, der sie losgerissen und verbannt hatte.
„Warum grade mich? Nene hat dort bleiben dürfen. Pai kann mich niemals lieb gehabt haben!“
Lola überdachte seine Briefe und fand sie kalt. Gleichwohl schrieb Herr Gabriel ihr jeden zweiten Monat; und nur sein besonnener kaufmännischer Stil war schuld, daß seine Sätze kühl klangen. Lola war nicht gestimmt, die Liebe zu fühlen, die hinter den Worten bebte.
„Niemals hat er mich besucht, in all den Jahren!“
„Und wie grausam ist er gegen Mai gewesen! Mai, die weinte und mich festhalten wollte, als der große Schwarze mich forttrug!“
Das ganze phantastische Grausen jener Sturmnacht entstand noch einmal in Lola; und mit der Kinderangst von einst wallte Sehnsucht auf:
„Mai!“
Die Arme ausgestreckt:
„Mai! Mai!“
Ein weißer, glänzender Nebel erschien vor Lolas Augen und, weich darum gelegt, ein Rahmen aus dunklem Haar. Lola wollte Züge hervorlocken: der Nebel blieb leer; er drohte wegzufließen. Sie flüsterte bange Koseworte, hielt in ekstatischer Beschwörung dem Phantom ihrer Mutter die Lippen hin: umsonst. Lolas Kraft war aus und das Bild zerronnen.
Sie ergab sich nicht; sie suchte, mit einem Blick der Not, nach Hilfe umher, nach einem Anhalt — und traf auf eine alte Schreibmappe. „Mais Brief!“ Sie wühlte ihn heraus, legte aufschluchzend ihre Wange in das alte Papier. „Das kommt von Mai!“ Jeder dieser kleinen flüchtigen Buchstaben war ein Geschenk von Mai an Lola. Sie las darüber hin, lange Zeit. Dann enträtselte sie, mit Hilfe des Französischen, einige Worte. Dann sprach sie sie laut, fügte andere hinzu und horchte jedem nach, mit offenem Mund und seitwärts gewendeten Augen. Dazwischen erregtes Lachen: ja, so klang es. Ein Jubelruf: das war Mais Stimme! So sagte Mai dies! O, und dies war die schwarze Anna; und dies —. Die Namen ehemaliger Freundinnen klangen mit; ein Gesicht sprang aus einer Silbe, eine Begebenheit. Lola wußte nicht mehr, wohin sie lauschen sollte. Ihr Geist stürzte hinter alledem her, nach allen Seiten, wie ein Kind hinter Schmetterlingen. Minutenlang war sie glücklich. Schließlich zerflatterte alles; — aber Lola war nun gewiß: „Ich muß hinüber! O, gleich, gleich an Pai schreiben!“ Sie setzte sich daran, wollte schmeicheln, Pai günstig stimmen und fand vor fieberhaftem Drängen keine Worte. „Kann ich nicht telegraphieren? Kann ich nicht fliehen? Sofort? Sofort?“ Sie irrte, hochatmend, durchs Zimmer. Notdürftig gesammelt, schrieb sie:
„Lieber Pai, darf ich jetzt nicht bald zu Euch zurück? Du wolltest wohl, daß ich hier etwas lernen sollte. Ich kann Dir versichern, ich habe schon viel gelernt.“
Was sagte dies! Gegenüber erblickte sie ihr Spiegelbild in einem fremden Raum: in dem Raum, der sie seit sieben Jahren umfing und nun aussah wie ein Zufallsquartier zum Übernachten. Sie dachte ihr Gesicht neben denen draußen, ringsumher: lauter Gesichter mit anderen Wesenszügen, geformt von einem fremden Blut. Im Geist hörte sie die Stimmen: anders fallende Stimmen, Künderinnen fremder innerer Gewohnheiten. Sie schrieb:
„Ich hätte Dir noch viel zu sagen; aber ich kann mich nicht recht ausdrücken, da ich ja keine Sprache ganz beherrsche. Bitte, erlaube mir, daß ich kommen darf. Ich grüße Nene und Mai. Wäre es nicht möglich, daß ich ein Bild von Mai bekäme?“
Im Gefühl, sich gerächt zu haben, ging Lola zu den andern. Sie benahm sich so entschieden und selbstbewußt, daß Jenny mit ihr reden mußte und Erneste sie nicht länger durch leises Sprechen für krank ausgeben konnte. Am Abend fing sie sogar mit einer Streit an und, entgegen ihrer Alltagsnatur, bereute sie nichts von dem, was sie im Zorn gesagt hatte.
Sie blieb hochgemut: wie konnte Pai ihre Bitte abschlagen! — und inzwischen sammelte sie Anhängerinnen, denen sie den Ton angab, denen sie half, am Sonntag, bei den lebenden Bildern, in Kostümen und Kunst der Stellung die andern zu besiegen. Die Pension spaltete sich; die eine der Parteien scharte sich um Jenny, die andere um Lola, und jede warb mit Leidenschaft um die draußen wohnenden Schülerinnen. Erbitterte und wortlose. Kämpfe wurden bestanden. Einmal ward das Ziel des Ehrgeizes darin entdeckt, als erste beim Frühstück zu sein; aber mochten Jennys Freundinnen bei kaum grauendem Tag hinabschleichen: Lola mit den Ihren saß doch schon am Tisch. Am Abend hatte sie von sich zu den andern, unter den Stubentüren hindurch, einen Bindfaden geleitet. Jede war mit der Nächsten verbunden; regte sich eine, erwachten alle; und geschlafen hatte keine. Dafür genoß man nun Triumphgefühle, die einen sprengten.
Zu Lolas Hochgefühl wirkte Verachtung mit. Sie übte ihre Macht als Parteiführerin und dachte dabei: „Was ihr alle mich angeht! Wie lange dauert dies überhaupt noch! In vierzehn Tagen ist Pais Brief da!“ Manchmal sah sie Erneste an, die nichts ahnte, und konnte ihr Frohlocken kaum niederringen. Einmal verriet sie sich. Am Sonntag nachmittag hatte Jenny gesungen: etwas peinlich Sentimentales, wobei sie himmelte und die Fingerspitzen auf die Brust setzte. Lola rief aus tiefster Seele:
„Das ist aber über alle Maßen geschmacklos!“
Jennys Anhängerinnen gaben dies nicht zu; nicht einmal unter ihren eigenen waren viele der Meinung Lolas. Die Tochter eines Reichstagsabgeordneten sagte:
„Es war so deutsch.“
„Es war geschmacklos!“ stieß Lola hervor. „Wenn es deutsch war, dann war es eben eine deutsche Geschmacklosigkeit!“
Darauf ward es still; und wie Lola sich bei den Ihren nach Beistand umsah, wichen die Blicke ihr aus, und die Schultern drehten sich hin und her, bis sie aus Lolas Nähe waren. Drüben versetzte eine spitz:
„Du bist eben eine Brasilianerin!“
„Wenn sie das noch wäre,“ entgegnete die Tochter des Abgeordneten. „Aber sie ist nichts: sie ist —“
Mit gekrümmten Lippen, die das Wort unter Selbstüberwindung hervorbrachten:
„International!“
Der Ekel im Gesicht der Sprechenden steckte alle übrigen Mienen an; und als habe man neben sich eine Schande, wandte man sich schweigend zu etwas Anderem. Ein Dienstmädchen trat ein:
„Fräulein Lola, ein Brief für Sie!“
Von Pai! Lola stürzte damit hinaus, schloß sich ein. Sie zitterte; und im jähen Gefühl, in einer äußersten Minute ihres Schicksals zu stehen, murmelte sie: „Mein Gott! Mein Gott!“
Dann erfuhr sie:
„Meine liebe Tochter! Deine Nachrichten habe ich erhalten und ihnen zu meinem Bedauern entnommen, daß die dortigen Verhältnisse Dir nicht mehr so zuzusagen scheinen, wie ich gewünscht und erwartet hätte. Es ist jederzeit für uns von Nutzen, unserer Umgebung Wohlwollen entgegenzubringen; um so mehr aber erscheint dies geboten, wenn wir, menschlicher Berechnung nach, einen großen Teil unseres Lebens am fraglichen Platze verbringen werden. Übrigens denke ich mich in einiger Zeit persönlich nach Dir umzusehen und verspreche ich mir von diesem, nicht durch meine Schuld so lange verschobenen Wiedersehen eine bedeutende Genugtuung. Somit halte ich ein Herkommen deinerseits zurzeit nicht für angezeigt. Du darfst versichert sein, daß wir nicht mehr allzu lange getrennt bleiben werden, und daß, wenn ich einst in der Lage sein werde, meinen Wohnsitz ganz nach dort zu verlegen, auch Deine Mutter mit hinüberkommen wird. Deine Mutter grüßt Dich, kann Dir jedoch das gewünschte Bild nicht schicken, da sie sich neuerdings auf keiner Photographie mehr getroffen findet.“
„Über das, mein liebes Kind, was wir im Leben sein werden, entscheidet das Blut, welches wir bei unserer Geburt mitbekommen. Unter einem nicht blutsverwandten Volk werden wir uns niemals vollkommen wohl und heimisch fühlen. In Dir, meine Tochter, fließt, wie ich hoffe und glaube, ein vorwiegend deutsches Blut, und als deutsches Mädchen gedenke ich Dich dereinst wiederzufinden. Es wird Deine Aufgabe sein, Dich dort mehr und mehr heimisch zu machen.“
„Nimm diese Worte von Deinem Vater mit Liebe auf. Es ist und kann ja nur mein einziger Wunsch sein, Dich glücklich und zufrieden durchs Leben schreiten zu sehen.“
Lola war fertig und nahm doch das Blatt nicht von den Augen. Kein Bild von Mai: nicht einmal das! Nicht nach Hause, kein Bild, kein gutes Wort. Denn diese alle hörten sich hart und verständnislos an. Sich heimisch machen! Hier, wo sie noch soeben beschimpft und geächtet war! Pai wußte nichts; niemand wollte etwas wissen von Lola. Alles aus, alles aus.
„Was ist dir?“ fragte, als es zum Essen geläutet hatte, teilnahmsvoll Erneste. „Du hast doch keine schlechten Nachrichten von den Deinen?“
„O nein, es geht ihnen gut; aber mir selbst ist nicht wohl.“
Sie bekam die Erlaubnis, sich sogleich niederzulegen, und war froh, als der Arzt ein wenig Fieber feststellte. Im Bett bleiben, niemand sehen, nur nicht den Blicken der Fremden ausgesetzt sein. Lola fühlte gar keinen Mut, sich zu behaupten. Wie sie, drei Tage später, sich wieder zeigte, genoß sie die Vorrechte der Genesenden, durfte schweigen und Launen nachgeben. Sie saß bleich und schwach da, und anstatt einer Lehrerin zu antworten, musterte sie sie, als erblickte sie sie zum erstenmal. Was für ein Gesicht war doch dies; wie viel Unschönes enthielt es! Diese immer geärgerten Augen, die gelben Schläfen, die kleinlichen Falten, die den Mund zerkniffen! Vor Lolas starrem Blick ward es älter, immer älter und endlich zur Mumie. Erschreckt riß sie sich los. Wenig später aber sah sie sich im Gesicht einer rezitierenden Mitschülerin fest, dessen Leere sich Lola plötzlich auftat wie ein Abgrund.
Das ward zur Sucht. Sie las aus einem der vielen Gesichter, die ihr jetzt abstoßend schienen, alle in der Familie möglichen Abweichungen des Typus heraus, und ward bedrängt von Fratzen. Die Dummheit oder Gewöhnlichkeit gewisser Züge überwältigte sie täglich wieder, wuchs ihr entgegen, wie eine Sonne, in die man fällt. Lola atmete dann kürzer und meinte zu verblöden.
Sie bekam einen quälend feinen Sinn für das Alberne eines Tonfalls und das Untergeordnete einer Gebärde. Sie frohlockte und litt bei jeder Geschmacklosigkeit, die jemand beging. Sie legte eine Liste der Armseligkeiten an, die um sie her geschahen und geredet wurden, und las darin mit bitteren Rachegefühlen. So waren ihre Feindinnen! Denn Lola war überzeugt, daß alle sie haßten, und sie erwiderte es ihnen. Aus jeder Gruppe von Mädchen glaubte sie ihren Namen zu hören; sie trat herzu: „sprecht weiter, bitte“; und ihre Stimme, die sie aus ihrer Einsamkeit unter die Feinde schickte, wollte höhnisch sein und war unsicher. Eines Abends beim Teemachen explodierte die Spiritusmaschine und überschüttete Lola mit blauen Flämmchen. Während sie noch mit einer Serviette ihr Kleid abtupfte, rief sie schon: