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III

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Lola war al­lein.

Sie wein­te auf ei­ner Bank, zu­sam­men­ge­krümmt, lan­ge und wild. Das Fräu­lein stand an­fangs da­bei und flüs­ter­te hier und da ein Trost­wort, das fra­gend klang, als wis­se sie es selbst nicht ge­nau. Dann mach­te sie ei­ni­ge Schrit­te, sah sich war­tend um, ver­schwand im Hau­se. Bald kam sie wie­der und rief sehr mun­ter, ob Lola die­sen schö­nen Pfir­sich möge. Als aber das Kind zor­nig den Kopf schüt­tel­te und wil­der schluchz­te, zog das Fräu­lein sich so rasch zu­rück, als flö­he sie.

Die Glo­cke läu­te­te wie­der, und Lola ließ sich fort­füh­ren, weil das Fräu­lein ihr sag­te, nun wür­den die Mäd­chen kom­men und sie wei­nen se­hen. Das Fräu­lein öff­ne­te die Tür zu ih­rem ei­ge­nen Zim­mer: da sprang kläf­fend ein klei­ner wei­ßer Spitz auf Lola zu, und Lola, die da­heim vor Groß­pais rie­si­gen Hun­den kei­ne Furcht ge­habt hat­te, wich mit ei­nem Auf­schrei zu­rück.

»Ami!« rief das Fräu­lein und re­de­te, zu ihm nie­der­ge­beugt, ernst­haft auf den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hat­ten sich ge­gen­sei­tig er­schreckt, und der Hund muss­te hin­aus – wo er win­sel­te.

Nun kram­te das Fräu­lein in ei­nem Schrank, zog ein großes bun­tes Buch her­vor und hielt es Lola ent­ge­gen. Sie woll­te Lola auf einen Sche­mel set­zen. Lola glitt da­mit aus, griff um sich und warf ein Glas Was­ser über die Hand­ar­beit, ne­ben der es ge­stan­den hat­te. Das Fräu­lein strich ihr die Wan­ge und lä­chel­te. Dann schlug sie das bun­te Buch bei der ers­ten Sei­te auf – es war ein Affe dar­auf, ein Ast und noch meh­re­re Din­ge – und wie­der­hol­te, auf den Af­fen zei­gend, ein Wort: im­mer nur das eine. Zu­erst be­ach­te­te Lola es nicht; dann merk­te sie wohl, dass sie es nach­spre­chen sol­le, aber sie schwieg; und die­se Ra­che für al­les, was mit ihr ge­sch­ah, tat ihr wohl. Trotz­dem rich­te­te das Fräu­lein sei­nen Fin­ger jetzt auf den Ast und sag­te dazu ein an­de­res Wort, vie­le Male. Sie führ­te Lola auch zu ei­nem wei­ßen Turm, der in ei­ner Ecke des Zim­mers rag­te, und zu dem Schirm, der da­vor­stand; dar­auf wa­ren aus bun­ten Per­len eine Dame und ein Kind und zu bei­der Fü­ßen ein Tier, das Lola nicht kann­te. Es schi­en ihr sanft, zärt­lich, zum Zer­bre­chen fein, und sei­ne großen Au­gen glit­zer­ten, als sei­en sie voll Trä­nen. Mit­leid durch­schau­er­te Lola, mit dem Tier, mit sich selbst – und da stam­mel­te sie das Wort nach, das das Fräu­lein ihr schon längst vor­sag­te: »Reh«, und wein­te, lei­se und ohne Trotz.

Wie die Trä­nen ge­stillt wa­ren, nahm das Fräu­lein sie mit zum Es­sen, an eine lan­ge Ta­fel, wo vie­le Mäd­chen schwatz­ten und klap­per­ten. Lola aß nichts, aus Trau­rig­keit; sie saß be­täubt da, er­schrak, wenn ihr Name ge­nannt ward, und dach­te, weh und wund: »Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Wa­rum hat Pai mich nicht mit­ge­nom­men?« Nach Tisch ward sie in den Gar­ten ge­bracht, aber sie schüt­tel­te den Kopf und ging dem Fräu­lein nach, bis sie wie­der im Zim­mer und bei dem Reh war; denn das war hier ihr ein­zi­ger Freund. »Reh, Reh«, flüs­ter­te sie ihm zu. Das Fräu­lein küss­te sie lei­se auf die Lo­cken und ließ sie mit ih­rem Ka­me­ra­den al­lein. Als Lola spä­ter zu Bett ge­legt wer­den soll­te, hat­te sie sich schon in Schlaf ge­weint.

Beim Er­wa­chen in hel­ler Son­ne fiel ihr als ers­tes das Reh ein, dann der Spitz Ami. Sie be­dach­te vie­les Er­leb­te und auch, ob sie dies Zim­mer schon ken­ne. Neu­gie­rig sah sie sich dar­in um. Noch ein an­de­res Bett stand da, aber es war schon ver­las­sen. Sie ließ sich aus dem ih­ren glei­ten und trip­pel­te um­her. Da trat das Fräu­lein her­ein, hob Lola auf ih­ren Arm, zeig­te sich auf die Brust und sag­te mehr­mals:

»Er­nes­te.«

Lola hat­te in ih­rem rot­ge­schla­fe­nen Ge­sicht­chen große, auf­merk­sa­me brau­ne Au­gen, die, auf den Mund des Fräu­leins ge­rich­tet, ganz lei­se seit­wärts hin und her rück­ten; ihre blon­den Lo­cken hin­gen wirr ge­rin­gelt, die leich­ten Li­ni­en ih­rer Lip­pen füg­ten sich fein in­ein­an­der, und am Sau­me ih­res Hemd­chens strei­chel­ten sich ihre ro­si­gen klei­nen Füße. Sie äu­ßer­te nichts; aber als sie fand, das Fräu­lein habe ge­nug »Er­nes­te« ge­sagt, nick­te sie be­däch­tig, zum Zei­chen, dass sie ver­stan­den habe.

Sie be­kam ih­ren Ka­kao, grub im Gar­ten, ward, wie die Glo­cke ge­läu­tet hat­te, von den Mäd­chen in ei­nem Rin­gel­rei­hen ge­schwenkt und dann wie­der von Fräu­lein Er­nes­te in das Zim­mer des Re­hes ge­holt. Der Spitz Ami knurr­te nur, und er we­del­te da­bei. Lola soll­te auch heu­te »Affe« und »Ast« nach­spre­chen. Sie tat es zer­streut, sah da­bei im­mer das Reh an; sie hat­te kei­nen Sinn für die Din­ge, auf die Er­nes­te sie jetzt noch hin­zu­len­ken wünsch­te; und nur zu­fäl­lig be­merk­te sie, dass es sich um die zwei­te Sei­te des bun­ten Bu­ches han­del­te und dass dort je­des Bild mit ei­ner Mar­zi­pan­schei­be be­deckt war. Nahm man sie weg, ka­men dar­un­ter zum Vor­schein: ein Baum, ein Bä­cker, ein Bot­tich. Sie er­lern­te die­se Wor­te in großer Eile, um zu er­fah­ren, was auf der drit­ten Sei­te wäre.

Von die­sen Er­leb­nis­sen, die sie in­ter­es­siert hat­ten, woll­te sie bei Tisch – war nicht heu­te al­les lus­ti­ger bei Tisch? – ih­rer Nach­ba­rin er­zäh­len, ei­nem Mäd­chen, das nur we­ni­ge Jah­re äl­ter sein konn­te. Sie er­zähl­te aus­führ­lich, die an­de­re aber lach­te nur und stieß eine drit­te an. Lola, in Ei­fer, kam von dem Reh auf die Tie­re da­heim, sprach von da­heim und von Nene und Mai. Plötz­lich ward sie inne, dass alle still wa­ren, zu bei­den Sei­ten des Ti­sches, und sie an­sa­hen: die meis­ten mit Neu­gier, ei­ni­ge spöt­tisch – und kei­ne, er­in­ner­te sie sich nun, kei­ne ein­zi­ge hat­te sie ver­stan­den! Er­rö­tet, rat­los be­schämt, sah sie die Rei­hen ent­lang, konn­te, zit­tern­den Ge­sich­tes, die Trä­nen noch ge­ra­de hin­un­ter­schlu­cken und beug­te sich mit ei­nem klei­nen ein­sa­men Lä­cheln über ih­ren Tel­ler.

Nun kam eine Stun­de, in der al­les durchs Haus sprang und sang. Auch Lola soll­te sin­gen, sie tat nur so, als be­grif­fe sie nicht. Da fass­te aber Er­nes­te ihre bei­den Arme, und die Nase kraus vor Freund­lich­keit und wäh­rend alle um­her­stan­den, sag­te sie ihr meh­re­re Wor­te, de­ren je­des un­ge­fähr klang wie »sin­gen«, nur nicht ganz. Schließ­lich aber fand sie’s wirk­lich: sin­gen; und da sang Lola. Sie sang nä­selnd: »Ihr Ne­ger­kna­ben mei­nes Va­ters …«, schloss da­bei halb die Li­der und sah nun al­les, was sie sang, sah die Hei­mat … Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwarm der auf sie Ein­re­den­den weit fort.

Eine Wei­le dar­auf fiel ihr ein, dass sie die­ses Lied ein­mal bei der deut­schen Groß­ma­ma ge­sun­gen hat­te. Selt­sam: an den Auf­ent­halt bei der Groß­ma­ma hat­te sie noch gar nicht wie­der ge­dacht; ihr war, als sei sie von der Gro­ßen In­sel gra­des­wegs hier­her ver­schla­gen, und al­les da­zwi­schen war ver­wor­ren wie ein Schiff­bruch. Nun kam ihr eine Frat­ze in den Sinn, die der lus­ti­ge On­kel ein­mal ge­schnit­ten hat­te, und von da aus fand sie sich in al­lem wie­der zu­recht. Ach! Das war doch Lo­las Groß­ma­ma, denn Pai war ihr Sohn, und sie hat­te ihn lieb. Eine auf­zu­cken­de Hoff­nung: Ob Pai nicht bei ihr war? Dass Lola dar­an nicht frü­her ge­dacht hat­te! Pai war nicht ab­ge­reist, er war bei sei­ner Mama! Lola ging zu Fräu­lein Er­nes­te und sag­te: »Groß­ma­ma« – nur das eine, bit­ten­de Wort; und Er­nes­te ver­stand es, sie ließ Lola hin­füh­ren.

Die Groß­ma­ma brei­te­te die Arme aus, Lola aber lief, ohne ih­rer zu ach­ten, um sie her­um: »Pai! Pai!« – in sein Zim­mer, in das Wohn­ge­mach, in den Gar­ten: »Pai! Pai!« Sie kehr­te von ih­rer ver­geb­li­chen Run­de wie­der.

»Wo ist Pai?«

Die Groß­ma­ma be­deu­te­te ihr et­was, Lola wuss­te wohl, was, aber sie glaub­te ihr nicht. Ei­ner der On­kel kam, die Magd ward ge­ru­fen, und alle wie­der­hol­ten das­sel­be. Lola schüt­tel­te nicht mehr den Kopf, aber ihre Mei­nung stand fest. Zu­letzt er­schi­en der lus­ti­ge On­kel und wünsch­te ihr Gu­ten Tag in ih­rer Spra­che. Im­mer die zwei Wor­te, die er sich einst von Pai hat­te ins Ohr sa­gen las­sen. »Dum­mer Pa­pa­gei«, dach­te sie, und sie ver­lang­te fort.

Sie späh­te in je­des Hau­stor, zerr­te ihre Beglei­te­rin in die Lä­den, die sie mit Pai be­sucht hat­te, und auf ei­nem lee­ren Platz, wo es weh­te, blieb sie ste­hen und rief fle­hent­lich »Pai!« Keins der trä­gen Fens­ter öff­ne­te sich; es fror Lola bit­ter­lich, und die Magd zog sie fort.

Aber für das bun­te Buch war sie nicht mehr zu ha­ben, nicht mehr für den Gar­ten und kaum noch für das Reh. Sie sah je­den mit Miss­trau­en an, der ein Wort zu ihr sprach: eins die­ser un­ver­ständ­li­chen Wor­te, de­ren Geräusch um sie her war. Zu Fräu­lein Er­nes­te sag­te sie: »Das ist nicht wahr«, ob­wohl sie gar nicht wuss­te, was das Fräu­lein ge­meint hat­te; bei Berüh­run­gen brach sie in Ge­schrei aus; und ihr Drang war im­mer: auf die Stra­ße, durch die Stadt, und in die Häu­ser spä­hen. Sie schrie, bis das Fräu­lein ängst­lich ward und sie hin­ausließ. Das dau­er­te meh­re­re Tage.

Dann wich Lo­las Glau­be. Sie hat­te ge­wiss in je­dem Win­kel nach­ge­se­hen und über­all ihr »Pai!« ge­ru­fen. So woll­te Pai sie wohl nicht hö­ren, oder er war wirk­lich fort. Ja, er war fort; die Leu­te hat­ten recht. Aber dann hat­te Pai selbst sie ver­ra­ten und un­ter die­sen Frem­den zu­rück­ge­las­sen. Wem also war noch zu trau­en? Scheu sah das Kind sich um. In die­sen Ta­gen brach ein Ge­wit­ter aus; und Lola – wie hat­te sie da­heim zu ur­welt­li­chen Un­wet­tern ge­jauchzt! – ward von je­dem die­ser Blit­ze in eine an­de­re Zim­me­r­e­cke ge­scheucht, bleich und mit ge­schlos­se­nen Lip­pen; denn nie­man­des Hil­fe wuss­te sie an­zu­ru­fen.

Ward Lola jetzt um ihr Lied ge­be­ten, schüt­tel­te sie, mür­risch und ver­le­gen, die Schul­tern. Auch sprach sie nicht mehr, und sie dach­te ganz Un­ge­wöhn­li­ches. »Ich wer­de viel­leicht sehr krank wer­den und kann dann nie­man­dem sa­gen, wo es weh tut, und muss im­mer so schrei­en, wie da­mals der Ne­ger schrie, der ein Loch im Ma­gen hat­te.« Wenn sie al­lein im Zim­mer war und mit sich selbst und ih­ren Pup­pen plau­der­te, muss­te sie manch­mal lau­schen: so selt­sam klein und al­lein klang ihr die ei­ge­ne Stim­me. Und sie fühl­te es plötz­lich, tief in ih­rem er­schau­ern­den Her­zen, es gäbe im Hau­se und in der gan­zen Stadt und auf al­len Stra­ßen, die hin­aus­führ­ten, kei­nen Men­schen, der, wie die da­heim, zu ihr sa­gen kön­ne: »Mei­ne klei­ne Lola, mei­ne lie­be klei­ne Lola.« Sie flüs­ter­te die er­sehn­ten Wor­te vor sich hin und sah da­bei ihre Pup­pen an. Da be­merk­te sie, dass auch die Pup­pen sie ihr nie sa­gen und, was sie ih­nen vor­plau­der­te, nie ver­ste­hen wür­den: wa­ren doch auch sie aus die­sem frem­den Lan­de. Sie schob sie weg. Und selbst das Reh! Da­heim gab es kein sol­ches Tier, und es wuss­te nichts von Lola. »Hörst du denn nicht?« bat sie, mit Trä­nen. »Reh! Reh!« Aber das Reh sah sie fremd an.

Lola war al­lein.

*

Am Sonn­tag ward sie wie­der zur Groß­ma­ma ge­bracht. Sie be­nahm sich scheu und ver­dros­sen; man ver­lor end­lich die Ge­duld und über­ließ sie nach dem Es­sen sich selbst. Un­zu­frie­den, weil nie­mand mehr sich um sie be­küm­mer­te, drück­te sie sich im Gar­ten um­her. Wie es kalt war in die­sem Lan­de! Ängst­lich und feind­se­lig sah sie zu den grau­en Wol­ken hin­auf, die her­ab­droh­ten. Der Pa­vil­lon, der sie am ers­ten Tage ver­steckt hat­te, da­mals, als sie schon vor­aus­ge­ahnt hat­te, Pai wer­de sie al­lein las­sen: heu­te stand er of­fen, und Lola be­trat ihn. Es wa­ren wun­der­li­che alte Mö­bel dar­in; sie be­müh­te sich, einen Wand­schrank zu öff­nen – da ge­sch­ah ein Pol­tern un­ter ihr. Sie fuhr zu­sam­men. Es pol­ter­te stär­ker, es schlug so­gar ge­gen den Bo­den, auf dem sie stand. Er­starrt, horch­te sie. Ein furcht­ba­rer Krach: nun drang es gleich zu ihr ein; und Lola schrie los, mit al­len Kräf­ten höchs­ter Not:

»Der Teu­fel! Der Teu­fel!«

So­fort hör­te das Pol­tern auf, und im nächs­ten Au­gen­blick stand in der Tür der lus­ti­ge On­kel, ganz bleich, und blick­te Lola zor­nig an. Sie schrie, zu ih­rer Recht­fer­ti­gung und aus Ei­gen­sinn, noch ein­mal: »Der Teu­fel!« Da stürz­te aber der On­kel auf sie zu und leg­te sie über sein Knie … Und nach­dem Lola dies durch­ge­macht hat­te, war es ihr viel leich­ter und sanf­ter. Der On­kel nahm sie bei der Hand und führ­te sie in das Keller­ge­wöl­be un­ter dem Gar­ten­haus. Er zeig­te ihr, wie er Holz ge­hackt habe und wie die ge­schwun­ge­ne Axt manch­mal ge­gen die nied­ri­ge De­cke ge­sto­ßen sei. Was er dazu re­de­te, hat­te einen gu­ten, tröst­li­chen Ton – und Lola ward be­trof­fen und sehr nach­denk­lich. Denn es war klar, dass dies ge­gen alle ihre bis­he­ri­gen Er­fah­run­gen ging. Wenn da­heim aus dem Ur­wald her­aus ir­gend­ei­ne un­ge­wohn­te Stim­me er­scholl, lief es bei den Schwar­zen von Mund zu Mund: »Der Teu­fel«; und blin­zel­te ir­gend­wo ein Licht, das nie­mand kann­te, ward ge­raunt: »Der Teu­fel«. Als der On­kel Holz hack­te, hät­te die schwar­ze Anna nur bei Lola sein sol­len; ganz si­cher wür­de sie ge­wim­mert ha­ben: »Der Teu­fel«. Er war es also nicht? We­nigs­tens nicht im­mer? Das war tröst­lich, und der On­kel war gut, dass er Lola dies ge­lehrt hat­te. Sie lä­chel­te ihm zu. Sie hat­te auf ein­mal alle Men­schen lie­ber, ging ins Zim­mer, um­arm­te die Groß­ma­ma und klatsch­te in die Hän­de bei dem Ge­dan­ken, dass sie auch dem Fräu­lein Er­nes­te et­was recht Lie­bes an­tun wol­le. Eif­rig ver­glich sie im In­nern die schwar­ze Anna mit Fräu­lein Er­nes­te und wun­der­te sich, wie viel nä­her ihr Er­nes­te sei. Die schwar­ze Anna war dumm, mit ih­rem Teu­fel; Lola schäm­te sich ih­rer ein we­nig. Wie sie nach Haus kam, stell­te sie sich vor Er­nes­te hin, sam­mel­te sich und sag­te zu­trau­lich:

»Ast, Boot, Reh, Er­nes­te.«

Da­bei lä­chel­te sie ent­schul­di­gend, denn für ein acht­jäh­ri­ges Mäd­chen war dies na­tür­lich kin­disch; aber was soll­te sie sa­gen? Er­nes­te ver­stand Lola; vor Rüh­rung be­kam sie ein be­küm­mer­tes Ge­sicht und Trä­nen in die Au­gen.

Ei­ni­ge Wo­chen spä­ter schlug sie Lola vor, einen Brief an Pai zu schrei­ben.

»Schrei­be in dei­ner Spra­che.«

Lola tat es; aber sie füg­te mit Ge­nug­tu­ung eine An­zahl ih­rer deut­schen Wör­ter hin­ein: alle wa­ren in ei­nem Brief schon nicht mehr un­ter­zu­brin­gen. Die Ant­wort kam. Auch Herr Ga­bri­el hat­te auf por­tu­gie­sisch ge­schrie­ben; nur am Schluss stand der Satz: »Ich habe dich lieb.« – Und die­se Wor­te, die er noch nie in sei­ner ei­ge­nen Spra­che hat­te äu­ßern dür­fen, wa­ren von ihm mit ei­ner Sü­ßig­keit er­füllt wor­den, die Lo­las schwa­che Hän­de noch nicht her­aus­pres­sen konn­ten. Er­nes­te sah die­se Zei­len lan­ge an und sag­te dann:

»Be­wah­re den Brief gut auf, Kind.«

Den nächs­ten schrieb Lola – sie war vier Mo­na­te bei Er­nes­te – ganz deutsch, und ihr Va­ter ant­wor­te­te eben­so. In­zwi­schen aber war ein Brief an­ge­kom­men; Lola wuss­te nicht gleich, wer ihn ab­ge­schickt habe. Sie war sehr ge­spannt.

»Ah!«

»Nun?« frag­te Er­nes­te.

»Von Mai!« – und sie be­trach­te­te ihn an­ge­strengt.

»Was schreibt dir dei­ne Mama?«

»Ja, ja«, mach­te Lola, und: »Gleich kom­me ich wie­der.«

Sie lief ins Schlaf­zim­mer und buch­sta­bier­te. Mais Schrift sah Lola zum ers­ten Mal; die schö­ne Mai lag im­mer nur in der Hän­ge­mat­te. Wie muss­te sie Lola lieb­ha­ben, dass sie ihr schrieb! Lola küss­te den Brief. Dann ver­such­te sie es noch­mals: nein; wirk­lich, sie ver­stand nichts, oder nur hier und da ein paar Wor­te. »Mai, Mai«, stam­mel­te sie, und plötz­lich wein­te sie. Klein­laut be­rich­te­te sie spä­ter Er­nes­te:

»Jetzt ist es sehr heiß in Rio, schreibt Mai, und hier ist es so kalt.«

Tags dar­auf wuss­te sie:

»Nene war krank und ist nun wie­der ge­sund.«

Sie las im­mer in dem Brief; er hat­te schon Ris­se, Fett­fle­cke und Trä­nen­spu­ren. Ei­nes Mor­gens beim Er­wa­chen fand Lola ihr Händ­chen hoch in der Luft. Im Traum hat­te sie’s nach ei­ner Frucht aus­ge­streckt, die Mai ihr hin­hielt – und zog es nun leer zu­rück. Noch sah sie Mais Ge­sicht: und da ver­stand sie plötz­lich ei­ni­ge von Mais Wor­ten in ih­rem Brief. Schon war Lo­las ers­te Spra­che, Wort für Wort, zu­rück­ge­drängt von ih­rer zwei­ten; neue Ge­sich­ter scho­ben sich ihr vor die al­ten, und eine neue Luft mal­te alle Din­ge an­ders. Drau­ßen schnei­te es; das ers­te Mal hat­te Lola den Schnee für Zu­cker ge­hal­ten, und Mai kann­te ihn noch im­mer nicht. Mai lag in großer Wär­me in ih­rer Hän­ge­mat­te und kann­te, ob­wohl sie Mai war, nichts von al­lem, was Lola sah. Wie rät­sel­haft das war! Lola dach­te sich dar­in fest; sie saß am Bo­den, den Blick nach in­nen, die Lip­pen lei­se ge­löst, und hielt mit al­len Kräf­ten den Ge­schmack sol­ches Ge­dan­kens fest. Manch­mal war es nur ein Wort, ein Name, den sie in sol­cher Wei­se ganz aus­zu­kos­ten such­te: Er­nes­te, wie konn­te je­mand so hei­ßen; Er–­ne–s­te, wie jede der Sil­ben plötz­lich ver­wun­der­lich und ko­misch war. Je­den Au­gen­blick wur­den sie frem­der! Im Früh­ling, auf ei­nem Aus­flug, ward Lola ver­misst und al­lein zwi­schen Wald­hü­geln bei ei­ner Quel­le ge­fun­den. Das nas­se Laub hing um sie her, es roch herb nach Kräu­tern, die Quel­le rann, Lola saß ohne Re­gung. Wor­über sie nach­ge­dacht habe. »Über die Quel­le.« Im Som­mer lag sie oft am Ran­de ei­nes He­lio­trop­bee­tes auf dem Bauch, schob den Kopf zwi­schen die Blu­men und lausch­te in die große Tie­fe die­ses Duf­tes.

Ein Ge­sicht, das sie lan­ge schon kann­te, ward ihr auf ein­mal wie durch­leuch­tet; nun fühl­te sie’s. Ein­mal, im Schul­zim­mer, sah sie, an­statt nach­zu­schrei­ben, un­ver­wandt auf ihre Lieb­lings­leh­re­rin, auf die ra­schen klei­nen Mie­nen und die flin­ken, pi­cken­den Be­we­gun­gen des Fräu­leins.

»Lola, warum siehst du mich im­mer­fort an?« frag­te Fräu­lein Mina. Lola er­klär­te:

»Du aus­siehst wie ein klein Vo­gel.«

Die fran­zö­si­sche Leh­re­rin ward ge­hasst von Lola, be­son­ders seit sie Lola ge­droht hat­te, wenn sie noch län­ger die Kirsch­ker­ne ver­schlu­cke, wer­de ihr ein Kirsch­baum aus dem Hal­se wach­sen. Lola wühl­te sich mit dem Blick in die­ses fet­te, graue, schnüf­fel­na­si­ge Ge­schöpf hin­ein, bis sie in dem Fräu­lein deut­lich eine große, di­cke Rat­te sah und bei ei­ner zu­fäl­li­gen Berüh­rung be­sin­nungs­los auf­schrie!

In eine Vor­stel­lung, eine Be­gier­de konn­te sie sich ret­tungs­los festren­nen, bis zu klei­nen Ver­bre­chen. Ein­mal log sie, in dem un­ver­mit­tel­ten Dran­ge, eine Sa­che ganz für sich zu ha­ben. Nun hat­te sie’s: ein Ge­heim­nis, und kos­te­te ta­ge­lang aus, dass nie­mand wis­se, was sie wuss­te. Das war ein neu­es Le­ben, eine ei­ge­ne Welt! Et­was spä­ter stif­te­te sie, um des Aben­teu­ers wil­len, eine große Ver­schwö­rung an, ver­bun­den mit Dieb­stahl. Zwar han­del­te es sich um die »Rat­te«, die oh­ne­hin je­den Streich ver­dien­te. Mitt­ler­wei­le nann­ten alle sie so; Lola hat­te den Na­men durch­ge­setzt und in vie­len Wi­der­wil­len er­regt ge­gen die Leh­re­rin. Es war nicht schwer, die Mäd­chen zu über­zeu­gen, dass sie der Rat­te eine große, scheuß­li­che Pup­pe ins Bett le­gen müss­ten. Man brauch­te eine Mas­ke, eine Hau­be, eine Ja­cke, eine Bril­le. Das Geld? Man wuss­te doch, wo die Rat­te ih­res auf­be­wahr­te. Es war nur ge­recht, dass sie selbst sich die Pup­pe kauf­te. So ge­sch­ah es. Die Rat­te fiel zu­erst in Ohn­macht, und wie der Ver­lust des Gel­des her­aus­kam, er­litt sie einen Wein­krampf. Lola sah ihn mit an, sie sah den Schmerz des häss­li­chen und gei­zi­gen Ge­schöp­fes, ward hin­ein­ge­zo­gen und leb­te ihn mit, au­ßer sich vor Reue. Sie sah eine di­cke Rat­te sich ängs­ti­gen, die sie ver­gif­tet hat­te, und hät­te gern, wenn es noch mög­lich ge­we­sen wäre, das Gift selbst ge­ges­sen. Sie bat um Ver­zei­hung, nahm so­gar, mit lei­den­schaft­li­cher Selb­st­über­win­dung, die Hand der Rat­te. Den­sel­ben Ekel emp­fand sie auch jetzt noch; aber sie sah die­ses We­sen lei­den, sah un­end­lich mehr da­von, als die an­de­ren sa­hen, und be­griff nicht mehr, wie sie solch Lei­den hat­te zu­fü­gen mö­gen! Viel lie­ber statt an­de­rer lei­den! In man­cher Nacht kam ihr die Fra­ge: »Wenn ich mich le­ben­dig be­gra­ben las­sen soll­te, oder Er­nes­te soll­te ster­ben, oder Mai: was wür­de ich wäh­len?« Sie warf sich seuf­zend und heiß um­her: nun hieß es sich ent­schei­den, das Furcht­bars­te auf sich neh­men. Und plötz­lich war sie hin­durch, sah Licht, war sanft und süß durch­ron­nen und hat­te sich dar­ge­bracht: »Oh, lie­ber, viel lie­ber will ich le­ben­dig be­gra­ben wer­den!«

Sie war er­schüt­tert; ein Drang nach Güte, eine schmerz­li­che Wal­lung von Lie­ben­wol­len hob ihr Herz auf – und da kam recht­zei­tig der neue Ge­schichts­leh­rer, Herr Diet­rich. Er war schüch­tern und iro­nisch, und er sprach im­mer wie zu er­wach­se­nen Da­men. Alle in­ter­es­sier­ten sich für ihn, ei­ni­ge er­kun­de­ten sei­ne Le­ben­sum­stän­de. Er wohn­te mit sei­ner Mut­ter und sei­nen jun­gen Ge­schwis­tern zu­sam­men und un­ter­hielt sie. Wie Lola von sei­nem Le­ben träum­te! Lieb­reich muss­te es da­hin­flie­ßen, voll sanf­ter, gü­ti­ger, ed­ler Ge­dan­ken. Mit zwei an­de­ren, die für ihn schwärm­ten, wag­te sie es un­ter ei­nem Vor­wand, ihn auf­zu­su­chen. Kein Tep­pich lag auf den wei­ßen Die­len sei­nes Zim­mers. Herr Diet­rich stand von sei­nem Schreib­tisch auf, der da­bei ins Wan­ken kam, und deck­te ver­le­gen ein Kis­sen auf einen Riss im Le­der­so­fa. Das gan­ze Haus roch nach sau­rer Milch. Ta­ge­lang er­bit­ter­te Lola sich ge­gen Er­nes­te, die ihn nicht bes­ser be­zahl­te. Alle hät­ten hin­ge­hen sol­len und es ihr vor­hal­ten. Lola son­der­te sich ab, so­oft sie konn­te, lern­te den Leit­fa­den der Ge­schich­te aus­wen­dig, und wenn sie ihn sich wie­der­hol­te, war es ihr, als sag­te sie ihm et­was Lie­bes. Als sie an ei­nem März­tag, es lag noch Schnee, al­lein im Gar­ten ge­we­sen war, kam sie er­regt zu Er­nes­te ge­lau­fen.

»Er­nes­te, ich weiß jetzt, wie der Früh­ling aus­sieht!«

»Wie­so?«

»Wie Herr Diet­rich sieht er aus!«

Lola leuch­te­te. Die Of­fen­ba­rung, die sie so­eben emp­fan­gen hat­te, war ein­fach und tief­wahr.

Er­nes­te dach­te: »Mit zwölf Jah­ren schon? …« Sie fass­te sich und äu­ßer­te:

»Aber Kind, für ein Mäd­chen, das bald drei­zehn wird, ist das doch zu kin­disch. Herr Diet­rich ist na­tür­lich ein Mensch wie wir alle.«

Lola stutz­te. War er das? Wa­rum muss­te sie dann so viel an ihn den­ken? Im­mer hat­te sie je­nen leich­ten Ge­ruch von sau­rer Milch in der Nase, so viel dach­te sie an Herrn Diet­rich. »Ich will ihn mir ganz ge­nau an­se­hen.« Gera­de heu­te war Herrn Diet­rich sein gel­ber Strumpf über sei­nen schwar­zen Schuh ge­rutscht. Lola starr­te fins­ter und nach­denk­lich dar­auf hin. Ähn­li­ches konn­te man auch bei an­de­ren Leh­rern se­hen; aber Herr Diet­rich, der so edel war, an den Lola so viel den­ken muss­te! Nun be­merk­te sie auch, wie Herr Diet­rich sich mit Jen­ny ab­gab; wie die di­cke, fre­che Jen­ny, das Kinn auf der ge­ziert aus­ge­spreiz­ten Hand, ihn an­schmach­te­te; wie er er­rö­tend weg­sah und, nach­dem er ein we­nig an sei­nem Knei­fer ge­rückt hat­te, ihr zu­lä­chel­te. Da ward es Lola kalt und zor­nig zu Sinn; es trieb sie, Herrn Diet­rich zu zei­gen, dass er für sie durch­aus kein Ide­al sei. Er stand gra­de vor ihr; sei­ne röt­li­che, kno­chi­ge Hand lag auf ih­rem Tisch, und in sei­ner Man­schet­te konn­te sie Haa­re se­hen. Vor­sich­tig führ­te sie zwei Fin­ger hin­ein, er­fass­te ein Haar, mach­te »Kieks!« – und da hat­te sie’s. Herr Diet­rich zuck­te zu­sam­men; dann rief er mit ro­ter, ent­rüs­te­ter Mie­ne:

»So et­was tut man nicht!«

Lola, ziem­lich er­schro­cken über ihre Tat, aber trot­zig, be­trach­te­te das Haar.

»Gib’s her!« – und Herr Diet­rich nahm es ihr weg.

Als er sie spä­ter et­was frag­te, ant­wor­te­te sie nicht, ob­wohl sie’s wuss­te. Sie be­schloss, ihm brief­lich ihre Ver­ach­tung aus­zu­spre­chen. Den gan­zen Nach­mit­tag ar­bei­te­te sie dar­an. »Wenn ich einen Men­schen gern habe, ver­lan­ge ich mehr von ihm als von an­de­ren; Sie ha­ben mich sehr ent­täuscht«, woll­te sie ihm sa­gen, und: »Ich bin viel zu stolz, um je­mand noch gern zu ha­ben, der eine an­de­re liebt.« In­des fiel ihr ein, dass Herr Diet­rich von ih­rer Nei­gung nichts ge­wusst habe, und dass ihn dar­um auch ihre Ent­täu­schung nichts an­ge­he. Wahr­schein­lich wür­de er ihr mit sei­ner ent­rüs­te­ten Mie­ne den Brief zu­rück­ge­ben und dazu schrei­en: »So et­was tut man nicht!«

Sie hielt sich nun für fer­tig mit der Lie­be. Den­noch ver­lor sie den Win­ter dar­auf ihr Herz an einen ita­lie­ni­schen Lei­er­kas­ten­mann. Sie lag im Fens­ter und leb­te in sei­nen Au­gen. Bleich und trau­rig schmach­te­te er her­auf. Lola sag­te:

»Wie ist er schön! Ich habe noch nie einen so schö­nen Mann ge­se­hen.«

Die di­cke Jen­ny stör­te sie dies­mal nicht, im Ge­gen­teil, sie frag­te, ob Lola sei­ne Be­kannt­schaft ma­chen wol­le, sie be­glei­te sie gern. Lola schrak zu­rück, sie wuss­te noch nicht, wo­vor. Aber am Sonn­tag war­te­te sie mit ih­rem gan­zen Wo­chen­geld. Der Ita­lie­ner kam, nur war er be­trun­ken und kot­be­spritzt, fing Streit an und ward ver­haf­tet. Lola warf aufs Ge­ra­te­wohl ihre zehn Mark hin­un­ter und ret­te­te sich.

Die Tren­nung von die­ser Lie­be war hart. Wo­chen­lang zuck­te Lola schmerz­lich zu­sam­men, pfiff je­mand auf der Stra­ße eine von des Ita­li­e­ners Ari­en. Bei der An­kün­di­gung der Oper, aus der sie stamm­ten, ge­riet Lola in Er­re­gung und ver­lang­te hin. So­gar die Beglei­tung der Rat­te nahm sie mit in den Kauf. Auf ih­rem Bal­kon­platz be­kam sie Herz­klop­fen; aber wie sie sich den Lei­er­kas­ten­mann vor Au­gen ru­fen woll­te, be­merk­te sie, dass sein Bild un­auf­find­bar war und dass nur die Klän­ge und Ge­bär­den von dort drü­ben sie er­füll­ten und be­weg­ten. Ihr schi­en es der ers­te Thea­ter­be­such; und al­les mu­te­te sie wie ei­ge­ne tie­fe Erin­ne­run­gen an. Woran sie je­mals ah­nungs­voll ge­rührt hat­te, das war hier auf­ge­schlos­sen und ent­zau­bert. Der letz­te Duft schö­ner Blu­men, Na­men, Ge­sich­ter schi­en hier her­aus­ge­presst. Die Wor­te klan­gen alle vol­ler und sinn­rei­cher, die Din­ge hat­ten hö­he­re Far­ben, die Mie­nen er­glänz­ten in­ni­ger. Hier wie­der­hol­te sich, hät­te man mei­nen sol­len, das Le­ben Lo­las in stär­ke­rem Licht: als habe sie dort auf der Büh­ne ihr ei­ge­nes Herz, hö­her schla­gend, vor Au­gen. Al­les, wo­für man sonst kei­ne Ver­wen­dung wuss­te, konn­te hier spie­len. Man konn­te sich ganz ge­ben, wie man war; denn die Men­schen hiel­ten end­lich das, was man sich von ih­nen ver­sprach. Der Held die­ser Oper war so edel, wie Herr Diet­rich hät­te blei­ben sol­len, und so schön wie der Ita­lie­ner, ohne sich da­bei zu be­trin­ken.

Bei der Heim­kehr war es Lola, als habe sie nun ein Zau­ber­wort er­fah­ren: Schau­spie­le­rin, und sei da­durch er­löst und mit sich selbst be­kannt ge­macht.

»Wie son­der­bar!« dach­te sie im Bett und starr­te zur dunklen De­cke hin­auf; »das also bin ich!« Er­nes­te rühr­te sich, und Lola hät­te sie fast, in ra­scher Re­gung, auf­ge­weckt und ihr Schick­sal Er­nes­te of­fen­bart. Noch hielt sie zu­rück; sie hat­te sich erst selbst an sei­ne Er­kennt­nis zu ge­wöh­nen. Beim Auf­wa­chen aber er­schüt­ter­te sie so­gleich ein großer Ju­bel; sie mach­te sich schnell fer­tig und lief zu Er­nes­te, ge­ra­de so herz­haft und ohne Arg wie da­mals, als sie mit der Nach­richt kam, der Früh­ling sehe aus wie Herr Diet­rich.

»Er­nes­te!« rief Lola. »Weißt du, was ich wer­den will? Schau­spie­le­rin!«

»Auch gut«, er­wi­der­te Er­nes­te und be­fes­tig­te ge­las­sen den Pa­pier­de­ckel auf ei­nem Glas mit Ein­ge­mach­tem. Lola er­klär­te freu­dig:

»Ges­tern im Thea­ter habe ich es ge­merkt, und jetzt weiß ich es ganz ge­nau.«

»Dum­mes Kind; trin­ke lie­ber dei­nen Ka­kao.«

»Wa­rum dumm? Ich glau­be, dass ich Ta­lent habe.«

»Das glau­be ich auch: du re­zi­tierst sehr nied­lich; des­we­gen ver­fällt aber doch kein ver­stän­di­ges Mäd­chen auf sol­ches dum­me Zeug. Möch­test du wohl einen Löf­fel Gicht­bee­ren­kom­pott?«

Ver­wirrt ließ Lola sich den Löf­fel in den Mund schie­ben.

»Nun geh, Kind«, sag­te Er­nes­te, und Lola ging, den Kopf ge­senkt. Vor der Tür zum Früh­stücks­zim­mer rich­te­te sie sich auf und kehr­te nach der Spei­se­kam­mer zu­rück.

»Er­nes­te!«

Lola war blass, ihre Stim­me hat­te ge­zit­tert; Er­nes­te sah sie sprach­los an.

»Er­nes­te, du hast so ge­tan, als ob es Scherz wäre. Es ist mir aber ganz ernst.«

»Umso schlim­mer«, sag­te Er­nes­te, pol­ternd vor Schre­cken. »Geh ins Klas­sen­zim­mer und er­war­te, wel­che Straf­ar­beit ich dir auf­ge­ben wer­de!«

»Ich will alle Straf­ar­bei­ten ma­chen, die du mir auf­gibst, Er­nes­te. Aber ich bin fest ent­schlos­sen, Schau­spie­le­rin zu wer­den.«

Lola re­de­te das wie ein Dik­tat; ir­gend­ei­ne Macht weih­te sie zum Spre­chen.

»Es ist das ers­te Mal, dass ich so zu dir spre­che, Er­nes­te; dar­aus kannst du er­se­hen, wie wich­tig dies ist«, sag­te sie sanft, mit feuch­ten Au­gen; denn Er­nes­te tat ihr leid. Er­nes­te war auf einen Holz­sche­mel ge­fal­len; ihre von Frucht­saft blau­en Fin­ger la­gen wie tote klei­ne Sol­da­ten durch­ein­an­der im Schoß; ihr Ge­sicht war ganz lang und über alle Ma­ßen ver­stört.

»Was kannst du denn auch da­ge­gen ha­ben«, mein­te Lola, »wenn ich es nun ein­mal als mei­nen Be­ruf er­kannt habe.«

Da aber kam al­les wie­der zu Le­ben an Er­nes­te; sie sprang auf.

»Dein Be­ruf? Eine un­an­stän­di­ge Per­son zu wer­den, das soll dein Be­ruf sein? Dazu habe ich dich durch sie­ben Jah­re auf Got­tes We­gen er­hal­ten? Du weißt nicht, was du re­dest; das ist das ein­zi­ge, was mir noch Hoff­nung lässt. Jen­ny, mein Kind, sie weiß nicht, was sie re­det; schwei­ge um Got­tes wil­len über das, was du ge­hört hast!«

Lola wand­te sich um: in der Tür stand die di­cke Jen­ny und sah sie mit heuch­le­ri­schem Ent­set­zen an.

»Du be­greifst, Jen­ny, wenn sie da­bei blie­be, das wäre noch schlim­mer als das mit Su­san­ne, und da­von habe ich doch schon graue Haa­re. Ver­sprich mir, mein Kind, dass nie­mand et­was er­fah­ren soll!«

Jen­ny ver­sprach es ar­tig. Dann entließ Er­nes­te sie; und da sie un­be­ach­tet stand, ging auch Lola. Er­nes­tes Auf­re­gung be­griff sie nicht. Lola woll­te zur Büh­ne und mög­li­chen­falls die­sel­ben Stücke spie­len, die in der Klas­se ge­le­sen wur­den. Was hat­te das mit Su­san­ne zu tun, die weg­ge­schickt war, weil sie ir­gen­det­was, nicht recht Ver­ständ­li­ches, mit dem Gärt­ner zu tun ge­habt ha­ben soll­te? Lola saß in Rät­seln; aber schon nach der ers­ten Un­ter­richts­stun­de fing sie neu­gie­ri­ge Bli­cke auf, die so­gleich, mit künst­li­cher Fremd­heit, weg­ge­lenkt wur­den. Und auch die Leh­re­rin, die jetzt dar­an­kam, starr­te erst ein­mal Lola recht un­ver­schämt for­schend ins Ge­sicht, und dann rich­te­te sie plötz­lich das Wort an eine an­de­re. In der Pau­se be­merk­te Lola, dass man­che ihr aus­wi­chen und dass ei­nem harm­lo­sen Mäd­chen, mit dem sie sprach, von Jen­ny und meh­re­ren an­de­ren so lan­ge be­deut­sam ge­winkt ward, bis es sich ver­le­gen von Lola los­mach­te. Lola ging ge­ra­de­wegs auf Jen­ny zu: was das ei­gent­lich hei­ße. Jen­ny wen­de­te sich ge­pei­nigt hin und her, mur­mel­te, als sei sie um Lo­las wil­len in Sor­ge, dass nur kei­ne es höre: das wis­se Lola wohl selbst am bes­ten. Und rasch tauch­te sie in einen Kreis Schwat­zen­der.

Er­nes­tes Be­neh­men war noch viel auf­fal­len­der. Lola er­in­ner­te sich nicht, dass Er­nes­te je­mals län­ger als eine Nacht mit ihr böse ge­we­sen war. Am Mor­gen hat­te sie sich im­mer an­mer­ken las­sen, dass sie gern ver­söhnt wer­den wol­le. Da­bei ging sie bei­na­he bit­tend zu Wer­ke; nach je­der von Lo­las Un­ge­zo­gen­hei­ten war Er­nes­te es, die ge­wis­ser­ma­ßen Ver­ge­bung such­te und de­ren Mie­ne um ein gu­tes Wort warb. Lola bat schwer um Ver­zei­hung. Wenn sie sich dazu ent­schloss, tat sie’s aus Mit­leid mit Er­nes­te. Das jun­ge Mäd­chen dach­te dann an des Kin­des ers­te Be­geg­nung mit Er­nes­te: als Er­nes­te zu­erst streng auf sie ein­ge­drun­gen und plötz­lich, wie sie Lo­las Trä­nen sah, ganz aus der Fas­sung ge­ra­ten war. So ging es im­mer. Er­nes­te schi­en sich manch­mal viel zu dün­ken, und plötz­lich fiel sie in Schüch­tern­heit. Nach­dem sie an­fangs ihre gnä­di­ge Ge­sin­nung als Be­loh­nung hin­ge­stellt hat­te, be­müh­te sie sich schließ­lich um Lo­las Zu­nei­gung. Was sie be­kam, war eine et­was ge­ring­schät­zi­ge Freund­lich­keit.

Jetzt aber ge­bär­de­te sich Er­nes­te Tag um Tag trau­rig und be­hut­sam ge­gen Lola: wie wenn Lola schwer krank sei und man kön­ne mit ihr nur noch we­nig und lei­se re­den. Lola sah: auch die wohl­wol­len­den Mit­schü­le­rin­nen be­ka­men da­von die Emp­fin­dung, Lola sei auf­ge­ge­ben – und sie selbst ge­riet über sich ins un­kla­re. Hät­te Er­nes­te ihr Sze­nen ge­macht, Lola wür­de sich ver­steift, sich be­haup­tet ha­ben. So er­schi­en, was sie ge­wagt hat­te, all­mäh­lich ihr selbst als et­was Un­ge­heu­er­li­ches. Kei­ne an­de­re also war des­sen fä­hig! Lola fühl­te sich ab­ge­son­dert, ihre Schrit­te un­heim­lich ge­dämpft, ihr gan­zes Da­sein frag­wür­dig. »Bin ich denn an­ders als alle?«

Da er­in­ner­te sie sich ge­wis­ser Träu­me, ge­wis­ser ah­nen­der, grü­beln­der Ge­füh­le, für die sie, kam sie da­mit her­aus, nir­gends Ver­ständ­nis ge­fun­den hat­te. Be­frem­det und et­was pein­lich be­rührt, hat­te man sie ste­hen­ge­las­sen. Die bes­ten hat­ten gut­mü­tig ge­lacht. Auch das mit Herrn Diet­rich und dem Früh­ling fiel Lola wie­der ein, und nun be­deck­te sie, im ver­schlos­se­nen Schlaf­zim­mer, die Au­gen mit den Hän­den, glü­hend rot durch die­se vor Jah­ren ge­spro­che­nen Wor­te. Plötz­lich rich­te­te sie sich auf.

»Und ich bin doch so!« sag­te sie laut vor sich hin, und:

»Auch ich habe mein Recht!«

Sie über­leg­te:

»Soll­te al­les da­her kom­men, dass ich aus ei­nem an­de­ren Lan­de bin? Wenn im Som­mer alle stöh­nen, dann wird mir erst wohl. Na­tür­lich: ich ge­hö­re gar nicht hier­her! Oh, zu Hau­se, wie viel schö­ner war es zu Hau­se!«

Ir­gend­ein glän­zen­des Bild aus Kin­der­ta­gen war ihr un­ver­mu­tet durch den Sinn ge­schos­sen; sie hielt den Atem an: es war fort. Durch Nach­den­ken woll­te sie ihre Ge­füh­le von einst zu­rück­ban­nen: es kam nichts. Und als sie end­lich eins zu hal­ten mein­te, war es nur die Erin­ne­rung an eine An­sicht aus den Tro­pen, die sie kürz­lich in ei­ner Zeit­schrift ge­se­hen hat­te. Kla­gend trat sie ans Fens­ter, die Schul­tern hoch­ge­zo­gen, als trä­fe sie der kal­te Re­gen, der ge­gen die Schei­be schlug.

»Hier bin ich nicht hei­misch ge­wor­den; und das, was mei­ne Hei­mat war, habe ich ver­ges­sen. Wo­hin ge­hö­re ich denn? Drü­ben hat­te ich mei­ne Fa­mi­lie und mei­ne Freun­de. Drü­ben ver­stan­den mich alle. Drü­ben war ich glück­lich.«

Und bit­te­re Ge­dan­ken rich­te­ten sich ge­gen den Va­ter, der sie los­ge­ris­sen und ver­bannt hat­te.

»Wa­rum gra­de mich? Nene hat dort blei­ben dür­fen. Pai kann mich nie­mals lieb­ge­habt ha­ben!«

Lola über­dach­te sei­ne Brie­fe und fand sie kalt. Gleich­wohl schrieb Herr Ga­bri­el ihr je­den zwei­ten Mo­nat; und nur sein be­son­ne­ner kauf­män­ni­scher Stil war schuld, dass sei­ne Sät­ze kühl klan­gen. Lola war nicht ge­stimmt, die Lie­be zu füh­len, die hin­ter den Wor­ten beb­te.

»Nie­mals hat er mich be­sucht in all den Jah­ren! Und wie grau­sam ist er ge­gen Mai ge­we­sen! Mai, die wein­te und mich fest­hal­ten woll­te, als der große Schwar­ze mich fort­trug!«

Das gan­ze fan­tas­ti­sche Grau­sen je­ner Stur­m­nacht ent­stand noch ein­mal in Lola, und mit der Kin­derangst von einst wall­te Sehn­sucht auf:

»Mai!«

Die Arme aus­ge­streckt:

»Mai! Mai!«

Ein wei­ßer, glän­zen­der Ne­bel er­schi­en vor Lo­las Au­gen und, weich dar­um­ge­legt, ein Rah­men aus dunklem Haar. Lola woll­te Züge her­vor­lo­cken: der Ne­bel blieb leer; er droh­te weg­zu­flie­ßen. Sie flüs­ter­te ban­ge Ko­se­wor­te, hielt in ek­sta­ti­scher Be­schwö­rung dem Phan­tom ih­rer Mut­ter die Lip­pen hin: um­sonst. Lo­las Kraft war aus und das Bild zer­ron­nen.

Sie er­gab sich nicht; sie such­te, mit ei­nem Blick der Not, nach Hil­fe um­her, nach ei­nem An­halt – und traf auf eine alte Schreib­map­pe. »Mais Brief!« Sie wühl­te ihn her­aus, leg­te auf­schluch­zend ihre Wan­ge in das alte Pa­pier. »Das kommt von Mai!« Je­der die­ser klei­nen flüch­ti­gen Buch­sta­ben war ein Ge­schenk von Mai an Lola. Sie las dar­über hin, lan­ge Zeit. Dann ent­rät­sel­te sie, mit Hil­fe des Fran­zö­si­schen, ei­ni­ge Wor­te. Dann sprach sie sie laut, füg­te an­de­re hin­zu und horch­te je­dem nach, mit of­fe­nem Mund und seit­wärts ge­wen­de­ten Au­gen. Da­zwi­schen er­reg­tes La­chen: ja, so klang es. Ein Ju­bel­ruf: das war Mais Stim­me! So sag­te Mai dies! Oh, und dies war die schwar­ze Anna, und dies … Die Na­men ehe­ma­li­ger Freun­din­nen klan­gen mit; ein Ge­sicht sprang aus ei­ner Sil­be, eine Be­ge­ben­heit. Lola wuss­te nicht mehr, wo­hin sie lau­schen soll­te. Ihr Geist stürz­te hin­ter al­le­dem her, nach al­len Sei­ten, wie ein Kind hin­ter Schmet­ter­lin­gen. Mi­nu­ten­lang war sie glück­lich. Schließ­lich zer­flat­ter­te al­les – aber Lola war nun ge­wiss: »Ich muss hin­über! Oh, gleich, gleich an Pai schrei­ben!« Sie setz­te sich dar­an, woll­te schmei­cheln, Pai güns­tig stim­men, und fand vor fie­ber­haf­tem Drän­gen kei­ne Wor­te. »Kann ich nicht te­le­gra­fie­ren? Kann ich nicht flie­hen? So­fort? So­fort?« Sie irr­te, hoch­at­mend, durchs Zim­mer. Not­dürf­tig ge­sam­melt, schrieb sie:

»Lie­ber Pai, darf ich jetzt nicht bald zu Euch zu­rück? Du woll­test wohl, dass ich hier et­was ler­nen soll­te. Ich kann Dir ver­si­chern, ich habe schon viel ge­lernt.«

Was sag­te dies! Ge­gen­über er­blick­te sie ihr Spie­gel­bild in ei­nem frem­den Raum, in dem Raum, der sie seit sie­ben Jah­ren um­fing und nun aus­sah wie ein Zu­falls­quar­tier zum Über­nach­ten. Sie dach­te ihr Ge­sicht ne­ben de­nen drau­ßen, rings­um­her: lau­ter Ge­sich­ter mit an­de­ren We­sens­zü­gen, ge­formt von ei­nem frem­den Blut. Im Geist hör­te sie die Stim­men: an­ders fal­len­de Stim­men, Kün­de­rin­nen frem­der in­ne­rer Ge­wohn­hei­ten. Sie schrieb:

»Ich hät­te Dir noch viel zu sa­gen; aber ich kann mich nicht recht aus­drücken, da ich ja kei­ne Spra­che ganz be­herr­sche. Bit­te, er­lau­be mir, dass ich kom­men darf. Ich grü­ße Nene und Mai. Wäre es nicht mög­lich, dass ich ein Bild von Mai be­käme?«

Im Ge­fühl, sich ge­rächt zu ha­ben, ging Lola zu den an­de­ren. Sie be­nahm sich so ent­schie­den und selbst­be­wusst, dass Jen­ny mit ihr re­den muss­te und Er­nes­te sie nicht län­ger durch lei­ses Spre­chen für krank aus­ge­ben konn­te. Am Abend fing sie so­gar mit ei­ner Streit an und, ent­ge­gen ih­rer All­tags­na­tur, be­reu­te sie nichts von dem, was sie im Zorn ge­sagt hat­te.

Sie blieb hoch­ge­mut: wie konn­te Pai ihre Bit­te ab­schla­gen! – Und in­zwi­schen sam­mel­te sie An­hän­ge­rin­nen, de­nen sie den Ton an­gab, de­nen sie half, am Sonn­tag, bei den le­ben­den Bil­dern, in Ko­stü­men und Kunst der Stel­lung die an­de­ren zu be­sie­gen. Die Pen­si­on spal­te­te sich; die eine der Par­tei­en schar­te sich um Jen­ny, die an­de­re um Lola, und jede warb mit Lei­den­schaft um die drau­ßen woh­nen­den Schü­le­rin­nen. Er­bit­ter­te und wort­lo­se Kämp­fe wur­den be­stan­den. Ein­mal ward das Ziel des Ehr­gei­zes dar­in ent­deckt, als ers­te beim Früh­stück zu sein; aber moch­ten Jen­nys Freun­din­nen bei kaum grau­en­dem Tag hin­ab­schlei­chen: Lola mit den Ihren saß doch schon am Tisch. Am Abend hat­te sie von sich zu den an­de­ren, un­ter den Stu­ben­tü­ren hin­durch, einen Bind­fa­den ge­lei­tet. Jede war mit der Nächs­ten ver­bun­den; reg­te sich eine, er­wach­ten alle; und ge­schla­fen hat­te kei­ne. Da­für ge­noss man nun Tri­umph­ge­füh­le, die einen spreng­ten.

Zu Lo­las Hoch­ge­fühl wirk­te Ver­ach­tung mit. Sie übte ihre Macht als Par­tei­füh­re­rin und dach­te da­bei: »Was ihr alle mich an­geht! Wie lan­ge dau­ert dies über­haupt noch! In vier­zehn Ta­gen ist Pais Brief da!« Manch­mal sah sie Er­nes­te an, die nichts ahn­te, und konn­te ihr Frohlo­cken kaum nie­der­rin­gen. Ein­mal ver­riet sie sich. Am Sonn­tag nach­mit­tag hat­te Jen­ny ge­sun­gen, et­was pein­lich Sen­ti­men­ta­les, wo­bei sie him­mel­te und die Fin­ger­spit­zen auf die Brust setz­te. Lola rief aus tiefs­ter See­le:

»Das ist aber über alle Ma­ßen ge­schmack­los!«

Jen­nys An­hän­ge­rin­nen ga­ben dies nicht zu; nicht ein­mal un­ter ih­ren ei­ge­nen wa­ren vie­le der Mei­nung Lo­las. Die Toch­ter ei­nes Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten sag­te:

»Es war so deutsch.«

»Es war ge­schmack­los!« stieß Lola her­vor. »Wenn es deutsch war, dann war es eben eine deut­sche Ge­schmack­lo­sig­keit!«

Da­rauf ward es still; und wie Lola sich bei den Ihren nach Bei­stand um­sah, wi­chen die Bli­cke ihr aus, und die Schul­tern dreh­ten sich hin und her, bis sie aus Lo­las Nähe wa­ren. Drü­ben ver­setz­te eine spitz:

»Du bist eben eine Bra­si­lia­ne­rin!«

»Wenn sie das noch wäre«, ent­geg­ne­te die Toch­ter des Ab­ge­ord­ne­ten. »Aber sie ist nichts; sie ist –«

Mit ge­krümm­ten Lip­pen, die das Wort un­ter Selb­st­über­win­dung her­vor­brach­ten:

»In­ter­na­tio­nal!«

Der Ekel im Ge­sicht der Spre­chen­den steck­te alle üb­ri­gen Mie­nen an; und als habe man ne­ben sich eine Schan­de, wand­te man sich schwei­gend zu et­was an­de­rem. Ein Dienst­mäd­chen trat ein:

»Fräu­lein Lola, ein Brief für Sie!«

Von Pai! Lola stürz­te da­mit hin­aus, schloss sich ein. Sie zit­ter­te, und im jä­hen Ge­fühl, in ei­ner äu­ßers­ten Mi­nu­te ih­res Schick­sals zu ste­hen, mur­mel­te sie: »Mein Gott! Mein Gott!«

Dann er­fuhr sie:

»Mei­ne lie­be Toch­ter! Dei­ne Nach­rich­ten habe ich er­hal­ten und ih­nen zu mei­nem Be­dau­ern ent­nom­men, dass die dor­ti­gen Ver­hält­nis­se Dir nicht mehr so zu­zu­sa­gen schei­nen, wie ich ge­wünscht und er­war­tet hät­te. Es ist je­der­zeit für uns von Nut­zen, un­se­rer Um­ge­bung Wohl­wol­len ent­ge­gen­zu­brin­gen; umso mehr aber er­scheint dies ge­bo­ten, wenn wir, mensch­li­cher Be­rech­nung nach, einen großen Teil un­se­res Le­bens am frag­li­chen Plat­ze ver­brin­gen wer­den. Üb­ri­gens den­ke ich mich in ei­ni­ger Zeit per­sön­lich nach Dir um­zu­se­hen, und ver­spre­che ich mir von die­sem, nicht durch mei­ne Schuld so lan­ge ver­scho­be­nen Wie­der­se­hen eine be­deu­ten­de Ge­nug­tu­ung. So­mit hal­te ich ein Her­kom­men dei­ner­seits zur­zeit nicht für an­ge­zeigt. Du darfst ver­si­chert sein, dass wir nicht mehr all­zu lan­ge ge­trennt blei­ben wer­den, und dass, wenn ich einst in der Lage sein wer­de, mei­nen Wohn­sitz ganz nach dort zu ver­le­gen, auch Dei­ne Mut­ter mit hin­über­kom­men wird. Dei­ne Mut­ter grüßt Dich, kann Dir je­doch das ge­wünsch­te Bild nicht schi­cken, da sie sich neu­er­dings auf kei­ner Fo­to­gra­fie mehr ge­trof­fen fin­det.

Über das, mein lie­bes Kind, was wir im Le­ben sein wer­den, ent­schei­det das Blut, wel­ches wir bei un­se­rer Ge­burt mit­be­kom­men. Un­ter ei­nem nicht bluts­ver­wand­ten Volk wer­den wir uns nie­mals voll­kom­men wohl und hei­misch füh­len. In Dir, mei­ne Toch­ter, fließt, wie ich hof­fe und glau­be, ein vor­wie­gend deut­sches Blut, und als deut­sches Mäd­chen ge­den­ke ich Dich der­einst wie­der­zu­fin­den. Es wird Dei­ne Auf­ga­be sein, Dich dort mehr und mehr hei­misch zu ma­chen.

Nimm die­se Wor­te von Dei­nem Va­ter mit Lie­be auf. Es ist und kann ja nur mein ein­zi­ger Wunsch sein, Dich glück­lich und zu­frie­den durchs Le­ben schrei­ten zu se­hen.«

Lola war fer­tig und nahm doch das Blatt nicht von den Au­gen. Kein Bild von Mai, nicht ein­mal das! Nicht nach Hau­se, kein Bild, kein gu­tes Wort. Denn die­se alle hör­ten sich hart und ver­ständ­nis­los an. Sich hei­misch ma­chen! Hier, wo sie noch so­eben be­schimpft und ge­äch­tet war! Pai wuss­te nichts; nie­mand woll­te et­was wis­sen von Lola. Al­les aus, al­les aus.

»Was ist dir?« frag­te, als es zum Es­sen ge­läu­tet hat­te, teil­nahms­voll Er­nes­te. »Du hast doch kei­ne schlech­ten Nach­rich­ten von den Dei­nen?«

»O nein, es geht ih­nen gut; aber mir selbst ist nicht wohl.«

Sie be­kam die Er­laub­nis, sich so­gleich nie­der­zu­le­gen, und war froh, als der Arzt ein we­nig Fie­ber fest­stell­te. Im Bett blei­ben, nie­mand se­hen, nur nicht den Bli­cken der Frem­den aus­ge­setzt sein. Lola fühl­te gar kei­nen Mut, sich zu be­haup­ten. Wie sie, drei Tage spä­ter, sich wie­der zeig­te, ge­noss sie die Vor­rech­te der Ge­ne­sen­den, durf­te schwei­gen und Lau­nen nach­ge­ben. Sie saß bleich und schwach da, und an­statt ei­ner Leh­re­rin zu ant­wor­ten, mus­ter­te sie sie, als er­blick­te sie sie zum ers­ten Mal. Was für ein Ge­sicht war doch dies; wie viel Un­schö­nes ent­hielt es! Die­se im­mer ge­är­ger­ten Au­gen, die gel­ben Schlä­fen, die klein­li­chen Fal­ten, die den Mund zer­knif­fen! Vor Lo­las star­rem Blick ward es äl­ter, im­mer äl­ter und end­lich zur Mu­mie. Er­schreckt riss sie sich los. We­nig spä­ter aber sah sie sich im Ge­sicht ei­ner re­zi­tie­ren­den Mit­schü­le­rin fest, des­sen Lee­re sich Lola plötz­lich auf­tat wie ein Ab­grund.

Das ward zur Sucht. Sie las aus ei­nem der vie­len Ge­sich­ter, die ihr jetzt ab­sto­ßend schie­nen, alle in der Fa­mi­lie mög­li­chen Ab­wei­chun­gen des Ty­pus her­aus, und ward be­drängt von Frat­zen. Die Dumm­heit oder Ge­wöhn­lich­keit ge­wis­ser Züge über­wäl­tig­te sie täg­lich wie­der, wuchs ihr ent­ge­gen, wie eine Son­ne, in die man fällt. Lola at­me­te dann kür­zer und mein­te zu ver­blö­den.

Sie be­kam einen quä­lend fei­nen Sinn für das Al­ber­ne ei­nes Ton­fal­les und das Un­ter­ge­ord­ne­te ei­ner Ge­bär­de. Sie frohlock­te und litt bei je­der Ge­schmack­lo­sig­keit, die je­mand be­ging. Sie leg­te eine Lis­te der Arm­se­lig­kei­ten an, die um sie her ge­sch­a­hen und ge­re­det wur­den, und las dar­in mit bit­te­ren Ra­che­ge­füh­len. So wa­ren ihre Fein­din­nen! Denn Lola war über­zeugt, dass alle sie hass­ten, und sie er­wi­der­te es ih­nen. Aus je­der Grup­pe von Mäd­chen glaub­te sie ih­ren Na­men zu hö­ren; sie trat hin­zu: »Sprecht wei­ter, bit­te«; und ihre Stim­me, die sie aus ih­rer Ein­sam­keit un­ter die Fein­de schick­te, woll­te höh­nisch sein und war un­si­cher. Ei­nes Abends beim Tee­ma­chen ex­plo­dier­te die Spi­ri­tus­ma­schi­ne und über­schüt­te­te Lola mit blau­en Flämm­chen. Wäh­rend sie noch mit ei­ner Ser­vi­et­te ihr Kleid ab­tupf­te, rief sie schon:

»Das warst du, Ber­ta! Du wuss­test wohl, dass ich heu­te an der Rei­he war, Tee zu ma­chen; ei­gens des­we­gen hast du vor­her auf­ge­gos­sen und hast den Docht falsch ein­ge­schraubt!«

»Um des Him­mels wil­len, Lola, ich habe dich doch nicht ver­bren­nen wol­len!«

»Wer hat mir neu­lich die glü­hend hei­ße Schüs­sel in die Hand ge­ge­ben?«

»Ich wuss­te es doch nicht! Auf der an­de­ren Sei­te war sie kalt!«

Das gut­mü­ti­ge Mäd­chen wein­te fast. Er­nes­te be­merk­te kum­mer­voll:

»Du bist miss­trau­isch, Lola, das ist kei­ne schö­ne Ei­gen­schaft.«

Lola war miss­trau­isch, weil sie sich ver­ra­ten fühl­te. Sie war emp­find­lich, weil sie al­lein und im­mer auf der Wacht war. An­de­re hat­ten Stüt­zen: das An­se­hen ei­nes Va­ters, einen Na­men, je­mand, der sie be­such­te. Eine klei­ne plum­pe Per­son mit Eu­len­au­gen und Bril­len da­vor ging, so­oft sie sich ir­gend­wie bla­miert hat­te, um­her und wie­der­hol­te: »Ich habe das Wört­chen von. Du hast es nicht, ich aber habe es.« Lola such­te ver­geb­lich nach ei­ner Ra­che da­für. Da aber be­geg­ne­te ihr in der Zei­tung, dass der Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­te, der Va­ter ih­rer ärgs­ten Fein­din, Ban­ke­rott ge­macht habe. Das Herz klopf­te ihr bis an den Hals vor Freu­de. War’s eine Schan­de, »in­ter­na­tio­nal« zu sein, war’s hof­fent­lich auch eine, Ban­ke­rott zu ma­chen! Mit dem Zei­tungs­blatt lief Lola von ei­ner zur an­de­ren, ge­folgt von der Toch­ter des Ab­ge­ord­ne­ten, die jam­mer­te: »Es ist nicht wahr« und end­lich zu Er­nes­te floh, sie möge Lola Ein­halt tun. Aber Lola war un­er­bitt­lich. Da­für konn­te sie’s, als un­er­war­tet Jen­nys rote, spie­ßi­ge Mut­ter bei Tisch saß und das Wort führ­te, vor Er­bit­te­rung und Gram nicht bis zu Ende aus­hal­ten, muss­te sich in ihr Zim­mer ret­ten und einen Wein­krampf durch­ma­chen. »Nie wird Mai kom­men! Die häss­li­chen, ge­wöhn­li­chen Men­schen sind we­nigs­tens gut mit ih­ren Kin­dern!«

Er­nes­te sah den Kri­sen Lo­las un­schlüs­sig zu. Sie, die Lola lieb­te, be­schäm­te es, dass sie sie nicht ver­stand. Manch­mal ward sie un­ge­dul­dig und woll­te mit Er­zie­he­rin­nen­derb­heit da­zwi­schen­fah­ren. Aber ihre alt­jüng­fer­li­che Ach­tung vor den Din­gen des Her­zens hielt sie zu­rück. »Es muss et­was sein … Sie wird da­mit fer­tig wer­den.« Eine Fra­ge drück­te Er­nes­te; sie fürch­te­te sich, sie zu stel­len. Jetzt sprach sie zu Lola vor an­de­ren in freu­dig er­mun­tern­dem Ton; wa­ren sie aber al­lein, ward Er­nes­tes Stim­me, was sie auch sa­gen moch­te, mit­füh­lend und be­ru­hi­gend. Lola ent­zog sich ih­rer Teil­nah­me, stell­te sich früh und abends schla­fend und ver­ließ, kaum dass Er­nes­te sie ver­trau­lich zu stim­men such­te, das Zim­mer. End­lich wag­te Er­nes­te ohne Vor­be­rei­tung ihre Fra­ge:

»Möch­test du noch zum Thea­ter?«

»Zum Thea­ter?« mach­te Lola, die Brau­en ge­fal­tet; und mit ge­ho­be­nen Schul­tern:

»Da­ran habe ich gar nicht mehr ge­dacht.«

Auch dort wa­ren die Men­schen schwer­lich an­ders, und Lola wuss­te sich so­we­nig zur Büh­ne ge­hö­rig wie sonst ir­gend­wo­hin. Aber Er­nes­te hat­te den Atem an­ge­hal­ten; nun tra­ten ihr Trä­nen der Er­leich­te­rung in die Au­gen.

»Gott sei Dank, Kind! Mein lie­bes Kind, Gott sei Dank!«

Sie reck­te sich an Lola hin­auf und küss­te sie auf den Mund. Eine ih­rer Hän­de ließ sie seg­nend über Lo­las Kopf schwe­ben.

»Das an­de­re wird al­les gut wer­den«, ver­hieß sie in­nig. Lola, in Wut, weil sie gleich wei­nen muss­te, sah kalt zu ihr hin­un­ter. Er­nes­te trat von ihr weg.

»Du sollst auch eine Be­loh­nung ha­ben.« – Ganz lus­tig, nun nicht mehr sen­ti­men­tal: »Wo­hin möch­test du die­sen Som­mer lie­ber: ins Ge­bir­ge oder an die See?«

»Ich weiß wirk­lich nicht.«

»Du wirst dich schon be­sin­nen.«

Aber Lola setz­te ih­ren Ehr­geiz dar­auf, kei­ne Vor­lie­be zu ver­ra­ten. Er­nes­te muss­te schließ­lich selbst wäh­len; und zu Be­ginn der Fe­ri­en, als die an­de­ren alle da­heim wa­ren, fuh­ren Er­nes­te und Lola ins Ge­bir­ge.

»Wir müs­sen viel zu­sam­men spa­zie­ren­ge­hen«, hat­te Er­nes­te ge­sagt; aber dann zeig­te sich’s, dass sie vom Stei­gen ihre Herz­be­schwer­den be­kam. Lola ließ sie auf ei­ner Bank zu­rück und eil­te wei­ter, den Pas­si­ons­weg mit den Bild­stö­cken hin­auf, an der ge­weih­ten Quel­le und der Ein­sie­de­lei vor­über und in den Wald, wo er recht tief, recht wild und men­schen­fern war, wo im Tan­nen­dickicht die kaum aus­ge­tre­te­nen Gras­pfa­de und über Schluch­ten der mor­sche Steg zu ein­sa­men, schmerz­lich stil­len Zie­len führ­ten. Denn Lola war so glück­los, dass der An­blick ei­nes Men­schen sie un­sin­nig er­bit­ter­te.

Sie fühl­te sich häss­lich; un­abläs­sig pei­nig­te sie die Emp­fin­dung ih­rer zu ho­hen Stirn, ih­res bleich­süch­ti­gen Mun­des, ih­rer lan­gen Glie­der, die in den Ge­len­ken nicht recht hei­misch schie­nen. Un­ge­schickt und in ih­rer Haut un­be­hag­lich, muss­te sie sich im­mer­fort be­tas­ten, im­mer wie­der fest­stel­len, dass an ih­rem in falschen Ver­hält­nis­sen auf­ge­schos­se­nen Kör­per kein Rock und kei­ne Blu­se rich­tig sit­ze. Sie fühl­te ihre Häss­lich­keit noch ge­ho­ben durch die Beglei­tung Er­nes­tes in ih­rem Ka­pott­hut, ih­ren schwar­zen Zwirn­hand­schu­hen, ih­rem al­ten Man­tel, der schief von ih­rer zu ho­hen Schul­ter hing. Wa­ren sie bei­de nicht ein lä­cher­li­ches Paar? Lola sträub­te sich ge­gen die Ver­wechs­lung mit Er­nes­te, und da­bei muss­te sie ge­ste­hen, man kön­ne sie äu­ßer­lich ganz gut zur glei­chen Klas­se rech­nen: sie, die nicht von Er­nes­te nur, nein, von al­len so weit Ge­trenn­te! Be­geg­ne­te sie Leu­ten, sah sie ent­we­der scheu weg, oder sie mus­ter­te sie frech wie eine für im­mer Drau­ßen­ste­hen­de, die sich ih­rer Un­ge­zo­gen­heit nie zu schä­men ha­ben wird. Den­noch hät­te sie bei Tisch, wo Er­nes­te sie mit ih­ren Nach­barn zu re­den nö­tig­te, in den ers­ten jun­gen Men­schen sich fast ver­liebt. Ihr Stolz ver­hin­der­te es: weil sie sich häss­lich wuss­te, und die Erin­ne­rung, dass kein Ge­schöpf lie­bens­wert sei, keins sie an­ge­he und jede Ge­mein­schaft nur wie­der Gram brin­ge. In der Ein­sam­keit ward ihr frei­er; sie konn­te in ein Buch auf­ge­hen, ihr qual­vol­les Ich dar­in auf­ge­hen las­sen. Umso schlim­mer war’s, wenn die Fein­de sie auch hier er­reich­ten. Ein­mal – sie glaub­te an ei­ner Stel­le zu sein, wo­hin nie ein Mensch den Fuß ge­setzt habe – er­hob sich plötz­lich der Lärm zahl­rei­cher Stim­men, die auf säch­sisch von­ein­an­der Ab­schied nah­men. Die Ge­sell­schaft ver­teil­te sich auf zwei Wege, die fünf­zig Schrit­te wei­ter un­ten wie­der zu­sam­mens­tie­ßen. Bei den un­ver­hofft noch­mals Ve­rei­nig­ten ging eine freu­di­ge Be­grü­ßung an; und Lola, der das vor­kam wie eine ihr zum Hohn auf­ge­führ­te Ko­mö­die, rang die Hän­de im Schoß. Da­rauf blieb es still, bis ein Knacken im Ge­büsch und ein klei­ner wil­der Schrei sie er­schreck­ten. Sie warf einen Stein nach dem Tier. Gleich dar­auf stürz­te sie ins Gras und schluchz­te hef­tig und un­still­bar auf ihre er­schlaff­ten Arme nie­der. Ihre Trä­nen flos­sen dem, was sie ge­tan hat­te, und al­lem, was sein muss­te: flos­sen ihr selbst.

Wenn es an­de­ren zu heiß war, oder beim Na­hen ei­nes Ge­wit­ters, stieg Lola in den Wald. Bei sich hat­te sie La­mar­ti­nes Me­di­ta­tio­nen. »Die Freund­schaft ver­rät dich, das Mit­leid lässt dich im Stich, und al­lein schrei­test du den Pfad der Grä­ber ab­wärts«, las sie auf dem Weg mit den Bild­stö­cken. Und trat sie dann am Ende der fahl bläu­li­chen Stei­ge an den Rand der Berg­wand und sah hin­aus in ein gren­zen­lo­ses Land, des­sen Wel­len schwar­ze Ge­höl­ze, grel­le Wie­sen, rostro­te Korn­fel­der in tief­han­gen­de Wet­ter­wol­ken hin­ein­tru­gen – im un­heim­li­chen Flacker­licht sol­cher Stun­de durf­te Lola ver­zwei­felt frohlo­cken: »Ich durch­ei­le mit dem Blick alle Punk­te der un­ge­heu­ren Wei­te und sag­te: Nir­gends er­war­tet mich Glück.« Moch­te doch in je­nem ge­türm­ten Grau die Son­ne für im­mer un­ter­ge­hen; Lola wuss­te im Ernst: »Ich wün­sche mir nichts von al­lem, was sie be­scheint; vom un­ge­heu­ren All ver­lan­ge ich nichts!«

Aber die Ver­se selbst, in de­nen die­se äu­ßers­ten Schmer­zen laut wur­den, bar­gen in sich den Bal­sam da­ge­gen; »Ak­zen­te, der Erde un­be­kannt«, reg­ten sich in ih­nen, und sie tru­gen einen, in­des man sich hoff­nungs­los wähn­te, un­ver­se­hens in gü­ti­ge­re Wel­ten. Nun saß Lola ge­bor­gen un­ter dem Dach des Holz­fäl­ler­hütt­chens aus Rei­sern und Moos, und beim Ge­pras­sel des Re­gens flog ihre See­le nach ei­nem fer­nen, sanf­ten und ein­sa­men Ge­sta­de. Wie die Wo­gen san­gen! Wel­che Har­fen­ak­kor­de die kla­re, duft­lo­se Luft durch­perl­ten! Lola stieg in eine Bar­ke, und mit ihr ei­ner, der zu ihr sprach: »Sieh mit­lei­di­gen Au­ges auf die ge­mei­ne Ju­gend, die von Schön­heit glänzt und sich mit Lust be­rauscht: Wenn sie ih­ren Zau­ber­kelch ge­leert ha­ben wird, was bleibt von ihr? Kaum eine Erin­ne­rung: das Grab, das ih­rer war­tet, ver­schlingt sie ganz, ewi­ges Schwei­gen folgt auf ihr Lie­ben; über dei­nen Staub aber, Lola, wer­den Jahr­hun­der­te da­hin­ge­gan­gen sein, und noch im­mer lebst du!«

Der Dich­ter war’s, der dies ge­spro­chen hat­te. Lola er­wach­te; sie kau­er­te und bohr­te die Hand­knö­chel in ihre von Scham und Glück ro­ten Wan­gen; und sie er­beb­te von der Ah­nung je­ner lieb­rei­chen Ewig­keit, die ihr ver­hei­ßen war. Lie­ben und ge­liebt wer­den bis zur Uns­terb­lich­keit! War es zu er­mes­sen? Den­noch fühl­te sie, ihr sei’s be­stimmt; und auf­ge­ho­ben und er­starkt, ent­wand end­lich ihr sehn­süch­ti­ges Herz sich dem Men­schen­hass. Lo­las Ge­füh­le und die Ver­se, die sie tru­gen, hat­ten einen Gang, der nicht der Gang ir­di­scher Men­schen war. Men­schen, die ei­ner be­stimm­ten Na­ti­on und ei­nes Stan­des wa­ren, die Dia­lekt spra­chen, Vor­ur­tei­le hat­ten, an Erde und Me­tall kleb­ten: sol­che Men­schen hat­ten wohl nie in sol­chen Ver­sen ge­fühlt. Es muss­ten an­de­re le­ben, lus­ti­ge­re, gü­ti­ge­re und rei­ne­re, die man lie­ben konn­te. Sie wa­ren auf an­de­ren Ster­nen, ge­wiss, es gab über­ir­di­sche Le­bens­stu­fen, und Gott – oh, er war also da! – er­laub­te uns, von Stern zu Stern uns zu ver­edeln! Ih­rer häss­li­chen Hül­le le­dig, schweb­te Lola in Ge­mein­schaft ei­ner see­len­haf­ten Mensch­heit durch die Unend­lich­kei­ten der Poe­sie; und kehr­te sie nach dem Ge­wit­ter heim, war sie trun­ken von der wet­ter­leuch­ten­den Wei­te, dem Ju­bel der be­frei­ten Na­tur, von Men­schen­gü­te, Tu­gend und Al­lie­be.

Dann sag­te Er­nes­te:

»Nein aber, du triefst; du verdirbst noch alle dei­ne Klei­der!«

Und Lola muss­te her­ab­stei­gen und sich mit den We­sen be­hel­fen, zu de­nen eine mür­ri­sche Wirk­lich­keit sie ge­sellt hat­te.

Er­nes­te war vor dem Ge­wit­ter ins Zim­mer ge­flüch­tet und hat­te an ih­rem Buch kei­ne Freu­de ge­fun­den, weil sie im­mer den­ken muss­te, dass sie nun doch all­zu we­nig Gu­tes habe von ih­rem Lieb­ling, von die­ser Lola, die sie, ganz ins­ge­heim, ihr Kind nann­te. Dies Berg­ho­tel war ein teu­rer Auf­ent­halt, und wenn er für Lola ohne Schwie­rig­keit be­zahlt ward, Er­nes­te fiel’s nicht leicht. Sie wohn­te sonst den Som­mer in ei­nem Dorf nahe ih­rer Stadt, mit an­de­ren Leh­re­rin­nen und mit Lola. Um Lola zu er­freu­en, hat­te sie dies Jahr die Rei­se ge­macht, und auch, weil das Kind groß ward und es nicht mehr lan­ge dau­ern konn­te, bis man es ihr weg­nahm. Vor­her noch eine Zeit lang es ganz für sich ha­ben, noch ein­mal so ver­traut mit ihm le­ben wie einst, als es klein war: da­nach hat­te Er­nes­te sich ge­sehnt. Nun aber saß sie meist al­lein, im­mer in der Stu­be, bei dem ewi­gen Re­gen hier im Ge­bir­ge, und Lola hat­te noch nie dar­an ge­dacht, ihr Ge­sell­schaft zu leis­ten. »So jun­ge Men­schen sind zu sehr mit sich be­schäf­tigt und se­hen in an­de­re nicht hin­ein. Dass sie weg­läuft, ist kein Man­gel an Zart­ge­fühl, be­wah­re. Wa­rum kann ich ihr nicht sa­gen, wie gern ich mit ihr bei­sam­men wäre? Es ist mei­ne Schuld.« Da­bei er­rö­te­te Er­nes­te, so­gar hier im ver­schwie­ge­nen Zim­mer.

Wie viel ver­schäm­tes Leid hat­te ihr die Lie­be zu die­sem Kin­de be­rei­tet! Bis in das ers­te Jahr zu­rück wuss­te sie noch alle Stra­fen, die sie Lola hat­te er­tei­len müs­sen, so schwer wa­ren sie ihr ge­wor­den. Schmer­zens­wor­te, zor­ni­ge Aus­ru­fe der Klei­nen, die Lola selbst längst ver­ges­sen hat­te, fie­len Er­nes­te oft wie­der ein, und noch im­mer er­schrak sie dar­über. War sie nicht zart ge­nug ge­we­sen mit dem ein­sa­men Kin­de? Wohl hat­te sie es über die emp­fan­ge­nen Stra­fen zu trös­ten ge­sucht, in­dem sie ihm das Fleisch, das es nicht gern aß, wie einen Ku­chen her­rich­te­te; oder da­durch, dass der Spitz Ami, der Lola an­ge­knurrt hat­te, vor ihr schön ma­chen muss­te. Ami war nun tot – al­les war ver­än­dert. Nie mehr saß Lola wie da­mals, als sie noch nicht Deutsch konn­te, zu Er­nes­tes Fü­ßen und gab ihr die we­ni­gen Wor­te, die sie kann­te, als Schmei­chel­na­men. Nie mehr schlüpf­te sie am Mor­gen zu Er­nes­te ins Bett und weck­te sie mit ei­nem Ge­dicht, das die An­re­de »Herz­ma­ma« ent­hielt! »Wenn die Kin­der klein sind, brau­chen sie uns.« War das wirk­lich al­les in der Lie­be der Kin­der? Nein, nein! Und doch war Er­nes­te von ei­ner ver­drieß­li­chen Ah­nung er­fasst wor­den, als ei­nes Ta­ges Lola nicht mehr un­ter ih­rem waa­ge­recht aus­ge­streck­ten Arm ste­hen konn­te.

Ganz leicht mach­te nun die Heran­ge­wach­se­ne sich los: so leicht, als habe sie sich in­ner­lich nie bei Er­nes­te ge­fühlt! Zwar durf­te man nicht un­ge­recht wer­den: sie hat­te das Le­ben vor sich und wand­te sich ihm zu; und dann war wirk­lich viel Frem­des in ihr, das man nicht be­griff und das ei­nem Sor­ge ma­chen konn­te. Schon im­mer war Er­nes­te ängst­lich be­rührt, bei­na­he ein­ge­schüch­tert wor­den durch die An­zei­chen der frem­den Her­kunft bei Lola. Die auf­fal­len­den Äu­ße­run­gen des Kin­des zu­erst, sei­ne ei­gen­ar­ti­gen Ver­ge­hen und dass es ei­gent­lich nie­mals Ka­me­ra­den ge­habt hat­te. Dann sei­ne et­was frü­hen klei­nen Ver­liebt­hei­ten; nun, sie wa­ren schwär­me­risch und rein und moch­ten hin­ge­hen. End­lich aber die­se schlim­me Lust nach dem Thea­ter: oh, et­was ganz Schlim­mes war da in Lola ent­stan­den, aus Kei­men, die Er­nes­te trotz al­ler Pfle­ge die­ser See­le nicht hat­te er­sti­cken kön­nen. Wie un­heim­lich ih­r’s da­mals zu Mut ge­we­sen war, und wie kum­mer­schwer sie nun die Ent­frem­dung zwi­schen ih­nen bei­den wach­sen und die Tren­nung sich nä­hern sah!

»Wa­rum ist sie so? Was hat sie mir vor­zu­wer­fen? Denkt sie doch noch ans Thea­ter?« Auch an­de­re Mäd­chen in Lo­las Al­ter, und ge­ra­de die Bes­se­ren, wuss­te Er­nes­te, hat­ten ihre scheu­en und ei­gen­wil­li­gen Zei­ten, stan­den im­mer im Be­griff, in Ohn­macht zu fal­len – dies ge­sch­ah Lola nie – wa­ren schwach, er­reg­bar und tief. Lola aber war gar zu un­er­gründ­lich, und in ih­rer Ver­schlos­sen­heit spür­te man et­was Bit­te­res, Feind­se­li­ges. Hat­te sie zu kla­gen: warum er­öff­ne­te sie sich nicht ih­rer al­ten Freun­din? »Früh ge­nug blei­ben wir al­lein im Le­ben. Noch hat sie eine, der sie al­les ist. Aber die Ju­gend trumpft auf ihre Selbst­stän­dig­keit. Spä­ter wird sie an mich den­ken.« Ge­reizt vom ein­sa­men Grü­beln, war Er­nes­te nahe dar­an, Lola ein recht schlim­mes Spä­ter zu wün­schen, da­mit sie an sie den­ke. Dann wur­den Lo­las Schrit­te ver­nehm­lich, und noch be­vor sie in der Tür stand, hat­te Er­nes­te ihr al­les ab­ge­be­ten.

»Bist du nun ge­nug um­her­ge­lau­fen?« frag­te sie mun­ter. »Setzt du dich nun ge­müt­lich zur al­ten Er­nes­te?«

Da­bei stell­te sie sich ganz mit ih­rer Hä­ke­lei be­schäf­tigt und sprach nur in Pau­sen.

»Weißt du wohl, wor­an ich eben er­in­nert wur­de? An das sei­de­ne Kleid­chen, in dem du da­mals aus Ame­ri­ka kamst. Dies da hat eine ähn­li­che Far­be, und die Är­mel sind auch wie­der so. Was al­les zwi­schen den bei­den Klei­dern liegt, nicht?«

Lola sah mit ei­ner Fal­te zwi­schen den Au­gen vom Buch auf, war­te­te, was sie sol­le, und las wei­ter.

»Du kamst zu ei­ner Zeit, als ich sehr ein­sam und trau­rig war«, sag­te Er­nes­te nach ei­ner Wei­le.

»Be­liebt?« frag­te Lola; und Er­nes­te sprach, trotz ih­rer Scham, den Satz noch ein­mal.

»So?« mach­te Lola, un­ge­dul­dig, weil sie einen Au­gen­blick von sich selbst fort und über je­mand an­de­ren nach­den­ken muss­te.

»Ach ja, du warst das ers­te Jahr im­mer in Trau­er.«

Sie sah noch in die Luft, ob sie wei­ter­fra­gen müs­se. Wozu? Und sie kehr­te zum Buch zu­rück.

»Wenn man so al­lein ge­blie­ben ist, wie ich da­mals, dann ist das Herz vor­be­rei­tet. Drum ge­wann ich dich, die du auch al­lein warst, gleich sehr lieb«, sag­te Er­nes­te ein­fach. Nach ei­ner Pau­se, da Lola sich nicht reg­te:

»Nun, ganz ver­ges­sen wirst du die alte Er­nes­te wohl nie­mals.«

Ein sto­cken­des Selbst­ge­spräch.

»Soll­test du einst ein Kind zu er­zie­hen ha­ben, ja, dann denkst du ge­wiss an mich … Du musst es selbst er­zie­hen … Bei Rous­seau – hier den Emi­le wol­len wir zu­sam­men le­sen – steht fol­gen­des: ›Wenn ein Va­ter Kin­der zeugt und er­nährt, leis­tet er da­mit erst ein Drit­tel sei­ner Auf­ga­be … Wer die Va­ter­pflich­ten nicht er­fül­len kann, hat kein Recht, Va­ter zu wer­den. We­der Ar­mut noch Ar­bei­ten noch mensch­li­che Rück­sich­ten ent­he­ben ihn der Pf­licht, sei­ne Kin­der selbst zu er­näh­ren und zu er­zie­hen. Le­ser, ihr könnt mir glau­ben, je­dem, der ein Herz hat und so hei­li­ge Pf­lich­ten ver­säumt, sage ich vor­aus, dass er über sei­nen Feh­ler lan­ge Zeit bit­te­re Trä­nen ver­gie­ßen und sich nie trös­ten wird.‹«

Er­nes­te sah vom Buch auf. Lola saß blass da und sah sie durch­drin­gend an. Plötz­lich, klar, rasch und ein­tö­nig:

»Meinst du etwa mei­nen Va­ter?«

Er­nes­te öff­ne­te er­schreckt den Mund und konn­te nicht spre­chen. Sie wehr­te mit der Hand ab.

»Meinst du etwa mei­nen Va­ter?« wie­der­hol­te Lola. Ro­sig bis über die Stirn brach­te Er­nes­te her­vor:

»Um Got­tes wil­len, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns ge­spro­chen, von dir und mir. Ich hal­te dich in mei­nen Ge­dan­ken ja im­mer für mein ei­gen!«

Lola prüf­te sie noch im­mer. Nein, Er­nes­te hat­te wohl nicht an Pai ge­dacht. Wie sie sich auf­reg­te! Welch selt­sa­mer Ton: ich hal­te dich für mein ei­gen. Lola stutz­te; aber dann ver­glich sie un­will­kür­lich das an Er­nes­tes ver­wach­se­nem Kör­per schlechts­it­zen­de Kleid mit ih­rem ei­ge­nen, das sie auch im­mer ver­geb­lich zu­recht­zog, und sie sah weg.

Er­nes­te beug­te sich über ihre Hä­ke­lei und sann er­schüt­tert: »Sie kann glau­ben, dass ich ihr wehe tun will? Ar­mes Kind! Ar­mes Kind!«

Et­was spä­ter stell­te sie eine Fra­ge, und als Lola nicht ver­stan­den hat­te, klopf­te Er­nes­te auf den Tisch und be­merk­te streng:

»Wenn du beim Le­sen die Fin­ger in die Ohren steckst, kannst du mich al­ler­dings nicht ver­ste­hen. Sprich üb­ri­gens fran­zö­sisch!«

Und sie führ­ten zur Übung ein lan­ges, gleich­gül­ti­ges Ge­spräch.

Nein, wahr­haft lie­bens­wer­te We­sen gab es nur auf an­de­ren Ster­nen; in ih­rer Nähe such­te Lola sie nicht. Ei­nes Ta­ges aber fand sie einen jun­gen Vo­gel, der ver­geb­lich ins Ge­büsch zu flat­tern ver­such­te, und nahm den aus dem Nest Ge­fal­le­nen mit nach Hau­se.

»Was ist das über­haupt für ein Tier?« sag­te Er­nes­te.

»Das ist ganz gleich«, er­klär­te Lola. »Ich habe ihn gern.«

»In der Stadt wol­len wir gleich im Buch nach­se­hen.«

»Nein, bit­te nicht! Von wel­cher Gat­tung er ist und al­les üb­ri­ge küm­mert mich nicht. Vi­el­leicht ist er ein klei­ner Frem­der: ich habe ihn gern.«

»Kind, du bist son­der­bar; aber wie du willst.«

Nun saß Lola hal­be Tage mit dem Vo­gel in ih­rem Zim­mer, ließ ihn über ihre Fin­ger stei­gen, auf ihre Schul­ter flat­tern und bot ihm, mit ei­nem Körn­chen zum Pi­cken, ihre Lip­pen. Als er zu flie­gen an­fing, schloss sie das Fens­ter, setz­te ihn vor sich hin auf den Tisch, be­trach­te­te ihn, den Kopf in der Hand, wie er pick­te, eckig den Kopf rück­te, sie an­sah und einen klei­nen hel­len, ein­sa­men Laut aus­stieß, und stell­te sich vor, dies sei ein Kä­fig und sie bei­de sei­en dar­in ein­ge­sperrt.

Zu­rück in der Pen­si­on, sehn­te sie sich kei­nen Au­gen­blick nach ih­rem Wal­de, nach den Ge­wit­tern und der Holz­fäl­ler­hüt­te; sie hat­te ih­ren klei­nen Ge­nos­sen, der zwi­schen den Stä­ben sei­nes Bau­ers in ih­rem Zim­mer auf sie war­te­te. Sie dach­te im­mer an ihn, ließ es sich aber nie an­mer­ken und be­kam ein har­tes, ab­wei­sen­des Ge­sicht, wenn je­mand von ihm sprach.

Nie­mand übte Kri­tik an ih­ren Selt­sam­kei­ten; man konn­te Lola nur an­stau­nen; denn in die­sem Win­ter ver­wan­del­te sie sich und ward schön. Die große Na­tur, der sie im Som­mer sich hin­ge­ge­ben hat­te, schi­en in ihr fort­zu­blü­hen und Eben­maß und Vollen­dung zu wir­ken. Lola tas­te­te nach ih­ren Schul­tern, de­ren Spit­zen nicht mehr zu spü­ren wa­ren, nach ih­ren Glie­dern, die sich form­ten und ihr nicht mehr den Ein­druck mach­ten, als sei­en sie zu lang und schlen­ker­ten lo­cker um­her; und sie frag­te sich mit ge­run­zel­ten Brau­en, was wer­den sol­le. Ihr Schick­sal war doch schon fer­tig ge­we­sen? Auf ein­mal be­fiel sie eine be­täu­ben­de Freu­de, eine neue ent­zücken­de Selbs­t­er­kennt­nis. »Das also bin ich!« Sooft sie konn­te, zog sie sich in ihr Schlaf­zim­mer zu­rück, »um nach mei­nem Vo­gel zu se­hen«; aber sie sah nicht mehr nach ihm, sie sah nur nach sich selbst; und des Abends ging sie frü­her hin­auf als die üb­ri­gen, um al­lein mit ih­rem Spie­gel zu sein. Er zeig­te ihr eine gold­blon­de große Haar­wel­le von nie ge­ahn­ter Weich­heit über ei­ner Stirn, de­ren Höhe nicht mehr auf­fiel, zeig­te ihr so ge­nau und zart hin­ge­zeich­ne­te Brau­en über so warm glän­zen­den Au­gen, so fein ge­füg­te Lip­pen, schmal und feuchtrot; die Wan­gen, die sie noch ein we­nig vol­ler wünsch­te, füll­ten sich ge­nau in der Li­nie, die sie wünsch­te, färb­ten sich, wie sie’s ver­langt hat­te; und war die­se weich ge­bo­ge­ne Nase je­mals häss­lich und zu groß ge­we­sen? Lola er­fuhr, sie kön­ne ein sehr da­men­haf­tes Ge­sicht an­neh­men, das sie fast selbst ver­le­gen mach­te, und, wenn sie das Haar auf­lös­te, ein ganz kind­li­ches. Beim Öff­nen der Blu­se freu­te sie sich auf die schlan­ke, wei­ße Bie­gung ih­res Hal­ses, beim Ab­le­gen des Mie­ders auf ihre Brust. Sie hät­te sich gern ganz ge­se­hen; aber Er­nes­te konn­te ein­tre­ten; und als Lola es den­noch ge­wagt und den Spie­gel auf den Fuß­bo­den ge­stellt hat­te, lag sie gleich dar­auf im rasch ver­dun­kel­ten Zim­mer mit Herz­klop­fen un­ter der De­cke, und ihr war zu­mut, als keh­re sie zu­rück von ei­nem heim­li­chen Aus­gan­ge, sie wuss­te nicht wo­hin.

Wer war so schön und ver­moch­te so viel? Na­tür­lich: jetzt dräng­ten alle her­an, ihre Freun­din­nen zu wer­den! Lola leg­te ih­nen Prü­fun­gen auf, ließ sich einen Ge­gen­stand schen­ken, an dem der an­de­ren viel lag: nur um ihre Macht zu füh­len. Dann gab sie das Ge­schenk zu­rück und sag­te, sie kön­ne nie­man­des Freun­din sein; die Freun­din meh­re­rer am we­nigs­ten. Freund­schaft: ihr sag­te das Wort zu viel. Nach­dem die Ihren sie ver­las­sen hat­ten, konn­te ihr Freund, wenn sie einen hat­te, nur auf ei­nem an­de­ren Ster­ne le­ben, und vie­ler Schmer­zen, ei­nes Le­bens vol­ler Schmer­zen be­durf­te es si­cher­lich, bis sie zu­sam­men­tra­fen. Die Ge­füh­le die­ser Men­schen hier wa­ren zu bil­lig. Lola horch­te nicht mehr arg­wöh­nisch, ob von ihr ge­spro­chen wur­de. Häss­lich und fremd, hat­te sie die Men­schen ge­hasst. Fremd und schön, sah sie von ih­nen weg. Freun­din­nen? Die­se Ber­ta, die­se Gre­te, die sich noch ges­tern Abend um einen Pfann­ku­chen ge­strit­ten hat­ten, bis bei­de wein­ten?

Wenn Lola jetzt an einen Auf­satz ge­hen woll­te, fand sie den fer­ti­gen Ent­wurf, von ei­ner Hand, die sie nicht kann­te, schon in ih­rem Heft lie­gen. Von der­sel­ben Hand be­kam sie Brie­fe voll schmach­ten­der Freund­schaft. An­fangs warf sie sie weg; dann spür­te sie Lust, eine Pro­be zu ma­chen. Sie tat kund, sie habe et­was Merk­wür­di­ges, und ver­sam­mel­te alle Pen­sio­nä­rin­nen um sich. Un­ver­mu­tet zog sie einen der Brie­fe her­vor, hielt ihn em­por: »Wer hat das ge­schrie­ben?« und sah da­bei fest in die Ge­sich­ter. Alle reck­ten sich neu­gie­rig, nur das der lan­gen Asta sah nicht den Brief an, son­dern Lola, und blin­zel­te be­fan­gen. Lola steck­te den Brief wie­der ein. »Dan­ke«, sag­te sie und dreh­te sich um.

Am Nach­mit­tag lag zwi­schen ih­ren Schul­bü­chern ein neu­er Brief, dies­mal in Astas Schrift. Asta bat sie, um sechs in die Gar­ten­lau­be zu kom­men, sie wer­de al­les er­fah­ren. Lola war ent­schlos­sen, nicht hin­zu­ge­hen. Als es däm­mer­te, saß sie am Fens­ter ih­res Zim­mers. Dr­un­ten stapf­te Asta, lang und ge­bückt, in Gum­mi­schu­hen durch den Schnee. Lola sah nach­denk­lich zu. Plötz­lich nahm sie ih­ren Man­tel und stieg hin­ab.

»Nun?« frag­te sie und trat un­ver­se­hens hin­ter den Le­bens­bäu­men her­vor. Asta schnell­te von der Bank auf.

»Ver­zeih«, stam­mel­te sie. »Ver­zeih! Ich woll­te dich nicht be­lü­gen, aber im Bei­sein der an­de­ren konn­te ich dir’s nicht sa­gen.«

»Es tut nichts«, ent­geg­ne­te Lola. Die­ser klei­ne ma­ge­re Kopf mit dem dün­nen Haar und der Nase wie bei ei­nem To­ten­schä­del er­barm­te sie. Sie stell­te sich vor, sie hät­te ihn küs­sen sol­len, und ihr schau­der­te. Noch mehr aber fürch­te­te sie sich da­vor, die­sem We­sen weh zu tun.

»Wer hat denn für dich ge­schrie­ben?« frag­te sie sanft. Asta schlug die Au­gen nie­der.

»Ich habe mei­ne Brie­fe ei­nem der Dienst­mäd­chen mit­ge­ge­ben, und sie hat sie in der Stadt ab­schrei­ben las­sen.«

Sie at­me­te be­klom­men.

»Wie du gü­tig bist, Lola, dass du kommst. Ich ver­die­ne das nicht.«

»Wa­rum nicht?« frag­te Lola, und fand ihre Fra­ge nicht ganz ehr­lich.

»Weil du so schön bist und so rei­zend. Alle möch­ten dich zur Freun­din. Wie kom­me ge­ra­de ich dazu, mich dir auf­zu­drän­gen. Aber sieh, ich kann nicht an­ders. Ich weiß be­stimmt, dass kein an­de­rer Mensch mir je so na­he­ste­hen wird wie du. Ich habe dar­über nach­ge­dacht, ob ich mei­ne Mut­ter und mei­nen klei­nen Bru­der noch lieb­ha­be. Aber wenn ich an dich den­ke – und wann däch­te ich nicht an dich? – dann habe ich Mut­ter und Bru­der nicht mehr lieb. Hörst du? … nicht mehr lieb.«

»Was willst du denn von mir?«

»O! Lola!«

Und Lola, die nicht ab­zu­weh­ren wag­te, fühl­te sich um­schlun­gen. Sie bog den Kopf zu­rück, um aus Astas Atem zu ent­kom­men; aber ein paar Hän­de schli­chen fie­ber­haft um ih­ren Leib, un­ter ih­rer Brust hin.

»Fühlst du gar nicht, was ich mei­ne? Gar nicht?« Vor­wurfs­voll und fle­hend.

»Gar nicht!« sag­te Lola mit Nach­druck; denn Angst stieg in ihr auf. Im Be­griff, sich los­zu­ma­chen, mein­te sie ein Ki­chern zu hö­ren. Der Ge­dan­ke an Lau­scher em­pör­te sie. »Ich bin nicht ge­kom­men«, dach­te sie, »die­se hier zu ver­höh­nen. Ich habe nichts mit ihr ge­mein; aber auf Sei­ten der an­de­ren ste­he ich erst recht nicht.« Sie sag­te laut, wie für Zu­hö­rer:

»Aber dies kann ich trotz­dem tun.«

Und rasch küss­te sie Asta auf die Wan­ge. Wie sie ging, schluchz­te es hin­ter ihr auf. Oft noch hör­te sie, wenn sie al­lein war, dies Schluch­zen und spür­te wie­der die Angst, die die fie­ber­haf­ten Hän­de je­nes Mäd­chens ihr bei­ge­bracht hat­ten. Sie be­griff nicht, warum.

Jen­ny klär­te sie auf. Os­tern war nahe, und Jen­ny, die kon­fir­miert wer­den soll­te, ging im Voraus mit ei­nem fei­er­li­chen Ge­sicht um­her. Es war schon so rot und nur noch we­nig klei­ner als das ih­rer Mut­ter. Wie sie Lola einst im Gar­ten traf, fass­te sie sie un­ter den Arm und sag­te:

»Lola, du bist manch­mal recht un­vor­sich­tig; ich als die äl­te­re möch­te dich war­nen. Ja, sieh mich nur an! Du kannst von Glück sa­gen, dass ich neu­lich hin­ter den Le­bens­bäu­men stand. Wenn Asta mich nicht hät­te hus­ten hö­ren, wer weiß, was sie mit dir an­ge­stellt hät­te.«

»Du hast nicht ge­hus­tet, du hast ge­ki­chert; und Asta hat es gar nicht ge­hört.«

»Du glaubst nicht, wie schlecht man­che Mäd­chen sind. Und die Her­ren …«

Ein In­stinkt be­nach­rich­tig­te Lola, es kom­me et­was Pein­li­ches, und sie woll­te ein­fal­len. Aber Jen­ny war nicht auf­zu­hal­ten. Sie hat­te kei­ne Zeit zu ver­lie­ren: bald ver­ließ sie die Pen­si­on. Sie bot Lola nicht mehr an, sie mit ei­nem Lei­er­kas­ten­mann be­kannt zu ma­chen; sol­che Scher­ze la­gen hin­ter ihr. Aber Lo­las Nai­vi­tät war doch nicht mit an­zu­se­hen.

»Ich glau­be dir einen wirk­li­chen Dienst ge­leis­tet zu ha­ben«; so schloss sie ihre deut­li­chen Aus­füh­run­gen.

»Nun ja«, mach­te Lola und hob die Schul­tern. Ihr war be­klom­men; umso hoch­mü­ti­ger sag­te sie sich: »Ich habe mir die Men­schen ganz rich­tig vor­ge­stellt, dies setzt al­lem die Kro­ne auf.« Sie äu­ßer­te:

»Du ent­schul­digst wohl, ich muss mei­nem Vo­gel Fut­ter ge­ben.«

Aber den Vo­gel, der sie lang­weil­te, ver­gaß sie gleich wie­der und dach­te ei­ni­ge Tage an nichts so in­stän­dig wie an Jen­nys Auf­schlüs­se. Sie rie­fen fan­tas­ti­sche Bil­der her­vor; und so­oft Lola sich über die­sen Vor­stel­lun­gen er­tapp­te, ekel­ten sie sie. All­mäh­lich zo­gen sie sich zu­rück und war­fen nur manch­mal noch me­lan­cho­li­sche Schat­ten her­auf. »Ach, dass es kei­ne rei­ne Lie­be gibt.«

Ein Brief von Pai brach­te sie da­von ab. Pai schrieb aus Ar­gen­ti­ni­en, wo­hin sei­ne Ge­schäf­te ihn ge­nö­tigt hat­ten.

»Es geht al­les nach Wunsch, und ich darf hof­fen, mich bald an dem Ziel zu se­hen, das ich mir vor­ge­steckt habe: die Mei­nen si­cher­zu­stel­len und sie in mei­nem Lan­de zu ver­ei­ni­gen. Vo­rerst den­ke ich Dich, mein Kind, in nächs­ter Zu­kunft dort auf­zu­su­chen. Nur eine kur­ze Rück­kehr nach Rio ist ge­bo­ten.«

»Und dort hält dann wie­der ir­gen­det­was ihn fest«, dach­te Lola. »Das ken­nen wir doch.«

Sie glaub­te Pai nicht mehr. Vi­el­leicht hat­te er die bes­ten Ab­sich­ten; aber so vie­les war ihm wich­ti­ger als Lola und lenk­te ihn von ihr ab. Nach all den Jah­ren konn­te er sich höchs­tens sa­gen »Ich habe eine Toch­ter« und den Ge­dan­ken an sei­ne Toch­ter gern ha­ben. Lola gern ha­ben konn­te er schwer­lich: kann­te er sie doch gar nicht.

»Nicht von Be­lang«; da­mit leg­te sie den Brief zu den üb­ri­gen. Aber bei der Ar­beit er­tapp­te sie sich plötz­lich auf ei­ner freu­di­gen Un­ru­he und dar­auf, dass sie schon wäh­rend der gan­zen letz­ten Sei­te nur an Pais Kom­men ge­dacht und al­les falsch ge­macht hat­te. Ver­ge­bens er­mahn­te sie sich: »Als ich klein war, hat Pai sehr schlecht an mir ge­han­delt; nie kann ich das ver­ges­sen« – so­oft sie an Pais Be­such dach­te, be­kam sie Herz­klop­fen. Und all­mäh­lich dach­te sie nur dar­an. Un­ter al­len an­de­ren lä­chel­te die­ser eine Ge­dan­ke, und Lola selbst hat­te be­stän­dig ein Lä­cheln zu un­ter­drücken. In ihr be­gann ein Stei­gen und Fal­len von Plä­nen, wie ein Spring­brun­nen, den man auf­schließt; im­mer hö­her, im­mer zu­ver­sicht­li­cher schnellt er em­por. An­fangs wag­te sie zu hof­fen: »Wenn Pai kommt, viel­leicht kann ich mit ihm zu­sam­men woh­nen? Ein­mal doch von den Frem­den weg und bei mei­nem Va­ter woh­nen!« Dann fiel ihr ein: »Aber warum denn hier­blei­ben? Wa­rum nicht eine Rei­se ma­chen?« Vie­le Orte, die sie gern ge­se­hen hät­te, spran­gen ihr durch den Sinn. Auf ein­mal stand al­les an­de­re still, und eine klei­ne schüch­ter­ne Stim­me frag­te: »Und Rio?« Zu­erst war Lola fas­sungs­los. Plötz­lich ent­schloss sie sich: »Ja, Rio! Was ist da­bei? Wenn ich Pai bit­te, wird er mir doch er­lau­ben, Mai wie­der­zu­se­hen. Die Rei­se ist jetzt so kurz. Und für ihn ist es das be­quems­te: er bleibt dann gleich dort, wenn ich zu­rück­fah­re.« End­lich, auf dem Gip­fel des Springstrahls: »Nein! Ich fah­re nicht wie­der zu­rück. Bin ich dort, will ich’s schon durch­set­zen. Was kann denn Pai da­bei tun, wenn ich ihm um den Hals fal­le und nicht los­las­se? Münd­lich ist das al­les ganz an­ders als in die­sen dum­men Brie­fen. Und schlimms­ten­falls ste­cke ich mich hin­ter Mai oder hin­ter die Gro­ß­el­tern auf der Gro­ßen In­sel – ach nein, sie sind tot! – oder ich lau­fe da­von, lie­ber, als dass ich zu­rück­keh­re! Oh, jetzt hab’ ich’s!«

Sie klatsch­te in die Hän­de, zum ers­ten Mal seit den Kin­der­zei­ten. Dann lief sie zu Er­nes­te, ih­rem Glücke Luft zu ma­chen. Im Schwat­zen bat sie plötz­lich, aus­ge­hen zu dür­fen. Zu viel blüh­te in ihr auf, das Haus ward ihr zu eng. Nun schwatz­te und lach­te sie mit al­len, wahl­los und ge­dan­ken­los. Kei­nen Au­gen­blick konn­te sie still­hal­ten. Im­mer: »Wie seid ihr lang­wei­lig!« Und: »Geht heu­te nie­mand aus?« Im Ge­hen, im Durch-die-Stra­ßen-Ir­ren schi­en ih­r’s, als kom­me sie ih­ren Wün­schen nä­her. Zu Hau­se ver­sank man in der Zeit wie in Lehm. »Vor­wärts, o Gott, nur vor­wärts!«

Ei­nes Ta­ges, wie sie heim­kam, trat Ber­ta ihr ver­stör­ten Ge­sichts ent­ge­gen.

»Dein Vo­gel ist tot«, sag­te sie vor­wurfs­voll; und Lola, kopf­los:

»Wie­so?«

»Ich soll­te für Er­nes­te et­was aus eu­rem Zim­mer ho­len und da hab’ ich ge­se­hen, dass er tot ist.«

Lola schüt­tel­te den Kopf. Sie ging hin­ein: wirk­lich, da lag er auf der Sei­te. Sie streck­te mit Wi­der­wil­len einen Fin­ger durch die Stä­be und zog ihn rasch wie­der zu­rück, »Im Näpf­chen sind noch vie­le Kör­ner, er hat schon lan­ge nichts mehr ge­fres­sen. Und ges­tern Abend sang er noch; ich muss­te ihn zu­de­cken. Nun, die­se Art lebt viel­leicht nicht län­ger; trös­te dich.« Sie hat­te das Be­dürf­nis, rasch wei­ter­zu­kom­men. Ihr nach Glück ja­gen­der Sinn wuss­te mit dem Tod, der ihr in den Weg trat, nichts an­zu­fan­gen und er­kann­te ihn kaum. Wie sie die Tür öff­ne­te, stand je­mand da­vor mit ei­nem schwarz­ge­rän­der­ten Brief. Er­staunt nahm sie ihn und trat zu­rück ins Zim­mer. Die Schrift kann­te sie nicht; die ers­ten Wor­te hie­ßen:

»Lie­be Lola! Ein großes Un­glück ist ge­sche­hen, un­ser Va­ter ist ge­stor­ben.«

»Wes­sen Va­ter?« – Sie sah nach der Un­ter­schrift: »Dein Bru­der Pao­lo.« – »Pao­lo? Welch Un­sinn! Mein Bru­der hieß Nene.« – Sie las wei­ter.

»Un­ser Va­ter reis­te, wie dir viel­leicht be­kannt ist, die letz­te Zeit in Ar­gen­ti­ni­en, und kaum zu­rück­ge­kehrt, nahm ihn das Gel­be Fie­ber. So wahr ist es, dass kein nicht in Rio Ge­bo­re­ner sich ent­fer­nen darf ohne Ge­fahr, bei sei­ner Heim­kunft ein Op­fer der schreck­li­chen Krank­heit zu wer­den.«

»Es scheint doch Pai zu sein.« Sie las noch:

»Un­se­re lie­be Mama weint mit mir. Wei­ne mit uns, Schwes­ter!«

»Pai ist tot?« dach­te Lola. »Er woll­te doch her­kom­men!« Ihr plan­lo­ser Blick durch­such­te das Vo­gel­bau­er; da be­merk­te sie:

»Das sind nur lee­re Hül­sen! Wahr­haf­tig, kein ein­zi­ges Korn. Dann ist er ver­hun­gert! Ich habe ihn ver­hun­gern las­sen! Mein Gott! Und ich hat­te ihn doch lieb!«

Sie ge­dach­te – und rang da­bei die Hän­de – der Zeit, da sie den klei­nen Vo­gel fand und zu sich nahm, und der Zärt­lich­keit, die sie auf dies rüh­ren­de, jetzt so kal­te Ge­fie­der ge­häuft hat­te: all das Ge­fühl, des­sen sie nur die luf­ti­ge­ren, gü­ti­ge­ren, rei­ne­ren Ge­schöp­fe hö­he­rer Ster­ne wert ge­hal­ten hat­te. Wie hat­te es ge­sche­hen kön­nen, dass ihr die­se große Lie­be nach und nach ganz aus dem Sinn ge­kom­men war, so sehr, dass dies arme Tier sie lang­weil­te und sie’s ver­hun­gern ließ? Wir wa­ren also un­se­res Her­zens nicht si­cher? Wie schreck­lich! »Nur aus Ei­gen­nutz lieb­te ich ihn. Ich hät­te ihn in sei­nem Wal­de las­sen sol­len. Aber auch er hat­te mich lieb, lie­ber als ich ihn. Er pfiff, wenn ich ins Zim­mer trat, und so­bald ich die Lip­pen hin­hielt, leg­te er den Schna­bel da­zwi­schen. Ges­tern Abend hat er noch ge­sun­gen: viel­leicht um mir zu sa­gen, er sei mir nicht böse.«

Und un­ter dem Be­wusst­sein ver­säum­ter Lie­be brach sie in die Knie und schluchz­te: »Pai ist tot!« Al­les, was sie bis da­hin ge­dacht hat­te, war nur wie das Keu­chen, be­vor die schwe­ren Trä­nen kom­men. Jetzt erst wuss­te Lola: »Pai ist tot«; und von al­len Sei­ten fiel’s über sie her: »Du hast ihn nicht lieb­ge­habt. Du bist ihm böse ge­we­sen, hast ihn nicht ver­stan­den. Er woll­te dein Bes­tes und hat nur da­für ge­ar­bei­tet. Lies sei­ne Brie­fe.«

Sie las den letz­ten und er­kann­te plötz­lich, wel­che wich­ti­ge Sa­che es für ihn ge­we­sen war, sie wie­der­zu­se­hen. Die Zei­len zit­ter­ten auf ein­mal von Sehn­sucht und Un­ge­duld: »Dass ich das nicht ge­merkt habe! Ich nann­te ihn kalt. Die Kal­te war ich: ich woll­te nach Hau­se zu­rück, viel­leicht mehr aus Ei­gen­wil­len, aus Hoch­mut. Das Zu­sam­men­sein mit ihm ge­nüg­te mir nicht; er aber sehn­te sich nur da­nach. Wie er des­we­gen ge­lit­ten ha­ben muss, ehe er starb!«

Ihr Schmerz ent­riss ihr selbst al­les Herz und gab es dem To­ten. So zärt­lich war er ge­we­sen! »Es kann ja nur mein ein­zi­ger Wunsch sein, dich glück­lich und zu­frie­den durchs Le­ben schrei­ten zu se­hen.« Dies stand in dem Brief, worin er ihr die er­be­te­ne Heim­rei­se ab­ge­schla­gen hat­te; den sie für den lie­be­leers­ten ge­hal­ten, we­gen des­sen sie ihn fast ge­hasst hat­te! Jetzt lern­te sie, in die Wor­te hin­ein­zu­hor­chen. »Ich habe dich lieb«, sag­ten alle, wie einst Pais ers­te deut­sche Wor­te in sei­nem ers­ten Brief es Lola ge­sagt hat­ten.

Pais schwe­ren, ru­hi­gen Schritt ver­nahm sie aus sei­nen Wor­ten, fühl­te sei­ne star­ke, gute Hand, sah die ver­hal­te­ne Emp­fin­dung in sei­nem erns­ten Ge­sicht. »Auf der Gro­ßen In­sel! Pai be­such­te mich; ich war ganz klein, er so groß und blond, viel grö­ßer als alle Men­schen. Alle be­wun­der­ten ihn und be­nei­de­ten mich, wenn ich an sei­ner Hand ging. Wie stolz war ich auf ihn!« Bei die­ser Erin­ne­rung warf Lola sich auf­schrei­end zu Bo­den.

Er­nes­te kam und wag­te lan­ge nichts zu sa­gen. Lola lag da, reich­te Er­nes­te, ohne das mit den Ar­men ver­hüll­te Ge­sicht zu er­he­ben, den Brief hin, schüt­tel­te sich aber, so­bald Er­nes­te, über ih­ren Na­cken ge­beugt, nur flüs­ter­te. Plötz­lich fuhr sie em­por.

»Ich bin eine schlech­te Toch­ter ge­we­sen!«

»Wie magst du das sa­gen!« stam­mel­te Er­nes­te. »Seit frü­her Kind­heit hast du dei­nen gu­ten Va­ter nicht mehr ge­se­hen.«

Lola stampf­te auf.

»Ich habe ihn ge­hasst! Eine schlech­te Toch­ter!«

»Der Schmerz ver­wirrt dich, Kind«; und Er­nes­te, die schluchz­te, um­arm­te Lo­las Kopf und drück­te ihn an sich. Lola woll­te sich los­rei­ßen; aber Er­nes­te nahm alle Kraft zu­sam­men, und all­mäh­lich ließ Lola sich schlaff wer­den, sin­ken und wei­nen.

»Du musst an Mut­ter und Bru­der schrei­ben«, sag­te schließ­lich Er­nes­te im Ton der höchs­ten Eile, froh, eine Tä­tig­keit für Lola ge­fun­den zu ha­ben, die aus ih­rem Schmer­ze selbst her­vor­ging und in die er sich er­gie­ßen konn­te. Wie Lola dann ihre blu­ten­den Ge­dan­ken sam­mel­te, ka­men auch un­er­war­te­te. »Was soll ich ih­nen schrei­ben? Dass ich kom­men möch­te! Jetzt kann ich kom­men, denn Pai ist tot.« Mit Ent­set­zen: »Das ist ja, als ob ich mich freu­te! Nein! Nein! Ich wer­de nicht nach Hau­se rei­sen; er hat es nicht ge­wollt, und ich ver­die­ne es nicht.«

Sie schrieb, sie müs­se hier noch ihre Aus­bil­dung be­en­den, und fühl­te sich, als sie auf­stand, ge­wach­sen.

Nachts wein­te sie: über den da­hin­ge­gan­ge­nen Va­ter, über das Ver­bot, an das er sie noch als To­ter band, über die ver­lo­re­ne Hei­mat, über al­les wein­te sie die­sel­ben Trä­nen. Er­nes­te hör­te sie die gan­ze Nacht und lag ganz still. Am Tage aber tat die Buße, die sie sich auf­er­legt hat­te, Lola wohl. Die Schmer­zen und der Ver­zicht, um Pais wil­len er­dul­det, wa­ren et­was wie eine Fa­mi­lie, wa­ren ein Stück Hei­mat.

Auf ein­mal stand sie wie­der ganz am An­fang, als sie mit Er­stau­nen den Trau­er­brief er­brach. »Es ist nicht mög­lich, dass er tot ist! Vor ein paar Ta­gen leb­te er doch. Auch noch, als der Brief schon un­ter­wegs war, leb­te er doch! Hät­te ich die­sen schwarz­ge­rän­der­ten Brief nicht ge­le­sen, er leb­te noch im­mer. Es wäre al­les wie sonst. Ich habe ihn nicht le­ben ge­se­hen und sah ihn auch nicht ster­ben. Was weiß ich? Pai! Pai!«

Und da sah sie sich als Kind, wie sie auf ih­ren Irr­we­gen durch die Stadt, in­mit­ten ei­nes lee­ren Plat­zes, wo es weh­te, ste­hen­blieb und fle­hent­lich ihr »Pai!« rief. Auch da­mals hat­te er sie al­lein ge­las­sen, und sie hat­te es nicht glau­ben wol­len! Jetzt war er noch viel wei­ter fort­ge­gan­gen, und der Glau­be war noch schwe­rer. »Er woll­te doch her­kom­men!« Ja: auch da­mals hat­te er ge­ru­fen »noch einen Kuss, klei­ne Toch­ter«; und in­des sie ei­nem Schmet­ter­ling nach­lief, war er ver­schwun­den.

»Wa­rum kommt auch kein Brief mehr! Ich habe sie noch so viel zu fra­gen!«

Sie schrieb Brie­fe über Brie­fe, und in je­den woll­te sich die Bit­te hin­ein­drän­gen: »Darf ich zu euch?« »Nein, nein! Ich darf nicht. Am Ende wür­de auch Mai ster­ben. Pai ist ge­stor­ben, weil er zu mir woll­te. Auf mir ist ein Ver­häng­nis: ich soll al­lein blei­ben.« Und aus sol­chem fei­er­li­chen Schick­sal mach­te sie sich einen Halt für das Le­ben, das sie zu be­ste­hen hat­te. Gleich zu An­fang des Herbs­tes ver­trat sie den Wunsch, Kon­fir­ma­ti­ons­stun­den zu neh­men.

»Schon?« frag­te Er­nes­te be­stürzt. »Ich wuss­te wohl, Kind, dass ich dich wür­de her­ge­ben müs­sen; aber so früh!«

»Was willst du, ich bin sech­zehn«, ver­setz­te Lola, ohne Er­nes­tes Auf­re­gung zu be­ach­ten, kalt­blü­tig, wie je­mand, der sich mit al­lem Kom­men­den ab­ge­fun­den hat.

»Und was willst du dann tun, Kind? Nach Hau­se rei­sen?«

»Kei­nes­falls. Al­les muss sich fin­den.«

Wie­der be­gann Lola Plä­ne zu ma­chen; und dies­mal hielt sie sie für un­an­greif­bar, denn sie rech­ne­te auf sich selbst al­lein. »Ich wer­de von nie­mand ab­hän­gen. Nie­mand kann mich ver­las­sen, kei­nem wer­de ich mehr nach­zu­trau­ern ha­ben. Al­lein wer­de ich mei­nes We­ges zie­hen.«

An ei­nem Nach­mit­tag des nächs­ten Früh­lings saß Lola mit ei­ni­gen Al­ters­ge­nos­sin­nen beim Tee. Er­nes­te gab den Heran­ge­wach­se­nen die Er­laub­nis, sich Ka­me­ra­din­nen aus der Stadt ein­zu­la­den, und sie ließ die Mäd­chen un­ter sich. Schwarz und sehr ele­gant – denn die Schnei­de­rin der Pen­si­on be­stell­te ihr ge­gen Ver­gü­tung und ohne Er­nes­tes Wis­sen man­che Sa­chen aus Pa­ris – lag Lola im Schau­kel­stuhl und blies ih­ren Zi­ga­ret­ten­rauch, da­mit man ihn nach­her nicht rie­che, aus dem Fens­ter. Ein blü­hen­der Ap­fel­baum griff mit sei­nen Äs­ten her­ein; es war das­sel­be Zim­mer, worin einst die klei­ne Lola mit ih­rem Va­ter von Er­nes­te be­grüßt wor­den war.

»Ja ja, wer weiß, was je­der be­vor­steht. Die meis­ten von euch wer­den zwei­fel­los im Ge­lei­se blei­ben und hei­ra­ten.«

»Rede nur nicht, Lola. Als ob es bei dir nicht aufs sel­be hin­aus­käme.«

»Schwer­lich. Ich kann mir nicht gut einen Mann den­ken, zu dem ich ge­hö­ren wür­de. Ich habe ein ei­gen­tüm­li­ches Schick­sal, mei­ne Lie­ben. Vor meh­re­ren Jah­ren – Gott, wir wa­ren noch hal­be Kin­der – nann­tet ihr mich mal aus Bos­heit in­ter­na­tio­nal. In eu­rer Bos­heit hat­tet ihr aber ganz recht. Ich ge­hö­re nicht hier­her, und an­ders­wo­hin ver­mut­lich auch nicht.«

»Na, du bil­dest dir aber was ein!«

»Ich den­ke mir die Sa­che an­zu­se­hen. Wenn ich hier glück­lich her­aus bin, gehe ich, ver­mut­lich mit ei­ner Ge­sell­schaf­te­rin, auf Rei­sen. Spa­ni­en und Por­tu­gal neh­me ich mir be­son­ders vor.«

»Wie willst du als jun­ges Mäd­chen denn durch­kom­men? Schon die Spra­che!«

»Mei­ne Mut­ter­spra­che ist Por­tu­gie­sisch!«

»Du hast längst al­les ver­ges­sen.«

»Ich kann schon noch et­was.«

»Sprich mal!«

Lola blies Rauch aus dem Fens­ter. Die Tür ward ge­öff­net, und Er­nes­tes Stim­me sag­te fran­zö­sisch:

»Ein Be­such, mei­ne Da­men.«

Sü­ßes Par­füm drang her­ein, und eine schö­ne Dame, schwarz und sehr ele­gant, noch jung, mit glän­zend weißem Ge­sicht und glän­zend schwar­zen Haar­ban­de­aus, trat rasch in den Kreis der jun­gen Mäd­chen, die auf­stan­den. Sie er­hob das Lor­gnon und sah um­her.

»Da ist sie«, sag­te Er­nes­te und zeig­te auf Lola. Die Dame ließ das Lor­gnon los; vom An­blick Lo­las schi­en sie be­trof­fen.

»Die Kin­der wer­den groß«, be­merk­te Er­nes­te. Die Dame lä­chel­te. Lola, die erb­lasst war, mur­mel­te zit­ternd:

»Mai?«

Die Dame sprach, ganz schnell, et­was Un­ver­ständ­li­ches; Lola konn­te, mit sto­cken­der Stim­me, nichts er­wi­dern als »Mai, Mai«; und bei­de stan­den, die Arme un­schlüs­sig ein Stück er­ho­ben, ein­an­der ge­gen­über. Er­nes­te sag­te in ih­rem kor­rek­ten Fran­zö­sisch:

»Ist das selt­sam, gnä­di­ge Frau! Als Ihre Toch­ter ehe­mals in die­ses Haus ein­trat, konn­te sie nicht mit mir spre­chen – und jetzt nicht mit Ih­nen.«

Zwischen den Rassen

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