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II

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Haie be­glei­te­ten das Schiff. Lola sah zu, wie Ma­tro­sen sie an An­geln her­auf­zo­gen und ih­nen, kaum dass der Kopf den Schiffs­rand er­reicht hat­te, Stö­cke in den Ra­chen und durch den gan­zen Leib trie­ben. Als die wehr­lo­sen Un­ge­heu­er das Deck mit den Schwän­zen peitsch­ten und die Ma­tro­sen sich vor Freu­de auf die Knie klatsch­ten, fühl­te sie läh­men­de Trau­rig­keit.

Die Pas­sa­gie­re ver­sam­mel­ten sich; dies war ein Fest – und da sah Lola im Geist ein Kind sich zwi­schen die Leu­te drän­gen und mit ih­nen in Freu­de aus­bre­chen, er­kann­te sich selbst, wie sie einst auf ih­rer ers­ten Meer­fahrt ge­we­sen war, und be­lausch­te sich, dies un­wis­sen­de, hei­te­re und grau­sa­me Kind, mit Ver­ach­tung, Sehn­sucht und ei­ner Spur von Grau­en. Nicht wahr, jetzt wird das Mes­ser ge­nom­men und das Tier zer­stückt? Rich­tig: sie hat­te dies also auch da­mals er­lebt. Da­mals ge­hör­te es nicht zum Au­ßer­or­dent­li­chen; die Ne­ger da­heim hat­ten ganz eben­so grau­sam ge­han­delt an den Tie­ren, die sie fin­gen; und Lola selbst, hat­te sie nicht einst eine Schlan­ge, von der sie er­schreckt wor­den war, ganz lang­sam zer­schnit­ten, in lau­ter Rin­ge, und die Schlan­ge leb­te im­mer noch? Sie be­sah die Hand, die es ge­tan hat­te: die­se sel­be Hand. »Und ich den­ke, wenn ich der Gro­ßen In­sel ge­den­ke, nur an feu­ri­ge Pa­pi­er­röll­chen, die übers Was­ser schnell­ten, und an den Duft der Oran­gen­blü­ten! Das ist ein Irr­tum. Als ich nach Eu­ro­pa reis­te, schie­nen es an Bord lau­ter lie­be Men­schen, die nur dar­auf san­nen, ein­an­der Freu­de zu ma­chen. Die Wahr­heit ist an­ders; oh, was al­les lese ich jetzt in den Ge­sich­tern, die die Haie ster­ben se­hen!«

Sie zog die Ka­pu­ze ih­res Re­gen­man­tels in die Schlä­fen und hat­te nun, über das Ge­län­der ge­beugt, nur noch ein kur­z­es Stück brau­nen Was­sers vor Au­gen, be­pri­ckelt vom Re­gen. »Der gute alte Herr, der auf je­ner Rei­se al­len Kin­dern Scho­ko­la­de schenk­te und fast wein­te, wenn man sie nicht nahm: was für ein Schuft er viel­leicht war!« Da­rauf be­merk­te sie: »Schreck­lich miss­trau­isch und men­schen­feind­lich bin ich ge­wor­den! Wie lan­ge lebt man auch schon!« Ihr Man­tel ward steif von Was­ser; die brau­ne, sto­cken­de Luft ließ sich schwer at­men. »So, deucht mich, ist’s jetzt im­mer. Als ich von Rio kam, strahl­ten Meer und Him­mel un­aus­lösch­lich.«

Mai hat­te es leich­ter. Mit al­len war sie be­freun­det, er­freu­te sich des bes­ten Ap­pe­tits und vie­ler An­be­ter. »Wa­rum hältst du dich im­mer zu­rück?« frag­te sie oft. »Wie sym­pa­thisch ist Herr Sound­so!« Und Lola gab dies zu, weil die Wor­te, die ihre Ver­ach­tung des Herrn Sound­so ent­hiel­ten, ihr selbst den Hals zu­schnür­ten. Aber war es mög­lich, et­was an­de­res zu füh­len für je­mand, der un­ter al­len Da­men nur ei­ner die Hand küss­te, und zwar der, die den höchs­ten Ti­tel führ­te? Oder für einen an­de­ren Herrn Sound­so, der auch sym­pa­thisch sein soll­te und der dem Kell­ner nur zwei Glas Ko­gnak ein­ge­stand, wenn er drei ge­trun­ken hat­te? So war die Mensch­heit; umso schlim­mer für den, der nicht die Gabe hat­te, da­von ab­zu­se­hen.

»Du hast dich schwer ge­trennt«, mein­te Mai herz­lich. »Wa­rum warst du nicht auf­rich­tig mit mir? Sage doch, bit­te, bit­te, an wen du denkst!«

»An nie­mand be­son­ders, ich ver­si­che­re dich.«

Und sie ver­sank in im­mer trüber­en Zorn. Wär’s noch ein ein­zel­ner ge­we­sen, an dem sie litt! Aber der, den sie zu­rück­ge­las­sen hat­te, war nichts. Nicht sei­net­we­gen er­dul­de­te sie nun die­sel­be schwe­re Ein­sam­keit, die ihre frü­hen Mäd­chen­jah­re ver­bit­tert hat­te. Nur er­in­nert hat­te er sie dar­an, wie vor ihm an­de­re sei­ner Ras­se und Art, dass al­lein ihre Sin­ne einen Ge­fähr­ten fin­den konn­ten; dass in kei­nem Lan­de Men­schen er­wüch­sen, die ganz ih­res­glei­chen wa­ren; dass sie in der See­le al­lein war … Sie sah ins Was­ser und sehn­te sich: »Wer ei­ner Hei­mat ent­ge­gen­füh­re!«

Sie hat­te eine ge­habt, eine Wahl­hei­mat, die Schritt für Schritt zu er­obern ge­we­sen war: ihre Kunst. Und auch aus der war sie ver­sto­ßen; denn die Bran­zil­la saß in der Ner­ven­heil­an­stalt.

Die Bran­zil­la war eine der al­ler­letz­ten Leh­re­rin­nen des Bel­kan­to.1 Ein be­rühm­ter Gei­ger hat­te zu­fäl­lig Lo­las Alt­stim­me ent­deckt, den Um­fang und die Stär­ke der Stim­me be­staunt, hat­te Lola eine un­er­mess­li­che Zu­kunft ver­hei­ßen und nicht ge­ruht, bis sie zur Bran­zil­la reis­te. Wie Lola ins Zim­mer trat, mach­te die Alte ge­ra­de ih­rem Mann eine Sze­ne, dem an­ge­be­te­ten Te­nor von einst, der nun fett, leer und ängst­lich um­her­schlich. Sie warf ihm sei­ne al­ten Ge­lieb­ten vor, das Un­recht, das er ihr bei dem und dem vor drei­ßig Jah­ren ge­sun­ge­nen Duo ge­tan habe, und dass er ihr zur Last lie­ge. Sooft Lola das Paar bei­sam­men traf, war’s das glei­che: der Alte flüch­te­te, die Au­gen gen Him­mel ge­rollt – und als Lola ein­mal nach Been­di­gung der Stun­de das Vor­zim­mer öff­ne­te, da hing er an der De­cke … Und nun ihre Bos­heit sich auf den Mann nicht mehr aus­lee­ren konn­te, be­spie die Alte da­mit alle Welt, ver­trieb die letz­ten Schü­le­rin­nen, brach­te Lola bis zu Trä­nen­kri­sen. Aber moch­te Mai sich em­pö­ren, Lola blieb ih­rer Ty­ran­nin treu, folg­te ihr blind­lings in alle die Haupt­städ­te, wo die Bran­zil­la ehe­mals ge­fei­ert wor­den war und wo sie nun das un­be­kann­te Da­hin­le­ben nicht er­trug, schlich­te­te die Strei­tig­kei­ten, die die Alte in den Ho­tels, den Ge­schäf­ten und über­all an­zet­tel­te, sorg­te für sie, ließ sie ihre kopf­lo­sen Un­ge­rech­tig­kei­ten her­un­ter­kei­fen und schloss den Auf­tritt mit ei­nem fes­ten und doch ge­dul­di­gen »Adieu, Ma­da­me« – wor­auf sie zur ge­nau­en Stun­de wie­der­kehr­te. Statt ei­nem Ge­setz, ei­nem Be­fehl, die ihr Le­ben nicht kann­te, un­ter­warf sie sich den Lau­nen ei­ner Hexe; und ihre Zick­zack­fahr­ten durch Eu­ro­pa wa­ren nicht plan­los, da sie hin­ter der her­führ­ten, in der, wie in ei­ner Rui­ne, der Geist ei­ner großen, fast schon ent­schwun­de­nen Kunst haus­te.

Denn das arme, täg­lich ver­wirr­te­re Ge­hirn der Bran­zil­la schi­en wun­der­bar ge­ne­sen, wenn sie den Stoff un­ter den Hän­den hat­te, aus dem sie schuf. Der Stoff war die Stim­me der Schü­le­rin. Lola war sich be­wusst, sie selbst sei nichts, sei nicht mehr als ein dump­fes Werk­zeug, und was aus ihr wer­den sol­le, sei im Geist der Leh­re­rin schon auf­ge­baut, wie ein Tem­pel aus Luft, un­fass­bar für je­den, ver­traut nur ihr, die ihn durch eine Ge­bär­de, ein Wort, durch einen der kind­lich mys­ti­schen Aus­drücke, die die Se­her fin­den, für eine Se­kun­de vor die Schü­le­rin hin­zau­bern konn­te, so­dass Lola sah: dort hin­an! Wer ver­moch­te das noch: durch ein Wort, ein ei­ge­nes, dem nichts Wirk­li­ches ent­sprach, das rich­ti­ge Spiel ei­nes Kehl­kop­fes be­wir­ken! Nie­mand wuss­te mehr von die­ser Kunst. Bei den Heu­ti­gen wa­ren Leh­re­rin­nen un­be­liebt, die zwei Jah­re brauch­ten. Und die Aus­bil­dung währ­te ehe­mals acht. Lola hät­te es, ein­mal in der Schu­le der Bran­zil­la, nicht mehr aus­ge­hal­ten, sich mit ei­nem Un­ge­fähr zu be­gnü­gen. Sie war fremd über­all, und nur mit ei­ner al­ten halb Ir­ren hielt sie Ge­mein­schaft; aber ei­nes Ta­ges woll­te sie im Be­sitz ei­ner un­er­hör­ten Kunst vor die Welt hin­tre­ten!

Und in je­des Gast­haus brach­te sie eine ei­ge­ne Luft mit, mach­te je­des flüch­ti­ge Quar­tier hei­misch, in das sie ihre Ge­sän­ge, die seit Jah­ren ge­üb­ten, schick­te. Aus der Un­ord­nung der has­tig um­her­ge­wor­fe­nen Ge­gen­stän­de, der zer­streu­ten Stun­den, der re­gel­lo­sen Ver­gnü­gun­gen und der zu­fäl­li­gen Men­schen ret­te­te sie sich in den Win­kel, wo das Kla­vier stand, wie auf ihr ei­ge­nes Stück Erde. Von hier wür­de sie al­les Land er­obern! Wür­de un­ab­hän­gig, wür­de Fürs­tin sein, der die Her­zen schla­gen. Wie hoch­ge­mut und stark sie, in­des die an­de­ren, alle zum Un­ter­gang be­stimmt, lee­re Wor­te re­de­ten, Rän­ke, Lie­be­lei­en ver­geu­de­ten, mit sich selbst um­gin­gen wie mit Wert­lo­sig­kei­ten. Wie hoch­ge­mut, stark und voll Ver­ach­tung sie an sich ar­bei­te­te! Ihre Hei­mat er­wei­ter­te! … Aber man lock­te sie dar­aus fort; die Über­flüs­si­gen um­schwärm­ten sie. Um­sonst übte sie ta­ge­lang mit ih­rem Takt­zäh­ler: der Schwarm der Fest­li­chen über­täub­te das Ti­cken der klei­nen stren­gen Ma­schi­ne. Eine Wal­lung von Leicht­sinn, und Lola war mit­ten dar­in, ging un­ter in der Jagd der nach Freu­de Fie­bern­den. Dann trat der Mann auf: ei­ner de­rer, die sie im Blut hat­te, die sie nicht ver­mei­den konn­te – und die Kunst lag un­be­greif­lich da­hin­ter … Ei­nes Ta­ges stand sie dann wie­der am Kla­vier ne­ben der Al­ten, de­ren Stim­me hart und böse war; und der Tag hat­te blei­ches, schmer­zen­des Licht, wie ei­ner nach durch­tob­ter Nacht, der reu­e­be­la­den ist und den man lie­ber ver­schlie­fe. Und oft, wenn so ihre Tage in ei­ner lu­xu­ri­ösen Land­strei­che­rei zer­flos­sen, dach­te sie mit Neid al­ler An­ge­bun­de­nen, Be­hü­te­ten, in einen en­gen Kreis von Pf­licht und Ge­mein­schaft Ge­schlos­se­nen. An ih­rer Stim­me, die so kost­bar war, trug Lola, wie je­mand an ei­nem Klum­pen Gold in ei­ner Wüs­te. An­de­re sa­ßen in heim­li­cher Werk­statt und be­ar­bei­te­ten ihn …

Und dann war die Bran­zil­la ver­schwun­den. Es war ge­sche­hen, wie Lola das letz­te Mal sie wo­chen­lang al­lein ge­las­sen hat­te. Lola hat­te es mit Zorn er­fah­ren. War denn der Rest Kraft, den die Alte ihr noch zu ge­ben hat­te, schon ver­braucht? Die Bran­zil­la moch­te ver­rückt sein, wie sie woll­te: sie blieb die ein­zi­ge, die Lo­las Stim­me be­herrsch­te, die ihre Stim­me sah. Dazu taug­te sie noch, dazu sam­mel­te sich noch ihre Ver­nunft. Lola sag­te dies den Leu­ten, die sie ihr weg­ge­nom­men hat­ten. »Lasst sie doch ver­rückt sein, es ist mei­ne Sa­che! Ich bin sie ge­wohnt, wie sie ist, und wer­de sie be­hü­ten. Gebt sie mir zu­rück!« Um­sonst: die Leh­re­rin blieb ver­lo­ren – und Lola wuss­te so­gleich, nun sei’s zu Ende. Die Metho­de der Bran­zil­la ließ einen un­selbst­stän­dig bis zu­letzt. Lola war ohn­mäch­tig ohne ihre Füh­re­rin. Der Weg zur Kunst, in die­se neue Hei­mat, war ver­lo­ren.

So, aus Rat­lo­sig­keit, Halt­lo­sig­keit ge­riet sie nach Bar­ce­lo­na, wie­der in einen Schwarm, wie­der an einen Mann, und fuhr nun ent­täuscht und zum ers­ten Mal ganz hilf­los plan­lo­se Fahr­ten.

»Wer ei­ner Hei­mat ent­ge­gen­füh­re!«

*

Vom Den­ken, vom Be­grei­fen und vom Seh­nen war sie heiß und er­regt. Auf­seuf­zend blick­te sie um sich, ohne et­was zu er­ken­nen. Der Schiffs­arzt strich in glei­chen Pau­sen an ihr vor­bei. End­lich, wie sie sich um­wand­te, blieb er ste­hen, und sie muss­te in sei­ne schwer­mü­ti­gen Au­gen se­hen. Ob auch sie die Ge­sell­schaft flie­he, frag­te er. Er war häss­lich, und wie­der nicht häss­lich ge­nug, um zu rei­zen. Das war, schloss Lola, sein gan­zes Un­glück und ver­schaff­te sei­nen Au­gen den An­schein von See­le. Sie ver­lang­te das Ho­spi­tal zu se­hen. Es sei zu trau­rig dort, er­wi­der­te er, für eine jun­ge Dame, die selbst nicht hei­te­ren Ge­mü­tes schei­ne. Ob er sie un­ter­hal­ten dür­fe. Er be­gann von sich selbst zu er­zäh­len, ein­fa­che und wah­re Din­ge, de­nen sie mit Ach­tung zu­hö­ren konn­te. Noch mehr­mals im Lauf des Abends nä­her­te er sich, tat ihr wohl durch gü­ti­ge und ge­las­se­ne Rede; und so­oft Lola ihn bat, ihr sei­ne Kran­ken zu zei­gen, wei­ger­te er sich.

Aber das Wet­ter ward hel­ler; nun stürm­te es. Mai lach­te mit den Fröh­li­chen; dann schlich sie zu Lola und flüs­ter­te:

»Glaubst du, dass es ge­fähr­lich ist?«

Und Lola ging mit ihr, da­mit Mai sähe, man habe das Recht, lus­tig zu sein.

Die Nacht ward aus­ge­las­sen. Die Nähe Ita­li­ens, die Be­frie­di­gung, wie­der in den hei­mi­schen Ge­wäs­sern zu fah­ren, die leich­te Furcht bei dem be­droh­li­chen Schwan­ken und in­mit­ten der ge­mein­sa­men Ge­fahr die Aus­sicht, schon mor­gen aus­ein­an­der­zu­ge­hen, sich nie wie­der­zu­se­hen, das be­wirk­te in al­len Wohl­wol­len und Leicht­sinn. In der Ka­jü­te fie­len die Stüh­le um; man tau­mel­te ein­an­der in die Arme, um sich im Krei­se zu dre­hen zu dem Ge­kratz der wa­ckeln­den Mu­si­kan­ten. Lola er­hob ih­ren Kelch und trank ei­nem zu, ei­nem mit ei­ner großen Ha­bichts­na­se und lus­tig blin­zeln­den Au­gen – ei­nem all de­rer, die Mai sym­pa­thisch fand und ge­gen die jetzt auch Lola nichts mehr ein­wand­te: da sah sie einen Schat­ten auf der Trep­pe. Sie ließ den Arm sin­ken. Das freud­lo­se Ge­sicht des Dok­tors kam auf sie zu. Mit ei­nem Vor­wurf in der Stim­me und ei­nem um Ent­schul­di­gung bit­ten­den Lä­cheln frag­te er:

»Wol­len Sie jetzt das Ho­spi­tal se­hen?«

Lola fuhr zu­sam­men, wie er­tappt, wie auf ei­nem Ver­rat be­trof­fen.

»Er er­in­nert mich dar­an«, be­merk­te sie, »dass wir zu­sam­men trau­rig wa­ren.« Sie senk­te den Kopf und folg­te ihm. Dann, em­pört: »Wie darf er ver­lan­gen, dass ich es blei­be! Da­mit er mich trös­ten, mir wohl­tun kann. Oh! Al­les auf die­ser Welt ist Ei­gen­nutz und Grau­sam­keit.«

Drau­ßen peitsch­te sie der Wind; das end­lo­se Dun­kel heul­te um sie her; es griff nach ihr, mit den ge­spens­tisch her­auf­schie­ßen­den Ar­men sei­ner Gischt­wel­len. Ihr Füh­rer nahm sie bei der Hand und ließ sie über Staf­feln hin­ab­stei­gen, tief in das Schiff hin­ein. »Da sind wir«; und in der Tür, die er auf­s­tieß, misch­te sich Kar­bol­dunst mit dem Schiffs­ge­ruch. »Kom­men Sie nicht?« Aber Lola späh­te von der Schwel­le mit Furcht durch die Ka­bi­ne, die ei­nem Schacht glich, zu den Men­schen hin, die in ih­ren Bet­ten, eng wie Sär­ge, um­her­ge­schüt­telt stöhn­ten, und zu de­nen, die, in Lum­pen am Bo­den hockend, er­lo­sche­ne Bli­cke zu ihr auf­ho­ben. Je­ner eine Blick aber glänz­te so, dass von ihm der Raum voll ei­nes fla­ckern­den Lich­tes schi­en. Die­se bei­den Au­gen brann­ten auf un­be­greif­li­che Wei­se in ei­nem Ge­sicht, so alt und müde, dass viel­leicht nur das rote Tuch, wo­mit es um­wi­ckelt war, sei­nen aus­ein­an­der­stre­ben­den Staub zu­sam­men­hielt.

»Wer ist das? Mein Gott!«

Der Arzt hör­te sie nicht; er neig­te sich über den Al­ten, lausch­te in sein Ge­wim­mer hin­ein, dann be­schrieb er, lang­sam auf­ge­rich­tet, eine fei­er­li­che Ge­bär­de.

»Sie wer­den Ihre Hei­mat wie­der­se­hen. Ich wer­de ma­chen, dass Sie es er­le­ben.«

Rasch wand­te er sich ab.

»Ge­hen wir.«

Drau­ßen:

»Die­ser Alte ist jung nach Ame­ri­ka ge­gan­gen. Die Ar­beit sei­nes Le­bens hat ihm so viel ein­ge­tra­gen, dass er vor sei­nem Tode noch­mals die Über­fahrt be­zah­len konn­te. Er will auf sei­ner Hei­ma­t­er­de ster­ben. Das ist sein Ziel. Da­für meint er nun ge­lebt zu ha­ben.«

»Wird er’s er­rei­chen, wird er?«

»Nein«, ent­schied der Dok­tor, mit lei­se­rer Stim­me und Schul­tern, die sich beug­ten. »Wir wer­den mor­gen in Ge­nua lan­den, im ma­je­stä­ti­schen Ge­nua; aber er wird es nicht se­hen. Ich kann es nicht ma­chen. In die­sem Au­gen­blick lebt er nur noch durch den einen Ge­dan­ken in sei­nem Kopf, in sei­ner Hei­mat zu ster­ben.«

Vor der Trep­pe zu den Ge­sell­schafts­räu­men nahm er plötz­lich Ab­schied und tauch­te ins Dun­kel. Lola sah mit Ver­wun­de­rung, dass dort in­nen noch der glei­che kopf­lo­se Ju­bel tobe, und ging in ihre Ka­bi­ne. Sie lag im Dun­keln – und das Wim­mern da­hin­ten, sie wuss­te nicht, war es das der Gei­gen oder das je­nes Ster­ben­den. Sei­ne Au­gen ver­lie­ßen sie nicht, ihre Stirn war er­füllt von die­sem über­mensch­li­chen Feu­er, das mit Über­win­dung ei­nes ab­ster­ben­den Lei­bes ganz frei da­hin­brann­te, das nur ein Ge­dan­ke, ein Wil­le, eine Sehn­sucht war: die Sehn­sucht nach der Hei­mat.

Und sie sah ihn, wie er jung aufs Schiff stieg. Die Ja­cke über der Schul­ter, den Hut im Na­cken; über­mü­tig trotz der Rüh­rung küss­te er ein letz­tes Mal El­tern, Ge­schwis­ter und das Mäd­chen, das ihm treu blei­ben woll­te. Hat­te Lola ihn nicht drü­ben aus­stei­gen ge­se­hen, oder einen, der ihm glich? Ita­lie­ner in ro­ten Hem­den, die Ja­cke über der Schul­ter, wa­ren so vie­le dort um­her­ge­gan­gen. Sie hör­te ihn sei­ne Früch­te aus­schrei­en, sah ihn an ei­nem Kanu zim­mern und stand am Wege, wie er sein Maul­tier mit Wa­ren vor­bei­trieb. Denn er han­del­te mit al­lem, hielt kei­ne Ar­beit für zu schlecht, leb­te nüch­tern und schrieb Brie­fe, worin ein we­nig Geld lag: »Mut! Bald kann ich euch nach­kom­men las­sen. Car­lot­ta, ich seh uns schon in der Kir­che.« Dar­über ster­ben die El­tern; aber er hat noch die Ge­schwis­ter, und Car­lot­ta war­tet auf ihn. Er spricht nicht mehr vom Nach­kom­men; es geht nicht al­les, wie er dach­te; nur zu­rück­le­gen möch­te er eine Klei­nig­keit und dann heim­kom­men … Wie? Wäre es mög­lich? Car­lot­ta nimmt nun doch den an­de­ren? Sie ist im­stan­de, ihn zu ver­ra­ten? Wozu kann dann al­les noch die­nen? … Ach, ein Kind hat sein Bru­der? Wie hübsch! Er wird ihm et­was mit­brin­gen, wird es einst aus­stat­ten. Die Ge­schäf­te ge­hen bes­ser, sie sol­len sich wun­dern … Und von Jahr zu Jahr: Der Bor­to­lo schon tot? Und Don Fe­li­ce? Und auch der, und auch der? Wa­rum schreibst nun du selbst nicht mehr? … Schwei­gen. Und der alte Ein­sa­me ver­gisst die To­des­fäl­le, von de­nen ihm einst be­rich­tet ward; wenn er von der Rück­kehr träumt, ste­hen alle un­ver­wan­delt am Ufer, und Car­lot­ta trägt noch die rote Schür­ze, die er ihr gab. Sein Geist geht zwi­schen Ge­bäu­den um, die ab­ge­tra­gen sind, und bei Men­schen, die un­ter Kreu­zen lie­gen. Zu­letzt tritt er den­noch die Rei­se an, für die er fünf­zig Jah­re ar­bei­te­te und leb­te. Nun fährt er da­hin – wer­den die Atem­zü­ge aus­rei­chen? – fährt, se­he­risch vor Angst und Drang, dem un­mög­li­chen Ziel sei­nes Le­bens zu, dem, was es für ihn nicht gibt, dem Phan­tom ei­ner Hei­mat!

Lola schluchz­te noch im­mer. Sie be­wein­te in frem­den Schick­sa­len das Sinn­bild des ei­ge­nen, und eine be­sänf­ti­gen­de Brü­der­lich­keit floss ihr aus je­nen zu. Sie schäm­te sich ih­rer Men­schen­feind­schaft, ver­ach­te­te die Gabe, die sie bis dort hin­abbli­cken lehr­te, wo nie­mand mehr dem Er­kannt­wer­den ge­wach­sen ist; ent­setz­te sich: »Hab ich denn nicht im­mer lie­ben, nur lie­ben wol­len? Einst war ich doch ent­schlos­sen, mich eher le­ben­dig be­gra­ben zu las­sen, als dass Er­nes­te oder Mai stür­be! Wie ist es mög­lich, dass Men­schen dies je aus dem Sinn ver­lie­ren: ein­an­der hel­fen, ein­an­der lie­ben!«

1 vir­tuo­se Ge­sangs­kunst <<<

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