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I

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Mit glän­zend glat­ten Ban­de­aus und ei­nem roh­sei­de­nen Schlaf­rock, cre­me und pfau­en­blau, kam Frau Ga­bri­el ins Zim­mer und frag­te:

»Sind die Sa­chen da?«

Lola las, hing da­bei aus dem Fens­ter und hör­te nicht. Er­mat­tet seuf­zend lehn­te Frau Ga­bri­el sich in einen Ses­sel.

Lo­las schlan­ker, kräf­ti­ger Na­cken da­hin­ten lag pflau­mig blond im Licht. Um ihr Haar her war ein gol­di­ges Ge­f­lim­mer. Die un­ge­heu­re blaue und durch­golde­te Wei­te trug Lo­las Schat­ten­riss in sich, be­reit, ihn da­hin­zu­raf­fen, auf­zuz­eh­ren. Drei Pal­men­blät­ter nick­ten mit ih­ren Spit­zen über den Fens­ter­rah­men hin­weg. Die Ho­tel­glo­cke ging. Nun schnaub­te ein Damp­fer. Von Ge­sprä­chen, Mu­sik und Ge­läch­ter flat­ter­ten Bruch­stücke durch Wind und Son­ne her­bei.

Frau Ga­bri­el saß und po­lier­te mit dem Ta­schen­tuch ihre Nä­gel. Lola sah sich plötz­lich um und fuhr zu­sam­men.

»Sind die Sa­chen da?« frag­te Mai ge­dul­dig.

»Da ste­hen sie doch!«

Nicht ein­mal den Kopf konn­te Mai wen­den; lie­ber saß sie eine hal­be Stun­de und war­te­te. Wenn je­mand aber auch gar kei­ne Ner­ven hat­te! Lola stell­te die ge­öff­ne­ten Schach­teln dicht ne­ben Mai hin.

»Gra­de habe ich sie noch be­zah­len kön­nen. Aber es war fast das Letz­te.«

»Schrei­be doch an Nene.«

»Das sagst du im­mer. Oh! Wäre ich erst aus­ge­bil­det und selbst­stän­dig! … Weißt du, wie viel wir schon vor­aus ha­ben? Die Zin­sen ei­nes hal­b­en Jah­res.«

»Nene ver­dient aber auch; er wird mit uns tei­len.«

»Er hat schon mit uns ge­teilt. Mir ist’s son­der­bar ge­nug, dass dort drü­ben ein jun­ger Mann für mich ar­bei­tet, den ich kaum ken­ne.«

»Ver­sün­di­ge dich nicht, er ist dein Bru­der.«

»Erin­nerst du dich, wie ich an­fangs, nach­dem du her­über­ge­kom­men warst, nicht wuss­te, wer Pao­lo war? Als Kind hat­te ich nie ge­hört, dass er Pao­lo hieß und dass Nene nur Baby be­deu­tet.«

»Der gute Nene.«

»Wir las­sen ihn also für uns ver­die­nen; nur dür­fen wir ihn nicht zu­grun­de rich­ten. Hörst du?«

»Ihr wer­det das schon zu­sam­men aus­ma­chen, ihr seid klü­ger als ich. Ach, un­se­re jet­zi­gen Ver­le­gen­hei­ten hat Pao­lo mir vor­aus­ge­sagt. Er woll­te mich durch­aus nicht rei­sen las­sen.«

»Zum Glück scheint er ener­gisch; sonst könn­te es schlimm en­den. Ich selbst ver­ges­se mich manch­mal. Zum Bei­spiel war’s sehr un­nö­tig, dass wir hier­her ka­men. Wir sind ge­nug hin­ter der Bran­zil­la her ge­reist. Da sie nun in der Ner­ven­heil­an­stalt sitzt und für mei­ne Stimm­bil­dung nichts mehr tun kann, hät­ten wir in Pa­ris blei­ben sol­len.«

»Pa­ris war schön!«

»Un­ser Le­ben in Pa­ris kos­te­te schließ­lich we­ni­ger: wir sa­ßen doch man­chen Abend zu Hau­se. Hier lässt man uns nicht.«

»Du hast recht, es ist schreck­lich; nun, Gott wird hel­fen. Kann ich jetzt die Sa­chen se­hen?«

»Aber – sie lie­gen dir doch vor der Nase!«

»Muss ich sie selbst her­aus­neh­men?«

Frau Ga­bri­el lä­chel­te zag­haft; die Lip­pe mit dem Le­ber­fleck im Win­kel kräu­sel­te sich und zer­stör­te die rei­ne Li­nie der gra­den Nase; die Au­gen ba­ten; in das ge­las­se­ne Ma­don­nen­ge­sicht ka­men Furcht und Un­be­hol­fen­heit ei­nes Schul­mäd­chens. Um ih­ren gu­ten Wil­len zu be­wei­sen, tauch­te sie eine ih­rer klei­nen, wei­chen, un­ge­üb­ten Hän­de in die Schach­tel. Gerührt hob Lola die Ko­stü­me her­aus, sah ein we­nig von oben her­ab zu, wie Mai sie be­wun­der­te, fass­te selbst Teil­nah­me – und bald wa­ren sie im Ve­rein ganz hin­ge­ge­ben an die­se Stof­fe, an die neu­en Er­fin­dun­gen die­ser Töne, die­ser Schnit­te, die ih­nen ver­spra­chen, ihre Schön­heit um­zut­au­schen und ih­nen eine noch nicht ge­kos­te­te Form von Le­ben und von Glück zu ver­mit­teln. Zum Schluss ver­riet Frau Ga­bri­el, wel­che Züge ihr Glück heu­te trug; denn sie frag­te:

»Meinst du, dass der Her­zog von Fin­ga­do mich liebt?«

Ihre Stim­me und ihr Blick wa­ren voll kind­li­cher Er­war­tung. Lola sag­te trös­tend:

»Ge­wiss, Mai.«

»Tat­sa­che ist, dass er neu­lich auf der Gar­den-Par­ty sich fast nur um mich küm­mer­te. Die Bri­cheau ver­si­cher­te mir, sei­ne Ver­lo­bung sei ins Wan­ken ge­kom­men. Das wäre mir wahr­haft un­an­ge­nehm.«

Aber es klang stolz. Dann, be­hut­sam:

»Sage mir eins, mein lie­bes Kind: gibt dir der Her­zog kein Ge­fühl ein? … Du brauchst es nur zu sa­gen.«

»Nicht das ge­rings­te … ob­wohl ich ihn sym­pa­thisch fin­de«, setz­te Lola höf­lich hin­zu. Und Mai, zit­ternd:

»Ich wür­de sei­ne Lie­be nicht wol­len, wenn du sie woll­test. Gott ist mein Zeu­ge, dass dein Glück mir hö­her steht als meins.«

»Gute Mai, ma­che dir kei­ne Sor­gen!«

Lola woll­te sich ent­fer­nen; Mai hielt sie, trä­nen­den Au­ges, am Rock fest.

»Ich wür­de mich dir op­fern, weißt du … Also du liebst ihn nicht? Schwö­re es mir!«

»Ich schwö­re es«; und Lola lä­chel­te nach­sich­tig. Man muss­te ein Kind sein wie Mai, um sich in den Ti­tel die­ses küm­mer­li­chen Jüng­lings zu ver­lie­ben.

»Aber auf dem Heim­we­ge«, be­merk­te Mai, »ist er mit dir ge­gan­gen. Ihr habt euch so­gar ab­ge­son­dert.«

»Er woll­te mir aus der Fer­ne sei­ne Yacht zei­gen – auf der er nicht fah­ren kann, weil er see­krank wird.«

»Wo­von spracht ihr noch?«

»Von Karl dem Zwei­ten.«

»Wer ist das?«

»Ein Kö­nig von Spa­ni­en – es ist lan­ge her, es wür­de dich nicht in­ter­es­sie­ren. Mich in­ter­es­sier­t’s auch nur manch­mal. Aber mit Fin­ga­do weiß ich nichts an­de­res zu re­den.«

»Wirk­lich nicht?«

»Tat­säch­lich.«

Mai nick­te be­ru­higt. Mit ei­nem un­auf­halt­sa­men Lä­cheln des Tri­um­phes:

»Mit mir re­det er an­de­res!«

»Wür­dest du ihn hei­ra­ten, Mai?« frag­te Lola, knie­te ne­ben ih­rer Mut­ter hin und strich ihr schmei­chelnd über Hals und Arm.

»Ich sehe mei­ne Mai schon als Her­zo­gin, in ih­rem Schloss in der Sier­ra; sie geht auf die Jagd nach Wöl­fen, Ad­lern und ähn­li­chen Wap­pen­tie­ren.«

Mai hat­te ernst­haft nach­ge­dacht.

»Al­les wohl über­legt«, sag­te sie, »hat auch Herr Aguir­re sei­ne Vor­zü­ge. Er ist Ab­ge­ord­ne­ter, sehr ein­fluss­reich, und Spa­ni­en wird viel­leicht Re­pu­blik wer­den.«

»Wie weit du denkst, Mai! Aguir­re, dies un­ge­sund ro­si­ge Baby, denkt nur an das Nächs­te: er will un­ser Geld, das Geld, das er uns zu­traut. Zu viel Ehre!«

»Du siehst zu trü­be, Lola. Und fer­ner ist er in ge­setz­tem Al­ter, und ich bin, ach, nicht mehr ganz jung.«

»Im Ge­gen­teil«; da­bei herz­te Lola ihre Mut­ter eif­ri­ger; »du bist so jung, dass ich mich ne­ben dir mei­nes Al­ters schä­me. Schon als du mich aus der Pen­si­on ab­hol­test, war ich, glaub’ ich, wei­ter im Le­ben als du. Die zwei Jah­re aber, die wir in der Welt um­her­ge­reist sind, ha­ben mei­nem Al­ter zehn hin­zu­ge­fügt. Ich fan­ge so­gar an, häss­lich zu wer­den.«

»Das ist nicht wahr! Du bist die Fri­sche selbst. Dein Al­ter bil­dest du dir ein, weil du zu viel denkst. Das könn­te dei­ne Stirn fal­ten; gib acht! Du bist zer­streut bei der Toi­let­te, und ge­ra­de sie ver­langt un­se­re gan­ze Geis­tes­kraft. Dann hät­test du dir nicht die Stirn­haa­re ab­ge­brannt und wä­rest jetzt nicht so schwer zu fri­sie­ren.«

Lola griff seuf­zend nach den krau­sen Här­chen.

»Ich habe schließ­lich doch mei­nen Be­ruf ver­fehlt. Oft kom­me ich mir vor wie ein ver­klei­de­ter Mann.«

»Das wird ver­ge­hen, wenn du hei­ra­test. Fin­dest du es noch nicht an der Zeit? Wel­che schö­nen Ge­le­gen­hei­ten hast du vor­über­ge­hen las­sen! Ich weiß nicht: du bist doch so klug; aber eine Schwar­ze hat mehr Ge­schick, sich einen Mann ein­zu­fan­gen. Halt, ge­fällt dir etwa Herr Aguir­re? Er scheint mich zu lie­ben. Meinst du nicht?«

»Ge­wiss, Mai.«

»Tat­sa­che ist, dass er wäh­rend der Re­gat­ta nicht von mei­ner Sei­te wich. Wenn du ihm aber ir­gend­ein Ge­fühl ent­ge­gen­bringst …«

Mais Stim­me beb­te schon wie­der; Mai war schon wie­der zu ei­nem Op­fer be­reit und ängs­tig­te sich da­vor. Lola wehr­te ab; sie lach­te be­fan­gen, tat ein paar Schrit­te; dann, ernst­haft, mit ver­hal­te­nem Zorn:

»Du sprachst von mei­ner Ver­hei­ra­tung, und doch ver­lierst du sie zu oft aus dem Auge. Die Toch­ter ei­ner Mut­ter, die sich zu gut un­ter­hält, wird nicht leicht einen Mann fin­den.«

Mai sah tief er­schro­cken aus; Lola schloss ver­zei­hend:

»Ich weiß, du ver­dienst kei­nen erns­ten Ta­del. Erin­ne­re dich nur, bit­te, wie leicht man sich un­schul­dig kom­pro­mit­tiert, und ver­spä­te dich abends mit kei­nem der Her­ren mehr!«

»Du bist streng wie dein Va­ter«, sag­te Mai und er­schau­er­te. »Weißt du wohl, dass ich ihn wie­der­ge­se­hen habe? Ja, ge­ra­de in der Nacht, von der du sprichst, er­schi­en er mir.«

De­mü­tig bit­tend:

»Willst du nicht sein Bild in dein Zim­mer neh­men?«

»Das geht nicht, Mai: es wür­de ihn noch mehr er­zür­nen.«

Lola ging ans Fens­ter und sah hin­aus. Frau Ga­bri­el mur­mel­te vor sich hin und seufz­te. Eine jun­ge Män­ner­stim­me kam von un­ten:

»Fräu­lein Lola, ich habe al­les, was Sie wünsch­ten.«

»Gut«, ant­wor­te­te Lola.

»Sie be­ste­hen im Ernst dar­auf?«

»Ohne Zwei­fel. Wann kom­men Sie?«

»Sehr bald. In ei­ner Stun­de wer­den die bei­den Ka­va­lie­re Ih­rer Mama da­sein. Emp­feh­len Sie mich ihr!«

»Auf Wie­der­se­hen!«

»In ei­ner Stun­de – und ich bin nicht an­ge­zo­gen!« rief Frau Ga­bri­el und sprang auf. »Lola, be­ei­le dich! Welch Glück, dass wir fri­siert sind.«

Bei der Tür kehr­te sie um.

»Was denkst du über un­sern Lands­mann?«

»Da Sil­va Do­len­ha?« – und Lola fühl­te sich un­frei.

»Ja. Hältst du es für un­mög­lich, dass er eine von uns liebt? Er kommt täg­lich.«

Da Lola schwieg:

»An­zei­chen gäbe es wohl, dass ich es bin, die er liebt.«

Lola kam plötz­lich in Be­we­gung.

»Nein, Mai, dies­mal irrst du. Sei ver­si­chert, der denkt nicht an dich!«

»Ach«; Mai war ge­kränkt; »wie kannst du das be­ur­tei­len. Du bist in sol­chen Din­gen ein Kind.«

»Mag sein. In die­sem Fall aber weiß ich, wen Da Sil­va liebt. Wir sind Freun­de, und er hat es mir ge­sagt.«

»Wen denn? Mein Gott!«

Mai stam­mel­te, hef­tig ent­täuscht. Lola, über­le­gen:

»Das ver­rät man nicht un­ter Freun­den.«

»Freun­de: was ist denn das?«

»Du wirst es se­hen. Geh, Mai, zieh dich an! Du wirst es se­hen.«

Dann rief sie noch­mals:

»Mai! … Glaubst du wohl, dass ich lei­den­schaft­lich bin?«

»Du? Wa­rum, Kind?«

»Ich mei­ne, weil wir von sol­chen Din­gen spre­chen … Nein, ich weiß ge­wiss, ich bin es nicht.«

»Wie son­der­bar du bist!«

Lo­las be­weg­te Mie­ne blieb noch auf die Tür ge­rich­tet, die sich ge­schlos­sen hat­te. All­mäh­lich ward ihr Blick sin­nend, und sie setz­te sich auf einen Kof­fer. Mais Mäd­chen trat ein und hol­te die Sa­chen ih­rer Her­rin. Lo­las ei­ge­ne la­gen auf Bett und Stüh­len ver­streut, mit Bü­chern und No­ten­blät­tern da­zwi­schen. Ein Glas mit Ro­sen war um­ge­fal­len; Lola er­hob sich un­be­wusst und rich­te­te es auf. Dann sah sie sich nach ei­nem frei­en Sitz um, fand kei­nen und kehr­te auf den Kof­fer zu­rück.

»Mai hat’s gut«, sann Lola. »Täg­lich an­de­re Klei­der, und merkt nicht, dass es ei­gent­lich al­les eins ist. So hat sie auch alle Tage eine neue Lie­be; und wem im­mer sie gel­ten mag: dass es Lie­be, rich­ti­ge Lie­be ist, dar­an zwei­felt sie nie. Wenn ich wüss­te, ob ich Da Sil­va lie­be! Manch­mal ist’s nur zu klar. Kurz dar­auf kom­me ich nach Haus und den­ke an et­was an­de­res. Aber das Manch­mal ist schlimm ge­nug, es ist be­schä­mend. Ich wer­de dann me­lan­cho­lisch, wie in der Pen­si­ons­zeit, als die di­cke Jen­ny mir ge­wis­se Auf­schlüs­se ge­ge­ben hat­te … Ich glau­be, nur äu­ßer­lich hal­te ich mich fes­ter; in­ner­lich bin ich viel lo­cke­rer als Mai. Ich glau­be jetzt, sie ist die bei Wei­tem Un­schul­di­ge­re. An­fangs habe ich sie un­ge­recht be­ur­teilt; es war ver­zeih­lich. Aus der an­stän­di­gen Welt Er­nes­tes plötz­lich her­aus – an die­se süd­li­chen Al­ler­weltsplät­ze, in ein er­hit­zen­des Durchein­an­der flüch­ti­ger Be­gier­den. Je­den Tag, den ich mich nicht amü­sier­te, sah ich als ver­lo­ren an; nur der Ehr­geiz, durch mei­ne so plötz­lich ent­deck­te Stim­me groß zu wer­den, er­hob mich noch, und auch er schwin­det schon, und ich will mit dem Sin­gen heu­te fast nichts mehr er­rei­chen als mei­ne Un­ab­hän­gig­keit … Und nun die Frau ne­ben mir, die eben­solch tau­meln­des In­stinkt­we­sen war wie die an­de­ren, ohne die Wür­de ei­nes Geis­tes, das war mei­ne Be­schüt­ze­rin, mei­ne Freun­din, mei­ne gan­ze Fa­mi­lie, das war Mai, die schö­ne Mai, die ich in al­len mei­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen so poe­tisch in ih­rer Hän­ge­mat­te lie­gen sah! Der ein­zi­ge Mensch, an den ich ge­glaubt hat­te! Ich weiß noch, wie em­pört ich war. Da­von also hat­te sie ge­träumt in ih­rer Hän­ge­mat­te! Kaum ist Pai tot, stürzt sie sich, ih­rer Frei­heit froh, in die dümms­te Un­en­t­halt­sam­keit! Um Pais wil­len war ich em­pört und be­reit, sie zu has­sen. Wie arg­wöh­nisch solch ganz jun­ges, un­er­fah­re­nes Mäd­chen das Le­ben ei­ner Frau durch­spürt – das Le­ben der Mut­ter! Als ich da­mals in Trou­ville mei­ner Sa­che end­lich ganz si­cher zu sein glaub­te: wel­che Ka­ta­stro­phe! Mai hat einen Ge­lieb­ten! In dem Ge­dan­ken saß ich wie in ei­nem be­täu­ben­den Ge­tö­se, wie in ei­nem Welt­un­ter­gang. Das Furcht­ba­re, sag­te ich mir, ist, dass auch ich das in mir habe und so wer­den muss! Was wuss­te ich da­mals? Heu­te habe ich fast einen Ge­lieb­ten, könn­te ihn je­den Au­gen­blick ha­ben, und wun­de­re mich alle Mor­gen beim Er­wa­chen, dass es noch nicht ein­ge­tre­ten ist.

Seit­dem muss ich Mai wohl mil­der be­ur­tei­len. Sie ist ein Kind und wird über die ge­fähr­li­chen Stel­len im­mer nur spie­lend hin­hu­schen. Geht sie einen Schritt zu weit, er­scheint ihr als­bald der tote Pai; und ich be­stär­ke sie in ih­ren Ge­sich­ten. Wa­rum ei­gent­lich? Doch nicht mehr um Pais wil­len. Auch nicht, weil Mais Auf­füh­rung mich hin­dern könn­te, einen Mann zu fin­den. Das ist mir gleich. Aber ich weiß wohl, warum: ich selbst bin in Ge­fahr und brau­che Rein­heit um mich her … Bin ich in Ge­fahr? So­bald ich’s aus­den­ke, glau­be ich’s nicht mehr. Ich! Ich bin doch eine ganz an­de­re! Auf We­sen wie die arme Mai bli­cke ich doch, deucht mir, ein gu­tes Stück hin­ab!

Je­den­falls hab’ ich sie gern. Wir sind gra­de im rich­ti­gen Ver­hält­nis: dem von ei­nem Paar Schwes­tern, die ein­an­der ei­fer­süch­tig schmei­cheln. Ob wir uns schwer ent­beh­ren wür­den, ist nicht si­cher. Wie schwärm­te Mai die ers­te Zeit von Nene! Jetzt er­wähnt sie ihn ge­mäch­lich und fast nur, wenn von Geld die Rede ist. Jetzt bin ich dar­an, die Mut­ter­lie­be zu ge­nie­ßen. Es tut doch wohl, wenn spät abends, nach­dem man sich ge­kämmt hat und die De­cke über sich ge­zo­gen hat, eine Mut­ter her­ein­kommt und einen küsst. Sie herzt mich lan­ge; mir wird ganz kind­lich und weich zu Sinn; dann spricht sie mir mit klei­ner sü­ßer, ent­zück­ter Stim­me von ih­ren Er­fol­gen, fragt mich nach mei­nen, und wir sind wie zwei Klei­ne un­term Weih­nachts­baum.

Nein, für Pai neh­me ich nicht mehr Par­tei. Ich ste­he, wenn ich’s be­den­ke, so­gar ent­schlos­sen auf Mais Sei­te. Ers­tens wohl, weil ich füh­le, dass auch mit mir, wie ich ge­wor­den bin, Pai nicht sehr ein­ver­stan­den wäre. Haupt­säch­lich aber, weil er ein Mann war und Mai un­ter­drückt hat. Und schließ­lich, mein Gott, ha­ben die Le­ben­den recht. Wenn ei­ner stirbt, ver­säumt er das Wei­te­re und darf nicht mehr drein­re­den. Käme Pai wie­der, er fän­de gar kei­ne An­knüp­fung mehr mit uns, glau­be ich. Mai lie­ße sich nicht mehr so leicht in die Hän­ge­mat­te le­gen; und ich – ach, ich bin wohl auch nicht sein rech­tes Kind: wie hät­ten wir sonst, kaum dass er tot war, den gan­zen bür­ger­li­chen Bo­den un­ter den Fü­ßen ver­lie­ren kön­nen! Denn das ta­ten wir doch …«

Lola sah sich im Zim­mer um.

»So sieht’s über­all aus, wo wir kam­pie­ren. Und ich sit­ze auf ei­nem Kof­fer. Nie kom­men die Kof­fer aus den Zim­mern, und sind im­mer nur halb aus­ge­packt. Die Jah­res­zeit wird stau­big, der Lieb­ha­ber fade. Fort von hier! Wo­hin am Ende? Dort ste­hen die An­sich­ten von zu Hau­se, die Mai mit­ge­bracht hat. Zu Hau­se! Wenn wir Lust be­kämen, einen Aus­flug dort­hin zu ma­chen, wür­de ich vor dem Blick auf Rio den­ken, dass er tat­säch­lich un­ver­gleich­lich schö­ner ist als der auf Nea­pel; wür­de von ei­nem Ho­tel, wo al­les wäre wie in die­sem hier, auf Se­hens­wür­dig­kei­ten aus­ge­hen, die Hit­ze un­er­träg­lich fin­den und ge­las­se­nen Ab­schied neh­men. Et­was an­de­res wäre es viel­leicht mit der Gro­ßen In­sel; aber die Pflan­zung ist ver­kauft … Wo­hin also am Ende? Da­nach fra­ge ich, scheint mir, zum ers­ten Mal. Fan­ge ich etwa an zu er­mü­den. Mais Kin­der­ner­ven hab’ ich nicht gra­de. Aber das Ende be­kommt wohl nur In­ter­es­se für mich, weil ich wis­sen möch­te, wo das en­den soll, was ich jetzt er­le­be.

Se­hen wir doch nach. Geht mich der Mensch wirk­lich so viel an? Wäre er in Ve­ne­dig noch so un­ent­behr­lich, wie er’s hier in Bar­ce­lo­na ist? Die Gri­ma­ni hat uns für Juli ein­ge­la­den. Oder was mei­ne ich zu Pa­ris? Das ist noch im­mer das amüsan­tes­te … Ich glau­be, es gin­ge.«

Eine jun­ge Män­ner­stim­me ward hör­bar. Lola er­hob sich has­tig.

»Nein, es geht nicht.«

Leicht vor­ge­neigt, mit fie­bri­gem Spiel der Fin­ger an der lan­gen Hals­ket­te, blick­te sie auf die Tür. Es klopf­te.

»Ge­hen Sie in den Sa­lon, bit­te. Ich kom­me gleich.«

Sie mach­te ei­ni­ge zor­ni­ge Schrit­te.

»Wa­rum muss ich auch grü­beln! Je­des Mal, wenn ich ge­grü­belt habe, bin ich schwach und gebe ihm dann An­lass, sich ein­zu­bil­den, was doch nicht wahr ist … Oh, heu­te Abend soll er kei­nen Vor­teil da­von­tra­gen!«

*

Sie hat­te sich be­ru­higt und ging hin­über. Mit of­fe­nem Lä­cheln be­grüß­te sie den Be­su­cher.

»Gnä­di­ges Fräu­lein – da ist al­les«, und er zeig­te nach dem Pa­ket auf dem Kla­vier. »Der Bote ist gleich mit mir ge­kom­men.«

»Ist al­les dar­in … und wird es mir pas­sen?«

An­statt nach dem Pa­ket zu se­hen, be­trach­te­te sie, und ihr Lä­cheln ward wi­der ih­ren Wil­len noch glück­li­cher, sein schö­nes, groß ge­mei­ßel­tes, fast bart­lo­ses Ge­sicht, in dem die Brau­en sich be­rühr­ten. Auch er ge­brauch­te sei­ne Wor­te nur als einen Vor­wand, sie an­zu­se­hen.

»Ich bin über­zeugt … Es sind ge­nau die Maße, die Sie mir ge­nannt ha­ben.«

Sie be­weg­te lei­se, wie ver­wun­dert, ih­ren lä­cheln­den Kopf. End­lich, sich los­rei­ßend:

»Es ist gut.«

Rasch er­griff sie das Pa­ket. Er stürz­te sich dar­auf.

»Ich tra­ge es Ih­nen hin­über.«

»Doch nicht«; ihr Lä­cheln ward schlau. »Sie blei­ben hier … und …«

Sie leg­te, un­ter der Tür, den Fin­ger auf die Lip­pen.

*

In ih­rem Zim­mer zog sie die Män­ner­klei­der an, die Da Sil­va mit­ge­bracht hat­te. Sie ver­barg die Brust in den Fal­ten des wei­chen Pi­quéhem­des, das Haar un­ter der halb­lan­gen Jüng­lings­pe­rücke, setz­te den run­den Hut auf, häng­te das Stöck­chen über den Arm und trat vom Spie­gel zu­rück, um sich zu mus­tern. Da stand im gut­sit­zen­den Abend­an­zug et­was wie ein ele­gan­ter Stu­dent, mit duf­ti­gen Ge­sichts­far­ben und glän­zen­den brau­nen Au­gen, ein sanft ver­we­ge­nes Lä­cheln auf den ro­ten Lip­pen und die ju­gend­lich ra­schen Wen­dun­gen ei­ner schi­cken Mü­dig­keit zu­lie­be ein we­nig ver­hal­ten, ein We­sen von be­un­ru­hi­gen­dem Reiz.

»Aber wie bin ich schön!« sag­te Lola ein­mal übers an­de­re. »Ich bin kei­ne Frau mehr! Jetzt erst sehe ich, wozu mei­ne große Nase gut ist. Die hohe Stirn kommt mir jetzt auch zu­stat­ten. Ach, ich kann mir Pais Fal­te zwi­schen den Brau­en ma­chen. Ob Pai je­mals so aus­ge­se­hen hat? Nicht ganz so, glau­be ich. Der dort im Spie­gel er­in­nert mich an eine Frau; aber nicht sehr leb­haft. Man wird den­ken: ›Er muss eine hüb­sche Schwes­ter ha­ben.‹ Für ein ver­klei­de­tes Mäd­chen hält so leicht kei­ner ihn.«

Sie räus­per­te sich, führ­te zwei Fin­ger an den Hu­trand und sprach mit tiefer Stim­me:

»Sie ge­hen in den Klub? Ich habe seit ges­tern Nacht kei­nen Hel­ler mehr. Nach­dem ich al­les ver­spielt hat­te, bin ich noch in die Schuld der Ge­li­da ge­kom­men …«

Dies ge­fiel ihr. Sie lief hin­über, und in der Tür des Sa­lons be­gann sie so­fort das­sel­be:

»Sie ge­hen in den Klub? Ich habe seit ges­tern Nacht …«

Da Sil­va hör­te sie, ans Kla­vier ge­lehnt und die Stirn in Fal­ten, bis zu Ende an. Er ließ sie nä­her kom­men und sich wen­den.

»Es ist ziem­lich in Ord­nung.«

Er warf noch die von Ver­ach­tung schwe­ren Wor­te hin:

»Bis auf die Kra­wat­te na­tür­lich.«

»Also bin­den Sie sie mir!«

Er mach­te sich dar­an.

»Hal­ten Sie’s so für bes­ser ge­lun­gen?«

»Nein, von vorn kann ich’s nicht. Ich kann’s nur, wenn ich die Kra­wat­te gra­de so hal­te wie bei mir selbst. So also, wenn Sie ge­stat­ten.«

Er trat hin­ter sie und schob die Arme über ihre Schul­tern. Sei­ne Arme be­rühr­ten sie kaum, und doch war sie dar­in ein­ge­schlos­sen und spür­te einen angst­vol­len Kit­zel. Sie muss­te auf sei­ne wei­ßen, star­ken Hän­de hin­ab­se­hen, die gleich un­ter ih­rem Kinn sich be­weg­ten. Wie er den Kno­ten an­zog, streif­te sei­ne Wan­ge ihre Schlä­fe.

»Ra­scher!« ver­lang­te sie, zwi­schen den Zäh­nen.

Er ließ los, ging um sie her­um und sah ihr in die Au­gen. Die sei­nen hat­ten wie­der das Düs­te­re, Be­sin­nungs­lo­se, das sie kann­te und das ihr so ge­fähr­lich war. Sei­ne Zäh­ne wa­ren in die Un­ter­lip­pe ge­drückt. Da be­gann er un­ver­mu­tet weich:

»Ihr An­blick tut mir weh! Nicht zwan­zig Stun­den sin­d’s, dass wir in die­sem sel­ben Raum bei­ein­an­der wa­ren, al­lein wie jetzt, und der Mond schi­en her­ein. Wir hat­ten mu­si­ziert, Ihre mär­chen­haf­ten Alt­tö­ne wa­ren ver­hallt, ich hat­te mich in großer Be­we­gung vom Kla­vier er­ho­ben, und den Kopf in der Hand be­trach­te­te ich Sie, die Sie, ein Knie auf den Stuhl­rand ge­stützt, das Ge­sicht nach dem of­fe­nen Fens­ter ge­wen­det hiel­ten. Ich war im Schat­ten; Ihre Ge­stalt ent­lang floss Mond­licht; es rann Ih­nen über die Lip­pen, die sich, Ih­nen un­be­wusst, von­ein­an­der lös­ten; es füll­te Ihre Au­gen – und mit der be­glänz­ten Hand, die Sie mir über­lie­ßen, zog ich zu mir hin, in mein Dun­kel und an mein Herz, die gan­ze tie­fe nächt­li­che Sü­ßig­keit, die durch Sie at­me­te, o Lola!«

Der jun­ge Bra­si­lia­ner hat­te beim Spre­chen den Hals hin und her ge­rückt, wie ein vom ei­ge­nen Ge­sang be­rausch­ter Vo­gel. Nun stand er noch und hör­te die Te­no­ra­rie sei­ner Sinn­lich­keit aus­klin­gen. Lola mach­te sich von sei­nem Ge­sicht los. Sie sah an ih­rem Dress hin­ab – und er­leich­tert auf­la­chend, warf sie sich ins Sofa.

»Nicht übel, mein Lie­ber. Et­was kit­schig zwar, und auf ein mo­der­nes Mäd­chen wer­den Sie, fürch­te ich, da­mit nicht wir­ken … Se­hen Sie, die Kra­wat­te muss ich mir nun doch selbst bin­den!«

In der Tür zeig­ten sich der Her­zog von Fin­ga­do und Herr Aguir­re. Beim An­blick des Ein­dring­lings blie­ben sie mit zu­rück­hal­ten­den Mie­nen ste­hen. Lola ver­such­te ihre feind­se­lig ab­war­ten­de Hal­tung nach­zuah­men: da platz­te sie aus. Die bei­den starr­ten sie an; dann wand­te ihr der mas­si­ge Vier­zi­ger mit an­ge­wi­der­ter Mie­ne den Rücken. Der un­jun­ge Zwan­zi­ger über­wand sei­nen Schre­cken und mach­te, den spit­zen, gelb­lich ge­fie­der­ten Schä­del her­aus­for­dernd im Na­cken, zwei Schrit­te ge­gen den Feind. Lola lach­te hef­ti­ger, und Da Sil­va klär­te die Her­ren auf, die in Rat­lo­sig­keit um­schlu­gen und dann in Be­wun­de­rung. Aber hin­ter ih­nen rausch­te es, und Frau Ga­bri­el brach, kaum dass sie ein we­nig ge­stutzt hat­te, in Jam­mern aus.

»Wie siehst du aus! Wer hat mir mein Kind so ver­un­stal­tet? Sie, Herr Da Sil­va! Ih­nen habe ich auch sonst Vor­wür­fe zu ma­chen! Dazu hat man nun eine hüb­sche Toch­ter!«

Die Her­ren er­klär­ten sich im Ge­gen­teil ganz ein­ver­stan­den mit Lo­las Ver­wand­lung. Fin­ga­do hat­te einen Ge­dan­ken.

»Wenn der künf­ti­ge Gat­te des gnä­di­gen Fräu­leins sie so sähe …«

»Was dann?« forsch­te Da Sil­va dro­hend.

Hin­ter den lee­ren blau­en Au­gen des Her­zogs ge­sch­ah eine müde, ver­geb­li­che Ar­beit.

»Ich weiß wirk­lich nicht«, schloss er, mit ei­nem Lä­cheln des Ver­zich­tes.

In­des Frau Ga­bri­el ih­ren jun­gen Lands­mann mit den Vor­wür­fen be­kannt mach­te, die er ver­dien­te, wid­me­te der Ab­ge­ord­ne­te sich Lola. Er türm­te sei­ne fein be­klei­de­te Fett­mas­se vor sie hin und plau­der­te, wie er al­lein es konn­te, nur ohne sei­ne ge­wohn­te Uner­schüt­ter­lich­keit. Sei­ne ro­si­gen Wan­gen zuck­ten; die Wulst­fin­ger be­tas­te­ten un­ru­hig die Hüf­ten; die lau­ni­gen Au­gen ver­ga­ßen sich bis zu ei­nem ver­däch­ti­gen Ge­fun­kel, das Aguir­re fühl­te und durch Un­ter­wür­fig­keit gutz­u­ma­chen such­te. »Ganz wie ein un­ge­sun­des Baby!« dach­te Lola. Sie hör­te Mai sa­gen:

»Ich be­kla­ge mich über Ihren Man­gel an Of­fen­heit ge­gen mich …«

»Das ist wahr, Herr Da Sil­va: warum sa­gen Sie Mai nicht, wen Sie lie­ben?« rief sie hin­über, ge­kit­zelt durch ihre Wir­kung, durch das neue We­sen, das sie vor­stell­te, und die Er­war­tun­gen, die man ihm sicht­lich ent­ge­gen­brach­te.

»Sie ge­hen in den Klub?« be­gann sie ge­gen Aguir­re. »Ich habe seit ges­tern Nacht kei­nen Hel­ler mehr …«

Sie brach ab, dreh­te sich ein­mal um sich selbst und sag­te in ei­nem Atem­zug:

»Pum­pen Sie mir was! Wer so viel ge­stoh­len hat wie Sie!«

Der Po­li­ti­ker kroch noch tiefer. Lola lä­chel­te plötz­lich zag­haft.

»Ge­hen wir? Bit­te, ge­hen wir!« ver­lang­te sie has­tig. Und man ging.

»Zu Fuß, Mai! Mir zu Ge­fal­len! Wo­hin? Ganz gleich: eine Irr­fahrt.«

Sie at­me­te tief die mat­te Luft der Däm­me­rungs­stun­de. Zu Da Sil­va, der mit ihr hin­ter den an­de­ren zu­rück­b­lieb, sag­te sie:

»Es gibt Ge­le­gen­hei­ten, bei de­nen ich mich nach – fast hät­te ich ge­sagt: nach Hau­se seh­ne, ich mei­ne nach dem reich­lich kal­ten Ort, wo ich er­zo­gen wur­de, und dem feuch­ten Nord­ost­wind, der den Ge­ruch ei­nes nor­di­schen Mee­res mit­brach­te.«

Und un­ver­mit­telt:

»Wie ich die Män­ner ver­ach­te!«

»Sie ha­ben doch noch so­eben einen großen Er­folg bei ih­nen ge­habt«, be­merk­te Da Sil­va mit bei­ßen­der Stim­me, »und ich be­glück­wün­sche Sie. Den Aguir­re über­lässt man Ih­nen; dem Her­zog al­ler­dings hat Mistress Job be­reits einen Teil sei­ner Schul­den be­zahlt, und Sie wür­den sich mit der Dame aus­ein­an­der­zu­set­zen ha­ben.«

»Ich ver­bie­te Ih­nen, ver­ste­hen Sie, über Frau­en schlecht zu re­den! Sol­che Ge­schich­ten er­fin­den die Män­ner, um für sich Re­kla­me zu ma­chen.«

»Wie Sie gleich auf­ge­bracht sind! Ich spre­che doch zu ei­ner Frau, die we­ni­ger ab­hän­gig von ih­rem Ge­schlecht ist als die an­de­ren – und es heu­te Abend zeigt.«

»Mer­ken Sie sich: Wer, um mir zu schmei­cheln, eine an­de­re Frau her­ab­setzt, mit dem bin ich schon fer­tig. Nichts kann krän­ken­der für mich selbst sein.«

»Böse im Ernst?«

»Nein; denn ich will mir den Spaß nicht ver­der­ben … Mai! Nicht wahr, wir tref­fen uns zum Es­sen bei Du­rieu? Ich gehe mit Herrn Da Sil­va einen an­de­ren Weg.«

»Al­lein mit Herrn –?«

Lola er­klär­te, in Ge­sell­schaft Mais er­ken­ne man sie. Auch habe sie als Ame­ri­ka­ne­rin das an­er­kann­te Recht, zu ge­hen mit wem und wo­hin sie wol­le.

»Und dann siehst du doch, dass ich ein Freund des Herrn Da Sil­va bin. Ja, Mai, Herr Da Sil­va und ich, wir sind rich­ti­ge Freun­de.«

»Sind wir Freun­de«, sag­te Da Sil­va im Wei­ter­ge­hen, »so müs­sen Sie mir eine War­nung er­lau­ben. Ges­tern sind Sie wie­der al­lein aus­ge­gan­gen. Ich ach­te Sie zu hoch, um –«

»Ja, frü­her ha­ben Sie mir we­gen sol­cher Din­ge Sze­nen ge­macht! Sie bes­sern sich.« Und sie wuss­te: »Er ach­tet mich hö­her, seit er mich für sei­ne Braut hält. Ist das echt männ­lich!«

Er schwieg un­zu­frie­den. Sie rich­te­ten sich nach der Mu­sik, die her­scholl. Wie sie auf den Platz ein­bo­gen, über des­sen Pal­men­hain der Kir­chen­gie­bel mäch­tig aus­griff und der Bron­ze­rei­ter da­hin­spreng­te, war das Stück zu Ende. Vie­le fä­cheln­de, die Hüf­ten wie­gen­de jun­ge Frau­en mit ih­ren Mäg­den und An­be­tern, vie­le prall ge­klei­de­te, rau­chen­de jun­ge Män­ner be­gan­nen lang­sam zu krei­sen.

»Sie ken­nen wohl die Frau gar nicht, die eine Dueña und eine Magd bei sich hat und die Ih­nen zu­lä­chelt? Das ist die, in de­ren Schuld Sie vor­geb­lich seit ges­tern Nacht sind.«

»La Ge­li­da? Aber die habe ich schon oft ge­se­hen und wuss­te nicht … Wie gut ihr die Däm­me­rung steht! Ihr grau und un­si­cher ge­bo­ge­nes Pro­fil scheint von dem Auge, das ein großes schwar­zes Loch ist, ganz auf­ge­zehrt zu wer­den. Ihr Lä­cheln – se­hen Sie, ich möch­te es er­wi­dern, aber es schüch­tert mich ein.«

»So?« mach­te Da Sil­va zor­nig. »Ich aber rate Ih­nen zu der Ge­li­da nicht, denn ich war zu­ge­gen, als sie ope­riert ward. Das nimmt ei­nem man­che Lust.«

»Wirk­lich?«

Aus tie­fem Her­zen:

»Dann möch­te ich Ihren Be­ruf ha­ben!«

Der jun­ge Mann hieb sei­nen Stock durch die Luft. Ge­reizt:

»Oh, an­de­re ent­bren­nen nur noch hef­ti­ger. Ei­ner von uns se­zier­te sei­ne ei­ge­ne Ge­lieb­te, und als er in ih­rem Ma­gen eine un­ver­dau­te Spei­se fand, aß er sie.«

Lola schwieg. Ent­set­zen, Scham und Ver­gnü­gen strit­ten sich um ihr Herz, und es klopf­te. Mit Frohlo­cken in der Stim­me sag­te sie dann:

»Wür­den Sie mir das auch er­zählt ha­ben, wenn ich Rö­cke an­hät­te?«

»Wenn wir erst ver­hei­ra­tet sind«, ver­hieß er, her­ab­las­send aus Är­ger, »er­fah­ren Sie mehr.«

Sie lach­te auf:

»Habe ich Ih­nen nicht ge­sagt, dass ich für die freie Lie­be ein­ge­nom­men bin?«

Er schob ge­quält die Schul­tern hin und her.

»Ich ver­ste­he Sie nicht. Sind Sie raf­fi­niert, oder was sind Sie?«

»Ach was: ich bin ein jun­ger Mann, wie Sie se­hen kön­nen, dem alle Frau­en zu­lä­cheln. Se­hen Sie, welch Er­folg? Wa­rum ste­he ich, die doch alle hübsch nen­nen, sonst im­mer hin­ter Mai zu­rück, heu­te aber er­re­ge ich Auf­se­hen? Ich bin ei­gent­lich ein ver­klei­de­ter Mann, und jetzt habe ich mich de­mas­kiert. Man hat kaum Zeit, je­der die­ser Schö­nen mit den Wim­pern zu win­ken.«

Da Sil­va sah rund­um.

»Wer ist schön? Wenn ich Schön­heit noch se­hen könn­te!« – und sei­ne Stim­me fuhr auf. Nun, mit schmerz­lich er­bit­ter­tem Ton­fall:

»Aber Sie hal­ten mich so be­ses­sen mit Ihrem Ge­sicht, mit Ih­rer Ge­stalt, dass ich für die an­de­ren Maß und Sinn ver­lo­ren habe. Sind sie schön, sind sie häss­lich? Ich ver­ste­he nichts, ich sehe nur dies eine klei­ne un­er­bitt­li­che Ge­schöpf, und es er­stickt in mir al­les, was nicht sein ei­gen ist.«

Lola bück­te sich ein we­nig, mit ei­nem Schau­er im Na­cken, als wer­de gleich eine Hand hin­ein­grei­fen. »Im­mer das Ge­sicht, im­mer die Ge­stalt: im­mer der Kör­per« dach­te sie, auf ein­mal matt von Wi­der­wil­len und Trau­rig­keit. Er sag­te stür­misch:

»Sie sind über alle Ver­glei­che schön!«

»Ach, wie rei­zend wär’s«, mein­te sie und er­mun­ter­te sich, »wenn alle so däch­ten! Tat­sa­che ist, dass je­der sich zu­erst um mich be­müht; dann erst be­sinnt er sich und geht zu Mai.«

»Gut für ihn.«

»Dan­ke. Wa­rum bli­cken Sie mit sol­cher Wut auf dies arme hüb­sche Mäd­chen?«

»Kom­men Sie auf die an­de­re Sei­te: Sie wer­den se­hen.«

Das Mäd­chen, das ohne Beglei­tung war, trat in das weit of­fe­ne, er­hell­te Ge­wöl­be ei­nes Ta­ba­kla­dens. Alle Män­ner wand­ten den Kopf nach ihr; die Stut­zer,1 die am La­den­tisch lehn­ten, wi­chen kei­nen Schritt breit. Das Mäd­chen ver­lang­te et­was; aber so­oft sie den Mund öff­ne­te, ward ge­pfif­fen.

»Sie will Räu­cher­ker­zen, man sieht es«, sag­te Lola. »Was hat sie denn be­gan­gen, mein Gott?«

Das Mäd­chen er­rö­te­te plötz­lich tief; die Män­ner lach­ten scha­den­froh; der, der den Witz ge­macht hat­te, bläh­te sich. Das Mäd­chen stürz­te, die Au­gen ver­wirrt und nass, ins Freie. Wie sie nahe kam, stieß Da Sil­va einen Pfiff aus. Sie floh wei­ter. Lola rief:

»Das ist ab­scheu­lich! Ich will Sie nicht mehr ken­nen! Wenn die Ärms­te nie­mand hat, schlie­ße ich mich ihr an, ich!«

»Ver­ges­sen Sie, dass Sie ein Mann sind? Re­den Sie sie an, ists gra­de sol­che Be­lei­di­gung, wie wenn Sie pfei­fen.«

Lola blieb rat­los ste­hen. Zwei blon­de Da­men mit Spa­zier­stö­cken stelz­ten über das Pflas­ter und be­tra­ten ge­las­sen den­sel­ben La­den – wo al­les ih­nen Platz mach­te. Lola sag­te sich, dass je­der sie auf die Stu­fe die­ser bei­den stel­len, ihr die glei­chen Rech­te ein­räu­men wer­de; und doch war sie der Miss­hand­lung je­ner an­de­ren mit ei­ner Angst ge­folgt, als sei’s eine Dro­hung, die auch ihr gel­te.

»Es ist furcht­bar«, sag­te sie, »un­ter euch eine Frau zu sein. Bei uns ist der Mann un­ser Ka­me­rad.«

»Bei euch? Sie sind kei­ne Nord­län­de­rin. Sie ha­ben et­was von je­nem uns so er­bit­tern­den Reiz, ge­wiss. Wir Män­ner des Sü­dens fol­gen all­zu gern der zwei­deu­ti­gen Her­aus­for­de­rung, die von der be­frei­ten Frau aus­geht. Wozu kommt ihr her? Ihr ver­derbt un­se­re Frau­en, dass sie sich ohne un­se­ren Schutz auf die Stra­ße wa­gen und, wenn wir sie lie­ßen, sich im Café mit­ten un­ter uns set­zen wür­den. Ihr ver­derbt auch uns, dass wir den schlaf­fen Kit­zel der Ka­me­rad­schaft mit euch füh­len möch­ten wie eure her­un­ter­ge­kom­me­nen Män­ner. Ich will’s nicht. Ich will Ihr Herr wer­den.«

»Manch­mal re­den Sie wie das Al­ter, das Sie wirk­lich ha­ben.« Und Lola lach­te ge­zwun­gen.

»Nicht nur mei­ne Wor­te, auch mei­ne Mus­keln sind die ei­nes Fün­f­und­zwan­zig­jäh­ri­gen. Sie wer­den es füh­len.«

Lola hob schwei­gend die Schul­tern. Nach ei­ner Wei­le:

»Jetzt ge­hen wir drü­ben in das Café: ich will mich mit­ten un­ter euch set­zen.«

»Ich bin Ihr Beglei­ter, aber ich ver­las­se mich dar­auf, dass Sie selbst wis­sen, wie weit Sie ge­hen dür­fen.«

»Sie wer­den mich als einen jun­gen Po­len vor­stel­len, der in Pa­ris stu­diert.«

»Ich wer­de mich Ih­nen emp­feh­len und es Ih­nen über­las­sen, sich zu kom­pro­mit­tie­ren.«

Aber er trat mit ein.

»Welch Glück: da sitzt die Ge­li­da. Ma­chen Sie mich so­fort mit ihr be­kannt!«

»Und der Kreis um sie her? Da­bei sind Leu­te, die Sie ken­nen.«

»Sie wer­den kei­nen Skan­dal er­le­ben. Mut, ar­mer Freund!«

Sie wur­den auf­ge­nom­men und setz­ten sich. Die Un­ter­hal­tung ward zu Ehren der schö­nen Kur­ti­sa­ne ge­führt, die, hin­ter sich ihre Dueña und ihre Magd, de­nen, die gut spra­chen, ein we­nig von ih­rem Lä­cheln zu­teil­te. Lola be­gann dar­um zu wer­ben. Man wen­de­te die Stüh­le, um die­sen jun­gen Men­schen spre­chen zu se­hen. Wenn sie sei­ne klei­ne ko­ket­te Hand weich durch die Luft strei­chen und bei ei­ner sei­ner leich­ten, ra­schen Be­we­gun­gen sei­ne Tail­le sich bie­gen sa­hen, schi­en den Män­nern rings­um sein Geist fri­scher, be­le­ben­der. Er gab stür­mi­sche, jun­ge Mei­nun­gen zum Bes­ten: »Die Lie­be ist et­was sehr Ein­sei­ti­ges und ei­gent­lich ein Man­gel an Selbst­zucht« – wo­bei alle, die zu­hör­ten, sich, sie wuss­ten nicht warum, be­glückt fühl­ten. Lola sah die Mie­nen, die sie be­weg­te, das schö­ne Ge­sicht der Ge­li­da, aus dem ihr freund­li­che, wohl­klin­gen­de Zu­stim­mun­gen ka­men; und sie hat­te eine Emp­fin­dung von Leich­tig­keit und Frei­heit wie nie im Le­ben. Nie hat­te sie Da Sil­va so ru­hig an­se­hen kön­nen. Was küm­mer­ten sie nun sei­ne ge­fal­te­ten Brau­en. Bei al­lem, was sie sag­te, fühl­te sie ihn ne­ben sich als Be­sieg­ten; der Ge­nuss, den sie von ih­ren Wor­ten hat­te, kam da­her, dass sie gut wa­ren und dass er es hät­te leug­nen wol­len, und die­se Schau­er des Si­cher­he­bens, des Flie­gens und Be­sonnt­seins da­her, dass er so tief un­ten blieb.

Das Di­ner war her­ge­rich­tet. Da Sil­va be­haup­te­te, er und sein Freund hät­ten eine drin­gen­de Verab­re­dung. Wa­rum er heu­te so mür­risch sei, ward er ge­fragt. Lola for­der­te ihn auf, zu ge­hen und sie zu ent­schul­di­gen. Sie saß bei Tisch ne­ben der Ge­li­da. Ein Dich­ter re­zi­tier­te. Da Sil­va ver­such­te un­ge­schickt, ihn zu kri­ti­sie­ren. Lola lä­chel­te und sprach der Ge­li­da von dem Jüng­ling, dem in sei­nen ar­beit­sa­men Näch­ten manch­mal die Phan­to­me von Frau­en über die auf­ge­schla­ge­nen Sei­ten tän­zel­ten und der sol­chen be­klom­me­nen Stolz ge­nie­ße, wenn er die Au­gen weg­wen­de. Sie sah Da Sil­va sei­ne Lip­pe kau­en und in sich ver­sin­ken. Wie alle durch­ein­an­der re­de­ten, der Nacht­wind an der Tür lau­ter mit dem Per­len­vor­hang klim­per­te und eine Glo­cke elf­mal dröhn­te, sprang Lola auf, ließ die Frei­heit le­ben – und mit dem letz­ten Ruf war sie ent­schlüpft.

Sie be­fand sich in ei­nem Gäss­chen und sah am Ende der schma­len Häu­ser­flucht, wie durch ein Rohr, die große Ge­stalt des Ko­lum­bus von Ster­nen um­wogt. In trun­ke­ner Wal­lung er­hob sie bei­de Arme. Wie aber hin­ter ihr der Schritt, den sie er­kann­te, ver­nehm­lich ward, ver­wirr­te es sie pa­nisch, als bre­che auf ein­mal ein künst­li­cher Turm­bau in ihr zu­sam­men. Er­nüch­tert, kalt vor Furcht, ver­steck­te sie sich in ei­nem Por­tal; aber Da Sil­va fand sie. Wie un­vor­sich­tig sie sei. Ob sie glau­be, dass es den Hel­den der Nacht auf einen Mord an­kom­me. Lola, die an Da Sil­vas Sei­te wei­ter­ging, wünsch­te sich in­stän­dig, dass aus dem nächs­ten Schat­ten ein Be­frei­er sprin­ge und sie töte.

Denn sie hat­te er­kannt: al­les war um­sonst. Be­geis­tert mein­te sie zu sein, und war nur be­rauscht ge­we­sen. Den Geist, der sie von ihm er­lö­sen soll­te: eben der Drang nach ihm hat­te ihn ihr ein­ge­ge­ben; und nie hat­te er fes­ter sei­ne Hand auf ihr ge­hal­ten, als da sie ihn tief un­ter sich glaub­te.

Da­bei durch­ma­ßen sie den Quai.

»Wo­hin geht’s?« dach­te Lola ver­stört und: »Wenn ich den nächs­ten Stra­ßen­rand mit dem rech­ten Fuß er­rei­che, ent­kom­me ich ihm heu­te noch. Sonst nicht. Sonst nicht.«

Aber noch vor dem Ziel, das sie mein­te, rück­ten ihre bei­den Schat­ten nach vorn, und beim Her­auf­kom­men sei­ner brei­ten Schul­tern schloss Lola die Au­gen. Das Schwei­gen fol­ter­te sie. Wie ent­setz­lich ner­ven­stark und sei­ner si­cher er war! »Ich zäh­le bis zwan­zig, und hat er dann noch nichts ge­sagt, rufe ich um Hil­fe.«

Gleich­wohl rausch­te der Brun­nen auf der Pla­za del Pala­cio in­mit­ten sei­nes und ih­res Schwei­gens. Hier, un­ter der grells­ten Hel­le, folg­ten sie bei­de auf ein­mal dem Zwang, ein­an­der an­zu­se­hen. Lola sah et­was düs­ter Schmach­ten­des, tie­risch Lei­den­des, das sie schreck­li­cher er­schüt­ter­te als die Sie­ger­här­te, die sie sich vor­ge­stellt hat­te. Lang­sam von ihm weg­se­hend: »Ja, das ist er. Er ist ein be­schränk­ter Ge­walt­mensch, und ich lie­be ihn mit Wi­der­wil­len, aber er ist der Ty­pus, dem ich un­ter­lie­gen soll. Die vo­ri­gen, in Pa­ris und in Rom, wa­ren vom sel­ben. Die­sel­ben zu­sam­men­tref­fen­den Brau­en, die har­te Mar­mor­far­be wie hier, wor­aus jede Wim­per, je­der Bluts­trop­fen der Lip­pen dro­hend her­vor­starrt. Wozu sich quä­len? Er liebt mich, so gut er’s ver­steht. Mit dem, was zu ihm ge­hört, lie­be auch ich ihn. Ich habe noch mehr, wo­von er nicht weiß; aber wer wird je da­von wis­sen. Wozu auf dem Un­mög­li­chen be­ste­hen, wozu so viel kämp­fen; warum nicht ein ein­zi­ges Mal ganz un­ver­nünf­tig glück­lich sein.«

Sie nahm tiefe­re Züge Meer­win­des, und in­zwi­schen stie­gen sie kaum be­leuch­te­te Gas­sen hin­an, er­reich­ten einen Gar­ten­platz und tas­te­ten sich durch das ei­nes bit­ter duf­ten­den Ge­bü­sches. »Wo ist denn der Weg?« Und statt des We­ges such­ten sie ei­ner des an­de­ren Hand. Lola zuck­te zu­sam­men, als sie die ihre ge­fan­gen fühl­te; aber sie fühl­te auch, dass er in die­sem Au­gen­blick mit Zart­heit an sie den­ke; und wäh­rend des Lä­chelns, das lang­sam über ihr Ge­sicht hin­ging, war ih­r’s, als lä­che­le das gan­ze Dun­kel. Sie dach­te un­be­stimmt an weit Ver­gan­ge­nes: an ihre Kind­heit. Wie sie eine Ba­lus­tra­de tra­fen, stütz­ten sich bei­de dar­auf; ihre Un­ter­ar­me la­gen, ohne sich zu be­rüh­ren, ein­an­der so nahe, dass je­der des an­de­ren Wär­me spür­te, und drun­ten über dem nächt­li­chen Git­ter aus Mas­ten und Schlo­ten such­ten sie das Meer: lan­ge und be­klom­men von Sehn­sucht. »Der Mond muss bald auf­ge­hen.«

Lola sag­te:

»Da­heim auf der Gro­ßen In­sel war’s das schöns­te, wenn das Meer leuch­te­te. Ach, nun weiß ich wie­der: mein Groß­va­ter zün­de­te vie­le Pa­pi­er­röll­chen an und schoss sie in wei­ten leuch­ten­den und zi­schen­den Bo­gen über das Meer.«

Der jun­ge Mann lach­te kind­lich und sprach von sei­ner Meer­fahrt, der­sel­ben, die einst auch Lola ge­macht hat­te. Ob sie sich nicht je­nes In­sel­kö­nigs er­in­ne­re, den man für zwei Fran­cs se­hen konn­te. Ab­wech­selnd rie­fen sie zu­rück, was ih­nen bei­den be­geg­net war; und bei je­dem Zu­sam­men­tref­fen ih­rer Er­leb­nis­se durch­rann Lola der Schau­er des Vor­her­be­stimm­ten.

»Gleich wird der Mond auf­ge­hen«, mur­mel­te sie mit sü­ßer Angst. Je­nes Kin­der­glück auf der Gro­ßen In­sel be­weg­te sich lei­se un­ter al­len ih­ren Ein­fäl­len; und die heim­li­che Ge­wiss­heit, nie wer­de es wie­der so gut wer­den, ließ sie, sie wuss­te nicht warum, von er­lit­te­nen Schmer­zen spre­chen, von ih­rer Ein­sam­keit, von der Mü­dig­keit, die in ihr zu­neh­me. Schwe­res Drän­gen nach Ge­mein­schaft, nach Men­schen­nä­he zit­ter­te in ih­rer Stim­me und mach­te ihre Arme flug­be­reit: be­reit um einen Na­cken zu flie­gen.

Er sah sie mehr­mals un­ru­hig von der Sei­te an.

Plötz­lich: »Woran den­ken wir?« – mit ei­ner Be­we­gung, die er so­fort zu­rück­nahm. Aber sie war nun wie­der er­in­nert, dass er sie ha­ben wol­le und nichts wei­ter, dass sie nicht sei­ne Ge­fähr­tin sei, nur eine Ge­lieb­te, dass ir­gend­ei­ne der flüch­ti­gen Be­gier­den, in de­ren Wir­beln sie da­hin­leb­te, sie an die­se Stel­le ge­weht habe und die nächs­te sie wei­ter­trei­ben wer­de – und dass al­les dies nicht mehr sei als ein hei­ßer Wind­stoß über die nack­te Haut. Das Ent­set­zen des Ver­irrt­seins pack­te sie, und sie wag­te sich nicht zu rüh­ren.

Er sag­te:

»Ich habe über Sie nach­ge­dacht; ich durch­schaue Sie voll­kom­men. Neh­men Sie ge­gen Ihre Zu­stän­de dies: nie mehr als einen Trop­fen und nur wenn Sie in Ge­sell­schaft ge­hen wol­len.«

Sei­ne Stim­me war ihr nun ver­däch­tig. Un­ter ei­nem ei­si­gen Miss­trau­en zog sie sich in­ner­lich zu­sam­men. Was hat­te die­ser Mensch mit ihr vor? »Noch nie­mand hat Gu­tes mit mir vor­ge­habt!« Er war ein Feind. »Mein Gott, in wes­sen Ge­walt bin ich ge­ra­ten!« Sie stieß zu­rück, was er ihr hin­hielt. Er be­merk­te plötz­lich ihre Ver­än­de­rung, be­reu­te un­ge­stüm, an Schwär­me­rei und Re­gun­gen der Güte eine ge­le­ge­ne Zeit ver­geu­det zu ha­ben, und tat einen har­ten Griff nach ihr. Sie wich aus, bück­te sich und ent­kam in der Fins­ter­nis der Stei­ge. Der Mond war nicht auf­ge­gan­gen.

Sie stieß auf die Trep­pe, stürz­te vor­wärts, durch das Netz der lee­ren Gas­sen, im­mer dar­auf ge­fasst, die Schul­tern un­ter sei­ner zu­fas­sen­den Hand zu du­cken. Dr­un­ten auf dem wei­ten, grel­len Platz schi­en ihr der An­blick ei­ni­ger Bumm­ler un­be­greif­lich, ein ret­ten­des Wun­der. Al­les hat­te sich doch schon auf­ge­löst, al­les war doch schon ver­lo­ren ge­we­sen. Sie sprang, noch flie­gen­den Atems, in einen vor­über­fah­ren­den Wa­gen. Wäh­rend der Fahrt er­leb­te sie im­mer aufs neue den Au­gen­blick, als er nach ihr griff. Sie wand sich vor Angst und Hass.

Wie sie in ih­rem Zim­mer das Licht auf­dreh­te, stand vor ihr im Spie­gel der ele­gan­te, selbst­si­che­re jun­ge Mann, den sie, schi­en es, hier zu­rück­ge­las­sen hat­te. »Was ist seit­her aus mir ge­wor­den! Mein Gott!« Sie ließ sich in den Ses­sel fal­len und wein­te.

Sie wach­te auf und saß noch im­mer in ih­ren Män­ner­klei­dern da. Im off­nen Fens­ter lag grau­er Halb­tag; drun­ten knirsch­ten die ers­ten Kar­ren. Lola fror es; sie fühl­te sich müde und ver­las­sen. »Wenn ich’s nun ge­tan hät­te?« dach­te sie star­ren Blicks. »Ich hät­te jetzt einen Herrn. Vi­el­leicht wäre ich glück­lich.« Dann: »Wenn er jetzt käme? Wenn er jetzt drun­ten stün­de?« Sie sah hin­ab: nein; und sie seufz­te.

Beim Aus­klei­den fand sie in der Wes­ten­ta­sche das Fläsch­chen, das sie zu­rück­ge­sto­ßen hat­te. Also war’s ihm ge­lun­gen, es ihr auf­zu­drän­gen! Sie stell­te es weit weg, wan­der­te ein paar­mal rat­los in der Run­de, zog schließ­lich ein Mor­gen­kleid an und ging hin­über in den Sa­lon. Vor der Tür zu Mais Schlaf­zim­mer kehr­te sie um, mach­te den Weg noch ein­mal und hol­te das Fläsch­chen. Es ließ sich in der hoh­len Hand ver­ste­cken, ohne dass sie die Fin­ger schloss. Dann trat sie bei Mai ein.

Mai schlief; Lola sah ihr zu, wie sie kind­lich at­me­te, wie ihr schö­nes, fal­ten­lo­ses Ge­sicht sich glück­lich aus­ruh­te. Ein­mal lä­chel­te sie, wie bei ei­nem Sie­ge. Was träum­te ihr? Ge­wiss, dass man sie an­be­te. Lola stand und sann sich fest in Mai. »Wie selt­sam, dass ich zu ihr ge­hö­re! Ich habe doch Wel­ten für mich, von de­nen die arme Mai nichts ahnt; aber dann fal­le ich, ob ich will oder nicht, wie­der auf die ihre zu­rück und spü­re in mei­nem Blut die­sen schö­nen, dum­men Män­ner­ty­pus, den ich ver­ach­te. Ist es nicht, als ob ich manch­mal das Be­wusst­sein ver­lö­re, in Mai zu­rück­kehr­te, aus der ich einst her­vor­ge­gan­gen bin, und sie für mich füh­len und han­deln lie­ße? Da geht man da­hin und ist nicht man selbst. Was kann al­les auch in dem Na­men ste­cken, den ei­nem an­de­re ge­ge­ben ha­ben. Lola: … Lo–­la … Ich höre et­was un­heim­lich Schmel­zen­des, Wil­len­lo­ses dar­in. Lola: nein, es kann auch sehr frisch und mu­tig klin­gen …«

Da er­wach­te Mai, und bei­de er­schra­ken.

»Du bist also doch ge­kom­men?« stam­mel­te Mai. »Ich habe dich nicht ge­hört. Du hast mir schreck­li­che Sor­ge ge­macht. Ich konn­te doch nie­mand nach dir fra­gen; was hät­te man ge­dacht!«

Lola er­kann­te, nun Mai zu Sor­gen er­wacht war, plötz­lich Spu­ren des Al­terns an ihr. Sie er­in­ner­te sich: auch dies Kin­der­we­sen muss­te kämp­fen und lei­den.

Zärt­li­che Reue hob Lo­las Herz auf; sie warf sich vor dem Bett auf die Knie, schob die Arme un­ter Mais Na­cken.

»Ich habe dich lieb, Mai. Wir wol­len fort von hier!«

»Fort? Wa­rum?« frag­te Mai er­schro­cken.

»Weil … Siehst du: man hat mich er­kannt. Was ich ge­tan habe, war dumm. Nun ist’s bes­ser, wir ge­hen. Ja, so: Der Her­zog und Aguir­re, de­nen tra­gen wir auf, zu er­zäh­len, wir sei­en schon ges­tern ab­ge­reist. Sie wer­den dis­kret sein, nie­mand wird be­wei­sen kön­nen, dass er mich heu­te Nacht ge­se­hen hat.«

»Und Da Sil­va?«

Lola fuhr zu­rück, mit plötz­lich ver­schlos­se­ner Mie­ne.

»Wie ist’s mit Da Sil­va?« wie­der­hol­te Mai un­si­cher. Lola nä­her­te sich ihr wie­der.

»Er ist ein gu­ter Freund«, sag­te sie sanft. »Ge­gen mei­ne Schmer­zen und Mü­dig­kei­ten hat er mir dies ge­ge­ben. Meinst du, dass ich’s ver­su­chen soll?«

Sie nahm Mais gol­de­nen Arz­neilöf­fel und ließ einen Trop­fen hin­ein­fal­len.

»Soll ich?«

Zö­gernd:

»Soll ich?«

Und dann:

»So, nun wer­den wir se­hen.«

Wenn es nun ein Gift war, das sie wahn­sin­nig mach­te und ihm in die Arme trieb: sie hat­te es ge­nom­men, es war ge­sche­hen. Ihre Züge wa­ren be­sänf­tigt; sie neig­te sich tief auf Mai, de­ren Ge­sicht dem Wei­nen nahe war.

»Arme Mai, ich bin schlecht; ich be­dach­te nicht, dass du dich schwer trennst. Im­mer lege ich dir Op­fer auf. Aber dort, wo­hin wir ge­hen, sollst du dich an­be­ten las­sen …«

Sie strei­chel­te und trös­te­te. Mai schluchz­te und schlief ein. Lola schloss sich in ihr Zim­mer, setz­te sich vor ein Buch und ver­stopf­te, wie als Kind, mit den Fin­gern die Ohren. Sie ge­noss, was sie las, mit im­mer hel­le­rem Geist. Eine Stun­de spä­ter be­merk­te sie, dass Tep­pich und Tisch voll Son­ne wa­ren. Sie lehn­te sich zu­rück, at­me­te tief auf und fühl­te, wie weit nun die Nacht zu­rück­lie­ge. »Von hier« – sie sah das Buch an – »bis zu ihm ist’s end­los weit. Was geht er mich an? Ganz leicht wer­de ich ihn ent­beh­ren.«

Als sie fer­tig an­ge­zo­gen den Sa­lon be­trat, knie­te Mais Mäd­chen vor ei­nem Kof­fer.

»Hast du auch schon an­ge­fan­gen?« frag­te Mai.

»Ach, pa­cken …« Und ein Angst­schau­er über­rasch­te sie.

»Willst du denn nicht mehr rei­sen?«

»Ich … will … rei­sen«; da­bei ließ sie den Kopf sin­ken. Dann:

»Das heißt …«

»Ja«, dach­te sie, »ich will’s dar­auf an­kom­men las­sen.«

»Das heißt, selbst zu pa­cken habe ich heu­te kei­ne Lust. Wenn Ger­mai­ne Zeit hat …«

Ja: Mai gab Ger­mai­ne frei; Lola war ge­ret­tet.

1 Als Mo­den­arr, al­ter­tüm­lich auch „Stut­zer“ oder „Geck“, wird ein Mensch be­zeich­net, der mit über­trie­be­ner, af­fek­tiert wir­ken­der Ele­ganz Auf­merk­sam­keit zu er­hei­schen sucht. <<<

Zwischen den Rassen

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