Читать книгу Schweinetango - Heinrich Thies - Страница 6
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ОглавлениеDie Bässe gingen ihm durch und durch. Wie bei Faustschlägen und Peitschenhieben krümmte er sich unter den Technosalven und Lichtblitzen. Warf ergeben den Kopf zurück, um sich ganz diesem Wummern und Stampfen hinzugeben. Mit Leib und Seele.
»Ready to go?
One, two, three, four …«
Bam, bam, ba, ba, bam, bam …
Schneller, immer schneller kamen die Schläge. Der Gesang war so verzerrt wie die Musik. Sphärenklänge, die in ein Geschützfeuer übergingen. So laut, dass ihm das Trommelfell zu platzen drohte; Micky-Maus-Gequäke, Trompetenstoß und Eulenschrei – alles in einem. Er genoss es, sich zu verlieren in diesem Trommelfeuer. Hier war es nicht schlimm, allein zu sein, hier nicht.
»Stand up … Halleluja.«
Gegen zehn Uhr war er mit dem Mofa gestartet, über dunkle Feld- und Wiesenwege zum »Tempel« geknattert, der früheren Molkerei von Schwarmstedt, die nur vier Kilometer von seinem Wohnort Bothmer entfernt lag. Anfangs hatten noch die »Kinder« das Bild beherrscht, die 14- bis 16-Jährigen. Er selbst war immerhin schon siebzehn, sah aber mit seinem nahezu kahl rasierten Schädel und seiner Körpergröße von 1,83 Meter mindestens zwei Jahre älter aus. Bis Mitternacht war die Tanzfläche im Keller leer gewesen. Nur die mollige Bardame hatte hinter ihrem Tresen getänzelt. Ansonsten hatten die Diskobesucher gelangweilt vor ihren Bierflaschen oder Wodkagläsern gehockt, geraucht, Handy-Botschaften |19|ausgetauscht, gekichert und sich gegenseitig begutachtet. Björn hatte wie üblich seine drei Bacardi-Cola getrunken.
Zwischendurch hatte es oben an der Bar mal etwas gekracht. Irgendwelche Typen hatten sich in die Haare gekriegt, nichts Besonderes. Auch Björn war schon mal in eine Schlägerei verstrickt worden, ganz unversehens war er auf dem Weg zum Klo angepöbelt und geschubst worden. Mit seiner Körpergröße, seiner schlaksigen Gestalt und der Baseballmütze, die er meistens verkehrt herum trug, musste er irgendwie provozierend wirken, das war ihm schon seit Längerem klar. Als er sich gewehrt hatte, waren gleich mehrere über ihn hergefallen. Hatte ganz schön wehgetan. Seither ging er nur noch aufs Klo, wenn die Luft rein war. Und er vermied es auch sonst, in die Nähe der diskobekannten Schlägertypen zu kommen.
Nein, ihm stand nicht der Sinn nach Schlägen. Er ging in die Disko zum Abtanzen. Und er fand es toll, wenn sich kurz nach Mitternacht die Szenerie verwandelte und die Tanzfläche sich füllte und die Musik noch lauter und härter wurde. Dann mischte auch er sich unter die zuckenden Gestalten, dann fiel es nicht mehr auf, dass er allein war. Dann verlor er jedes Zeitgefühl, vergaß den ganzen Mist, den er sonst mit sich herumschleppte: den Ärger mit seinem Vater, der ihn aus dem Haus geprügelt hatte; die Enttäuschung über seine Mutter, die sich nur noch um seine jüngeren Geschwister kümmerte; die Schule, die er zum Glück seit einigen Wochen hinter sich hatte; den Stress mit Annika, die sich mir nichts, dir nichts einen andern gesucht hatte, die Clique, die nichts mehr von ihm wissen wollte – den ganzen Mist eben, die ganze Kacke.
»Wumm, wumm, wumm, wumm …
Ay, ay, ay, ay, ay, ay, ay …«
Tanz weg den Scheiß.
|20|Er warf den Kopf zurück, drehte die Handinnenflächen nach oben und genoss es, wie sich die Beats bis in die Gedärme hinein fortsetzten. Cool war das. Saugeil. Es konnte ihm gar nicht laut genug sein.
»Ready to go …«
Er verstand die merkwürdigen Befehle in diesem Gewummer gar nicht. Aber er wusste, was er zu tun hatte: tanzen, tanzen. Dabei spürte er nicht, wie er unter seiner umgedrehten Baseballmütze schwitzte, wie sich sein weißes T-Shirt in einen feuchten Lappen verwandelte, achtete nicht darauf, wer um ihn war.
Leider war es irgendwann vorbei. Musik aus, Schluss. Benommen torkelte er ins Freie. Die frische Luft haute ihn förmlich um. So viel Sauerstoff war er nach den vielen Stunden in dem verqualmten »Tempel« gar nicht mehr gewohnt. Auch ohne Musik pulste sein Blut noch weiter im Technotakt. Er spuckte aus und zündete sich eine Zigarette an, bevor er sein Mofa anwarf. Dankbar vertraute er sich dem Knattern des Zweitakters an. Das war zwar natürlich kein Vergleich mit den Maschinen, die um ihn herum aufbrausten, aber besser als zu Fuß laufen. Beim Wegfahren sah er, wie ein früherer Kumpel Arm in Arm mit einem Mädchen in ein Auto schlüpfte. Scheiß drauf, sagte er sich. So’n verbeulter Ford Escord. ’n Witz. Abfällig spuckte er aus, bevor er von der Hauptstraße abbog.
Der Morgen dämmerte schon. Wolkenfetzen trieben über den grauen Himmel. Er roch die Güllewolken, die von den Feldern aufstiegen. Er mochte diesen Geruch, war stolz darauf, dass er selbst schon zu seiner Verbreitung beigetragen hatte, selbst schon Schweinepisse fahren durfte, seitdem er vor zwei Jahren den Treckerführerschein gemacht hatte. Ja Treckerfahren, das konnte er. Pflügen, eggen, striegeln, drillen, Mist und Gülle fahren. Alles kein Thema. Cord konnte sich auf ihn verlassen, hatte ihn oft schon |21|gelobt und ihm nicht umsonst eine Lehrstelle auf dem Hof versprochen. Er gehörte ja bereits dazu, wohnte schon seit einem Vierteljahr bei Kröger auf dem Hof im alten Dorfkern von Bothmer – seitdem er nach dem großen Knatsch zu Hause ausgezogen war. Wie eine Oma bemutterte ihn die alte Frau Kröger, geizte nie damit, ihm ein paar Euro zuzustecken, wenn er in die Disko wollte. Nein, da konnte er nicht klagen. Das war anders als zu Hause, in diesem weiß geklinkerten Einfamilienhaus im Neuen Dorf, dieser öden Wohnsiedlung Bothmers, wo er ständig Terz mit seinem Vater gehabt hatte. Schön war es natürlich trotzdem nicht, sein Elternhaus zu verlieren. Wenn er ehrlich war, dann hatte er schon oft Heimweh – vor allem nach seiner Mutter, aber auch nach seiner Schwester Mareike, die zwei Jahre jünger war als er. Es stimmte ihn traurig, dass er nicht mehr dazugehörte. Mit seiner Mutter hatte er nie ernstliche Probleme gehabt. Aber es hatte ihn schwer getroffen, dass sie sich nicht auf seine Seite gestellt hatte, wenn sein Vater ihn im Suff mit dem Lederriemen vertrimmte. Natürlich hatte sie versucht, seinen Auszug zu verhindern. Aber da war es schon zu spät gewesen.
Zuweilen fühlte er sich wie ein Ausgestoßener. Das »schwarze Schaf der Familie«, so hatte ihn sein Vater genannt. Nur weil er mal beim Klauen im Supermarkt erwischt worden war. Machten doch alle. Im Gegensatz zu manch anderen hatte er sich aber immer bemüht, sich zusammenzureißen – immer Wert auf ordentliche Klamotten gelegt, nie mitgemacht bei den wüsten Besäufnissen. Und bei der Jugendfeuerwehr war er einer der Eifrigsten, da gab es nichts.
Im Morgengrauen lenkte er sein Mofa über die Landstraße. Er sah, wie auf einem Kornfeld drei Rehe ästen. In Gedanken entsicherte er ein Jagdgewehr, nahm den Bock ins Visier und feuerte einen Schuss ab. »Baff …« Cord hatte versprochen, |22|ihn mal mit zur Jagd zu nehmen. Darauf freute er sich schon. Und so bald wie möglich wollte er auch selbst den Jagdschein machen. Dann würde er allein auf die Pirsch gehen und bei der Treibjagd nicht nur die Hasen aufscheuchen, sondern selbst draufhalten.
Mehrmaliges Hupen riss ihn aus seinen Träumen. Er wurde von einem schwarzen Mercedes überholt, der voll besetzt war mit Jugendlichen, die sich mit lauter Rockmusik bedröhnten. Als sie vor ihm waren, stoppten sie, drehten das Seitenfenster herunter und schrien ihn an: »Bist du besoffen, du Wichser? Denkst du, die Straße gehört dir allein mit deiner lahmen Krücke? Wenn du nicht sofort zur Seite fährst, machen wir dich platt, Alter. Kapiert?«
»Spinner«, fauchte Björn zurück. »Ihr fühlt euch wohl sehr stark, was?«
»Auch noch frech werden?«, schrie einer aus dem Auto zurück. »Erst den ganzen Verkehr hier aufhalten und dann die Klappe aufreißen, was? Das haben wir gern. Ich glaube, wir müssen dir mal ’ne rote Karte verpassen.«
Björn schluckte. Er war sich im Klaren darüber, dass er es mit dem Trupp nicht aufnehmen konnte. Heftiger Zorn überkam ihn, als der Mercedes mit quietschenden Reifen und wummernden Bässen an ihm vorbeiraste und ihm jemand lachend den Stinkefinger aus dem Fenster entgegenstreckte.
»Arschgeigen«, fluchte er. »Verdammte Angeber, fickt euch.«
Er hätte am liebsten aufgeschrien vor Wut. Die Begegnung hatte ihm schlagartig die Laune verdorben. Er fühlte sich verhöhnt, gab Gas, dass das Mofa aufheulte; seine Hände verkrampften sich am Lenker. Aber das nützte nichts. Sein Mofa kroch genauso langsam dahin wie vorher.