Читать книгу Che. Der Traum des Guerillero - Heinz-Joachim Simon - Страница 11

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Ich nannte mich einen glücklichen Menschen

Dann war ich in Paris. Ich verliebte mich sofort in die Stadt, in ihre Grands Boulevards, ihre Geschichte, in das Savoir-vivre. Es hörte nie auf. Es ist bis heute der Ort, an dem ich am liebsten bin. Ich stimme Heinrich Heine zu: »Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris« … und ist glücklich. Nur in Paris bin ich absolut mit mir im Reinen. Deswegen bleibt Paris bei all meinen Unternehmungen der Ausgangspunkt, zu dem ich immer zurückkehre. Wenn ich im Luxembourg sitze und den Kindern zuschaue, wie sie ihre Segelschiffe in dem großen Bassin schwimmen lassen, erfasst mich eine Ruhe und Zufriedenheit, die ich sonst nicht kenne. Alle Unrast fällt von mir ab. Ich frühstücke im Café de la Paix, esse zu Abend im Coupole und nehme nachts einen Absacker in der Ritzbar. Es waren glückliche Umstände, die mir dies schon bald ermöglichten.

Wie mir Aranjaz angewiesen hatte, meldete ich mich bei Monsieur Etienne Larousse, dem Besitzer und Verleger des France Soir. Ich musste den Redaktionssaal durchqueren, ehe ich sein Büro erreichte. An den Tischen saßen Männer mit Zigaretten im Mundwinkel und hämmerten auf ihre Schreibmaschinen ein. Für mich waren sie wie homerische Helden und ich hoffte, eines Tages zu ihnen zu gehören. Sie beachteten mich nicht.

Ich betrat das Vorzimmer. Es war leer. Ich setzte mich auf einen der Besucherstühle und harrte der Dinge. Irgendwann würde schon jemand auftauchen. Man konnte von dem Vorzimmer in den Redaktionssaal und dann weiter in die Druckerei sehen, wo auf endlosen Bändern die Zeitungen aus den Druckmaschinen kamen. Schließlich betrat ein junges Mädchen das Vorzimmer. Sie hatte einen Haarschnitt wie ein Junge, ein ebenmäßiges Gesicht, das der liebe Herrgott einem Engel abgeguckt hatte.

»Monsieur Larousse hat gleich Zeit für Sie«, sagte sie, nachdem ich meinen Namen genannt hatte.

Sie setzte sich an die Schreibmaschine, spannte einen Bogen ein und begann zu tippen. Sie schien nicht viel Freude daran zu haben, denn sie unterbrach dies oft und schaute zu mir herüber und lächelte.

»Sie kommen wirklich aus Argentinien?«

»Ja. Ich bin vor zwei Stunden in Paris eingetroffen.«

»Ich habe überhaupt keine Vorstellung von diesem Land.«

»Wild, groß und nicht sehr zivilisiert. Das Land der zigtausend Rinder«, gab ich an. Ich wollte nicht, dass sie eine schlechte Vorstellung von meiner neuen Heimat bekam.

Ein Summton war nun zu hören. Am Telefon ging ein rotes Lämpchen an.

»So, nun können Sie zum Chef, Monsieur Mahon.« Sie ging mir voran und öffnete die Tür. Ich bewunderte ihre langen, schönen Beine.

Das Büro des Verlegers machte nicht viel her, obwohl es eine der größten Zeitungen des Landes war. Ein Schreibtisch, zwei abgewetzte Sessel, ein Beistelltisch und eine Couch. Hinter seinem Schreibtisch war eine Pinnwand mit unzähligen Zetteln. Am meisten erstaunte mich der vollgemüllte Schreibtisch. Wie konnte er in dem Durcheinander etwas finden?

Larousse empfing mich mit verschränkten Armen und musterte mich ausgiebig.

»Du bist also Aranjaz’ Wunderkind?«

Was sollte ich darauf sagen; ich lächelte etwas blöd. Larousse war ein weißbärtiger, untersetzter Mann, der wie Zeus aussah. Er trug ein gestärktes weißes Hemd. Die rote Fliege korrespondierte mit seinen roten Hosenträgern, hinter denen er seine Daumen verhakt hatte.

»Du siehst eher aus wie ein verdammter Deutscher. Einen Argentinier habe ich mir ganz anders vorgestellt.«

»Mein Vater ist … war Deutscher. Deutsch spreche ich aber nicht so gut.«

»Aranjaz hat mir deine Artikel geschickt. Das ist alles noch ein bisschen ungelenk, aber du hast ein Auge für Situationen und eine einfache, klare Sprache. Wo hast du das gelernt?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich lese viel und schreibe so, dass mich die Leute auf der Plaza Martín verstehen. Ich kann nicht anders schreiben.«

»Na schön. Ich habe mir überlegt, dass du bei uns wohnst. Oder hast du andere Pläne?«

»Nein, Monsieur. Das wäre wundervoll.«

»Wir werden eine Kammer im Dachgeschoss für dich freimachen. So sparst du schon mal die Miete, die sonst dein Stipendium auffressen würde. Wohnungen sind in Paris wahnsinnig teuer. Und du isst natürlich mit der Familie. Du wirst jede Minute, die du nicht auf dem College bist, hier in der Redaktion verbringen. Nimm dir an meinem Sohn, diesem Tunichtgut, kein Beispiel. Er ist ein unverbesserlicher Herumtreiber. Arbeit, Arbeit, Arbeit – das ist es, was auf dich zukommt.« Er überlegte kurz, drehte ein Lineal in den Händen und nickte. »Ich werde dich Albert Sousi zuteilen, der hat von meinen Leuten den besten Stil und ist ein verdammter Leuteschinder.« Er drückte den Knopf der Sprechanlage und donnerte: »Sousi, du verdammter Totenschädel, komm mal zu mir!«

Durch die große Scheibe auf der Seite zur Redaktion konnte man sehen, wie alle von ihren Schreibtischen hochsahen.

»Hör zu, Marc, du siehst dort die verkommensten Menschen Frankreichs. Es sind alles Säufer und Hurenböcke, aber sie sind auch wundervolle Menschen und leidenschaftliche Journalisten. Du kannst viel von ihnen lernen, aber lerne nicht ihre Unarten. Halte dich vom Alkohol fern und lass dich nicht von ihnen animieren, zu den Huren zu gehen.«

Ein langes Klappergestell betrat das Chefbüro. Er mochte zwei Meter groß sein. Sein Gesicht war so ausgemergelt, als hätte er gerade die Cholera oder Typhus überstanden.

»Was schlägst du schon am frühen Morgen die Trommel? Hast du wieder mal beschissene Laune?«, knurrte er, warf sich auf die Chaiselongue, streckte die Beine aus und legte sie auf den Beistelltisch. Er holte eine Zigarette hervor, die hinter seinem Ohr eingeklemmt war und klopfte mit seinen nikotinverfärbten Fingern den schlecht sitzenden Anzug ab, fand schließlich ein Streichholzheftchen, zündete sich die Zigarette an und stieß eine große, fette Wolke gegen den Chefschreibtisch aus.

»Hör zu, du Totengerippe, das hier ist Marc Mahon. Er sieht aus wie ein verdammter Deutscher, ist aber Argentinier und schreibt ein Französisch, als wolle er Balzac Konkurrenz machen. Mein Freund Aranjaz vom Sierra de Córdoba hat ihn empfohlen. Und ich habe dem Jungen ein Stipendium besorgt. Er ist entweder ein Juwel oder der größte Bluff seit Napoleon III. Mach was aus dem Jungen. Er muss noch eine Menge lernen, aber Talent hat er. Deck ihn so mit Arbeit ein, dass er kein Herumtreiber wird.«

Sousi musterte mich über den Rand seiner Brille. »Aranjaz, he?«, stieß er hervor und hörte mit dem Anstarren immer noch nicht auf.

»Aranjaz, ja doch. Er war Kommandeur im spanischen Bürgerkrieg. Ein guter Kamerad, ein leidenschaftlicher Antifaschist.«

»Ja doch. Ich weiß, wer Aranjaz ist. Bin ihm selbst ein paarmal in Barcelona und Madrid begegnet. Ist geritzt! Ich werde dem Jungen die Hammelbeine langziehen.«

»Na, wunderbar. Wie schön doch, dass wir alten Spanienkämpfer immer noch zusammenhalten.«

»Mach nicht so ein Gewese! Ich werde den Jungen schon zurechtschleifen.«

Sein Blick sagte mir, dass ich mit ihm nicht viel Spaß haben würde.

»Dann zeig ihm mal seinen Arbeitsplatz. Ach, Marc, ich nehme dich heute Abend mit zu uns. Claire wird dir sagen, wenn es soweit ist.«

Sousi legte mir die Hand auf die Schulter und schob mich hinaus und durch das Vorzimmer in den Redaktionssaal zu seinem Arbeitsplatz. Sein Schreibtisch sah genauso schlimm aus wie der des Verlegers.

»Schreiben ist nur die halbe Miete. Du musst auch recherchieren können, dir eine vernünftige Basis verschaffen, sonst ist es entweder Literatur oder Blabla. Klemm dich mal dahinter, wer die Eigentümer der France Chemical sind. Die haben ihren Sitz in der Nähe von Arcis-sur-Aube. Sagt dir der Name etwas?«

Es ärgerte mich ein wenig, dass er mich wie einen dummen Jungen behandelte. Wenn er auch ein Spanienkämpfer war, ich hatte mit Hernández’ Tod auch etwas aufzuweisen, was nur wenige im Saal vorzeigen konnten. Es war vielleicht kein Ruhmesblatt, bewies aber, dass ich kein grüner Junge war.

Ich bezwang meinen Unmut und antwortete betont lässig: »Der Geburtsort von Danton, dem großen Revolutionär. Noch was?«

»Hm«, brummte er. »Wenigstens etwas. Ich gehe jetzt in die Kantine und du kümmerst dich um die Besitzverhältnisse. Ich bringe dir ein Baguette mit.«

Ich hatte schon kapiert, dass es mit dem Savoir-vivre einstweilen nicht so weit her war. Er trollte sich in seinem schlenkernden Gang aus dem Redaktionssaal. In seinem schlampigen, zerknitterten Anzug sah er wie eine wandelnde Vogelscheuche aus.

Ich saß ratlos an meinem Schreibtisch und bohrte Löcher in die Luft. Wie sollte ich die Besitzverhältnisse herausbekommen? Keine Ahnung. Larousses Sekretärin, die auch auf dem Weg zur Kantine war, sah mein bekümmertes Gesicht und kam zu mir.

»Was ist denn, Monsieur Mahon? Quält Sousi Sie bereits?«

Ich erklärte ihr meine Aufgabe. Sie lächelte ironisch.

»Typisch Albert. Warten Sie, ich kümmere mich darum.«

Sie ging in ihr Büro zurück und ich sah sie hinter der Scheibe eifrig telefonieren. Nach einer Weile kam sie zurück und legte mir einen Zettel auf den Schreibtisch. »Ich habe es aus dem Handelsregister. Man muss nicht alles wissen, aber man muss wissen, wer oder wo man etwas weiß.«

Sie zwinkerte mir zu und ging in ihr Büro zurück. War verdammt nett von ihr, auf ihre Mittagspause zu verzichten. Als Sousi zurückkam, reichte ich ihm den Zettel.

»Ha, das ist Claires Schrift!«, grummelte er.

»Richtig. Man muss nicht alles wissen, aber jemanden kennen, der es wissen könnte.«

»Guter Spruch«, stimmte er widerwillig zu und schickte mich ins Archiv, wo ich Artikel über den Chemieladen heraussuchen sollte.

Interessant war ein Artikel aus der Zeit der Okkupation durch die Deutschen. Es wurde gelobhudelt, dass France Chemical selbst in den schweren Zeiten zu den erfolgreichsten Unternehmen Europas gehören würde. Der Aufsichtsrat war auch mit einem Hermann Meier besetzt. Damit war klar, dass France Chemical mit den Deutschen zusammengearbeitet hatte. Ich brachte Sousi die Artikel und teilte ihm meine Vermutung mit.

»Das ist doch schon etwas. Daraus könnte man einen Artikel machen.«

Er schnaubte, griff in die Schreibtischschublade und holte eine Flasche Cognac heraus, schraubte sie auf, nahm einen kräftigen Schluck und legte sie ins Schubfach zurück.

»So, verdammt trockene Luft heute! Meinst du, diese Information reicht für einen Artikel aus? Ist das ein Grund, France Chemical ans Kreuz zu nageln? Nein, Junge. Wirklich wichtig ist, was aus dem Geist der Kollaboration geworden ist. Auslöser war die Information, dass sie den Boden um Arcis-sur-Aube verseuchen. Wir werden beweisen, dass sie noch genauso skrupellos sind wie damals. Das bedeutet, wir müssen mehr Fakten darüber haben. Jetzt schon losschreiben würde bei der Faktenlage einen Prozess bedeuten, den wir vielleicht verlieren könnten. Also heißt es, sich auf den Hosenboden zu setzen und weitere Informationen zu sammeln. Erst wenn wir mehrere Beispiele über ihre skrupellose Geschäftspolitik haben, ist die Geschichte rund. Morgen fahren wir nach Arcis-sur-Aube.«

»Ich muss mich morgen auf dem College melden.«

»Was meinst du, was mir das ausmacht? Auch übermorgen wird es das verdammte College noch geben. Du fährst mit mir. Nun quatsch nicht herum, sondern mach einen Termin mit den Herrschaften. Wehe, wenn du dich abwimmeln lässt!«

Gegen Abend hatte ich endlich einen Termin bei der Direktion von France Chemical. Ich musste bei denen eine Drohung ausstoßen, die man bei viel schlechtem Willen auch als Erpressung hätte bezeichnen können. Aber Sousi grunzte zufrieden. Er schien das für normal zu halten.

Claire holte mich schließlich ab und führte mich in die Tiefgarage zu einem Mercedes. Wir mussten warten, bis der Verleger eintraf.

»Warum ein deutsches Auto?«, fragte ich Claire.

»Weil sie die besten Autos bauen«, erklärte sie gelassen. »Wir Franzosen bauen die ungewöhnlichsten, die Italiener die schönsten und die Deutschen die zuverlässigsten. Sagt jedenfalls Monsieur Larousse«, fügte sie hinzu.

Der Verleger kam, schloss das Auto auf und winkte, dass wir einsteigen sollten. Vielleicht war es ja üblich, dass man die Sekretärin mit nach Hause nahm, weil man dort zu tun hatte. Ich war viel zu sehr beansprucht, die wundervolle Stadt auf mich wirken zu lassen, als weiter darüber nachzudenken.

Sein Haus war ein Palais im Stil des II. Empire und lag in einem Park, in dem Platanen und Tamarisken standen. Die Frau des Verlegers war eine Schönheit und mindestens dreißig Jahre jünger als er. Sie hatte sanfte Augen und ihr Lächeln erinnerte mich an die Marien des Leonardo.

»Mein Mann hat mir über den Schützling seines Freundes erzählt. Sie gehören jetzt zur Familie. Wir dürfen dich duzen?« Natürlich durften sie. »Sei herzlich willkommen. Unser Haus wird nun eine Zeitlang auch dein Zuhause sein. Claire, zeig Marc erstmal sein Zimmer, damit er den Koffer auspacken und sich frisch machen kann.«

Wir stiegen einige Treppen hoch. Es war keine Abstellkammer, wie ich erwartet hatte, sondern ein geräumiges, helles Zimmer, in dem ein Bücherschrank, Schreibtisch und Bett standen.

»Toilette und Dusche sind jedoch auf dem Flur«, sagte Claire verlegen. »Ich hoffe, es ist nicht schlimm für dich.«

»Aber nein. Es ist großartig. Da bin ich aus Córdoba Schlimmeres gewöhnt. Wir sind keine reichen Leute.«

»Das tut mir leid«, sagte sie. »Wenn du etwas brauchst, melde dich. Handtücher hat Monique in den Schrank dort gelegt. Komm in einer Viertelstunde in den Salon. Vater legt auf pünktliche Mahlzeiten wert, sonst wird er übellaunig.«

Nun begriff ich. Claire war nicht nur seine Sekretärin, sondern auch seine Tochter. Sie bemerkte mein Erstaunen.

»Wenn seine Sekretärin Urlaub hat, helfe ich im Verlag aus. Ich studiere Medizin.«

»Dann ist Madame Larousse …?«

»Monique ist meine Stiefmutter. Altersmäßig sind wir nicht weit auseinander.«

Nachdem sie gegangen war, packte ich meinen kleinen Koffer aus, legte die Hemden und Unterwäsche in den Schrank und stellte meine Bücher auf das Bord am Fenster. Faulkner, Fitzgerald, Hemingway und Steinbeck. Meine Schätze. Einen Anzug hatte ich leider nicht. Ich fand, dass meine Lederjacke ein Kleidungsstück für alle Gelegenheiten war. Ich wurde eines Besseren belehrt. Die Larousse saßen in großer Garderobe im Salon. Smoking, Abendkleidung und so etwas. Es sah aus, als würden sie nach dem Abendessen zum Ball gehen. Man tat, als würde man meine Kleidung nicht bemerken. Wir wurden von einer älteren Frau mit einer weißen Haube und Schürze bedient. Es gab vorneweg eine Entenleberpastete, danach Hühnchen Marengo, wie mich der Hausherr aufklärte, danach ein Sorbet. Dazu wurde Rotwein gereicht. Das war also ein Teil des Savoir-vivre. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so gut gegessen.

Den Sohn lernte ich nun auch kennen. Frank sah wie ein Model aus der Parfumreklame aus. Er war der bestaussehendste Mann, den ich jemals getroffen hatte. Ich fragte mich unwillkürlich, ob er schwul war. Nun ja, jeder nach seiner Fasson. Während des Essens wurde nicht viel gesprochen. Als die Mamsell begann, den Tisch abzuräumen, stellte ›Zeus‹, wie ich ihn insgeheim nannte, das Glas mit einer entschlossenen Bewegung auf den Tisch und sagte zu seiner Frau: »Nun ja, gehen Sie mit Marc mal zur Galerie Lafayette, damit er anständig angezogen ist.«

»Keine Sorge, Vater. Ich übernehme das«, meldete sich Frank eifrig.

»Ich gehe auch mit, damit es nicht zu extravagant ausfällt. Marc ist nicht der Typ für mondäne Kleidung«, meldete sich Claire.

Ich atmete erleichtert aus.

»Meinetwegen«, brummte Larousse. »Und? Wie hat mein Sohn heute den Tag verbracht?«

»Wie immer. Ich hatte heute viel Kundschaft.« Zu mir gewandt fügte er hinzu: »Ich habe ein Modegeschäft in der Rue St. Honoré. Beste Lage, doch nichts für Sie, Marc. Viel zu extravagant. Bei mir kaufen Diplomaten, Minister und reiche Touristen ein. Aber Vater hält meinen Beruf nicht für ehrliche Arbeit.«

»Jedenfalls ist es keine Arbeit für einen Larousse«, brummte sein Vater mit verächtlichem Blick.

So verlief der erste Tag im Haus des Verlegers und die weiteren Tage waren genauso angenehm. Ich lernte das Leben eines Großbourgeois kennen. Mir fehlte es an nichts. Aber Studium und Arbeit in Übereinstimmung zu bringen, war nicht immer einfach. Hinzu kam, dass mir die Frau des Hauses zu verstehen gab, dass sie mich mochte. Ich tat so, als wären ihre Avancen nur Ausdruck eines kameradschaftlichen Umgangs. Leichter fiel mir da schon der Umgang mit Claire, die mich mit ihrer Primaballerinafigur und ihren sanften Augen an eine damals bekannte Schauspielerin, Audrey Hepburn, erinnerte. Doch ich hatte viel zu viel Respekt vor der Familie, um bei ihr den ersten Schritt zu tun.

Eines Nachts kam sie in mein Zimmer geschlichen und legte sich zu mir. Und ich war Kavalier genug, um das zu tun, was sie in dieser Situation von mir erwartete. Sie war die zweite Frau, die mich zu den himmlischen Gefilden führte, wenn Sie wissen, was ich meine.

Nach einiger Zeit schienen alle zu wissen, was wir nachts miteinander trieben. Aber selbst Zeus schickte keine Blitze und ließ es auch nicht donnern. Alle gingen darüber hinweg, als sei dies ein Thema, das eines Gesprächs nicht würdig war. Mittlerweile hatte ich mir durch Fleiß und Cleverness die Anerkennung im Redaktionssaal verschafft. Selbst Sousi kam nicht umhin, seinen Kollegen zuzustimmen, dass ich ein guter Journalist werden würde.

»Lobt ihn bloß nicht zu sehr! Er hat noch Eierschalen hinter den Ohren«, wehrte er dennoch ab.

Monique, die Frau des Hauses, akzeptierte schließlich, dass zwischen Claire und mir etwas lief, was nicht gar so unschicklich war wie eine Liaison mit ihr. Doch manchmal, wenn ich allein mit ihr war, konnte sie sich Bemerkungen nicht verkneifen, dass die jungen Gänse das Fliegen erst lernen müssten, während erfahrene Frauen … Aber sie verhinderte nicht, dass Claire und ich unsere Erfahrungen selbst erarbeiteten. Wir liebten uns ohne Gewissensbisse, wobei immer offen blieb, wie das enden würde. Sie war ein guter Kamerad und das Körperliche kam dazu, enthielt aber weder für sie noch für mich eine Verpflichtung. Sie war mir Schwester und Geliebte zugleich. Ich war glücklich, wenn ich sie in den Armen hielt.

Wir machten viele ausgedehnte Spaziergänge an den Kais der Seine, sahen am Pont Alexandre auf das Wasser unter der Brücke und besuchten, wenn ich Zeit hatte, die Bistros auf Montparnasse und tanzten in den Jazzclubs von Saint Germain. Wir beobachteten im Café Flore Sartre, Beauvoir und Camus bei ihren Diskussionen und sie erklärte mir den Existenzialismus.

Als ich bei Shakespeare & Company einen Fotoband über Robert Capa fand, erinnerte ich mich meines Ursprungs, an die Tage im Fotolabor meines Vaters und ich begann wieder zu fotografieren. Claire schenkte mir zu Weihnachten eine Leica und sie wurde meine ständige Begleiterin.

Nach einiger Zeit überließ mir Sousi mehr und mehr die Arbeit. Oft war er zu betrunken, um schreiben zu können. In der ersten Zeit hatte er mich nur für die Recherche eingesetzt, doch jetzt schrieb ich auch unter seinem Namen die Artikel. Zeus wusste dies sehr wohl, aber er ließ es zu, denn er hing sehr an Sousi. Die alten Spanienkämpfer hielten zusammen. Als ich zu den Artikeln auch noch Fotos lieferte, die bei den Lesern großen Anklang fanden, deckten mich auch die anderen Redakteure mit Fotoaufträgen ein. Entsprechend groß war meine Beliebtheit.

Ich war mehr als ein Jahr im France Soir, als mich Zeus zu sich rief. Claire war nicht mehr in seinem Vorzimmer, sondern eine sehr schnippische Schönheit, die, wie ich vermutete, nicht nur wegen ihrer Qualitäten an der Schreibmaschine vom Patriarchen eingestellt worden war. Claire arbeitete bereits als Assistenzärztin in dem Krankenhaus gegenüber Notre Dame, das das älteste Krankenhaus in Europa war.

»Wir haben also ein Multitalent im Haus«, stellte Larousse ironisch lächelnd fest und lehnte sich in seinem Sessel weit zurück. Ich zuckte mit den Achseln.

»Was ist dagegen zu sagen?«

»Deine Fotos sind gut. Manche deiner Arbeiten erinnern mich an Doisneau. Chapeau, mein Junge! Aber du bist weder ein Robert Capa noch ein Doisneau. Hast du etwa vor, Fotograf zu werden?«

»Nein. Es ist nur ein Hobby. Und wenn es den Redakteuren gefällt, warum nicht? Mir macht es Spaß.«

»Gut. Aber Schreiben ist deine Berufung! Verliere dies nie aus den Augen. Es kommt mehr dabei heraus, wenn man aus einem Fenster in die Zukunft sieht«, zitierte er Fitzgerald.

Ich beruhigte ihn, dass ich mir dessen bewusst sei.

Als ich Claire von dem Gespräch erzählte, lachte sie hell.

»Kapierst du nicht? Du bist für ihn so eine Art Sohnersatz, weil Frank nicht seine Leidenschaft für den Journalismus teilt. Seit er weiß, dass Frank sich auf beiden Seiten des Ufers vergnügt, hat er ihn endgültig abgeschrieben. Natürlich liebt er Frank und würde alles für ihn tun, aber einen Modeverkäufer und Liebhaber des eigenen Geschlechts wird er niemals ernst nehmen, geschweige denn ihm seinen France Soir anvertrauen. Für ihn ist er ein Ladenschwengel, obwohl Franks Boutique, wie er sie nennt, eine Goldgrube ist. Frank hat ein gutes Händchen für Kunden. Er ist mit einigen Modeschöpfern befreundet und geht bei Dior ein und aus. Er wird in seiner eigenen Welt zurechtkommen. Er ist kein Versager, nur kein Journalist. Politik und Gesellschaftskritik sind ihm ein Gräuel. Er akzeptiert die Welt wie sie ist. Und schreiben tat er schon als Kind nicht gern.«

Ich absolvierte die Ecole als Jahrgangsbester. Unsere Zeitung erwähnte dies sogar und brachte ein Bild von mir. Ich wurde fest angestellt und bekam ein stattliches Gehalt und hätte nun bei den Larousse ausziehen können, aber dies hätte allen weh getan, also blieb ich. Doch es war der Patriarch selbst, der meine Zeit bei France Soir beendete.

»Wir müssen an deine Zukunft denken!«, verkündete er mir mit großem Ernst. »Unsere Zeitung ist gut, gewiss. Aber sie ist nicht die Times, Guardian, Frankfurter Allgemeine oder Washington Post. Times und Newsweek haben ja schon einige deiner Arbeiten übernommen. Du hast zweifellos das Zeug zu einem Starjournalisten. Du wirst schnellstens dein Englisch verbessern. Fremdsprachen fallen dir ja Gottseidank leicht. Mach dich als freier Journalist selbstständig. Am Anfang bekommst du genug Aufträge von France Soir, so dass du anständig leben kannst. Und ich werde dir bei den internationalen Zeitungen Tür und Tor öffnen. Außerdem will ich, dass du bei uns ausziehst und dir eine eigene Wohnung nimmst.«

»Warum?«, fragte ich betroffen. Ich hatte mich an das gut ausgepolsterte Nest gewöhnt – und außerdem war da noch Claire.

»Ich verstehe die jungen Leute nicht mehr«, kam er sofort auf den Punkt zu sprechen, der ihm am Herzen lag. »Claire und du, so dachte ich, lieben sich. Aber mit dem Heiraten scheint ihr beide es nicht so eilig zu haben.«

»Wir lieben uns, gewiss. Wir sind … zwei unabhängige Geister, die nicht den Trieb haben, sich besitzen zu wollen.«

»Das verstehe ich nicht. Gut, dann halte ich eine räumliche Trennung für umso wichtiger. Vielleicht vermisst dann einer den anderen und ihr findet es doch besser, als Ehepaar zusammenzuleben. Aber die Zigeunerei hört mir auf!«

Als ich Claire davon erzählte, lachte sie ihr helles, kieksen- des Lachen und schüttelte den Kopf.

»Der alte Gottvater kann es mit dem Manipulieren nicht lassen. Für ihn bin ich immer noch das kleine Mädchen und du bist sein Ersatzsohn. Er muss uns wegen des France Soir zusammenbacken. Er schickt dich nur in die Welt, damit du als noch besserer Journalist zu France Soir zurückkommst und ihn eines Tages übernehmen kannst. Dass ich eine gute Chirurgin geworden bin, interessiert ihn nicht. Dabei sollte er stolz auf mich sein. Frauen als Chirurg sind selten, aber in spätestens fünf Jahren werde ich Professor sein. Ich liebe dich, mein Marc, aber als Ehefrau und Mutter deiner Kinder stehe ich nicht zur Verfügung. Wenn du ehrlich bist, kannst du mit einer liebenden Frau, die auf dich wartet, auch nicht viel anfangen. Wir sind uns darin ähnlich und haben uns ja auch nichts vorgemacht.« Es war eine tiefe Freundschaft inklusive gelegentlicher Bettgymnastik.

So kam es, dass wir einander zum ersten Mal unsere Prioritäten ganz offen bekannten. Ich zog aus und nahm mir eine Wohnung an der Place de la Contrescarpe, gegenüber dem Haus, in dem einst Hemingway glücklich gewesen war. Wir trafen uns wenigstens einmal in der Woche und beteuerten einander, dass wir uns nach wie vor liebten. Aber dann fiel ein Treffen aus, weil sie einen Notfall hatte oder ich nach England oder Madrid musste, um für einen Artikel zu recherchieren. Fast unmerklich lockerte sich das Band zwischen uns. Es passierte also genau das Gegenteil von dem, was sich der Patriarch erhofft hatte.

Dann geschah das, woran ich nie einen Gedanken verschwendet hatte, obwohl ich doch wusste, dass sie in der gleichen Stadt lebte. Es war nach einem Besuch im Olympia, wo wir die göttliche Edith Piaf gehört hatten; ich und Frank, der Karten in der ersten Reihe von seinen Couturierfreunden bekommen hatte. Wir gingen danach ins Coupole. Claire hatte nicht mitkommen können, da eine Reihe von Verkehrsunfällen dafür gesorgt hatte, dass sie bis in die Nacht hinein operieren musste. Wir bestellten eines meiner Lieblingsgerichte, Coq au vin, und tranken dazu einen herrlichen Loirewein. Frank sprang, wie ich es von ihm kannte, immer wieder mal auf, um irgendwelche Prominente, Freunde oder Kollegen zu begrüßen. Wenn man mit ihm ausging, musste man akzeptieren, dass man nie ungestört war und er ständig herumsprang, um Small Talk zu machen. Ich hatte für solche Fälle immer ein Buch bei mir. An diesem Abend eine Kurzgeschichte von Fitzgerald, die Story ›Drei Stunden zwischen zwei Flügen‹, die von einem Missverständnis und der Sehnsucht nach der Jugend handelte. Ich war so vertieft, dass ich nicht darauf achtete, was um mich herum geschah. Jemand räusperte sich und schlug mir auf die Schulter. Frank grinste mich fröhlich an.

»Darf ich dir meine Boutiquenachbarin vorstellen? Auch sie besitzt einen der angesehensten Läden auf der Rue St. Honoré.«

Die Frau und ich sahen uns fassungslos an. Esmeralda de Cagnetas wurde weiß wie eine Wand. »Marc? Du bist in Paris?«

Frank ließ es sich nicht nehmen, mich ganz formell vorzustellen, was nach Esmeraldas Frage eigentlich überflüssig war.

»Du hast sicher von ihm gehört, liebe Esmeralda. Marc ist einer der berühmtesten Journalisten von Paris.«

»Wir kennen uns«, sagte ich trocken.

Esmeralda sank auf den Stuhl neben mir. Sie war zu einem Vollblutweib erblüht. Sie hatte an Gewicht zugelegt, aber das stand ihr gut. Ihre rote, bis auf die Schultern fallende Mähne machte sie zu einem exotischen Anblick und sicherte ihr die Beachtung aller Männer im Saal.

»Ihr kennt euch also?«, begriff Frank nun.

»Wir stammen beide aus Córdoba«, erläuterte ich.

»Ach nein! Welch schöne Überraschung«, freute sich Frank und klatschte in die Hände. »Ihr habt euch sicher viel zu erzählen. Ich lasse euch eine Weile allein. Dort hinten sehe ich gerade Karl, ein alter Freund von Chanel. Tauscht hübsch Erinnerungen aus. Lasst euch Zeit.«

Er eilte händeringend davon. Esmeralda hatte sich mittlerweile gefangen und musterte mich interessiert.

»Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass wir einander jemals wieder begegnen«, gestand sie.

»Kann ich mir denken, nach der Abfuhr, die ihr Cagnetas mir habt angedeihen lassen«, erwiderte ich lachend.

»Das waren meine Eltern.«

»Ach, Esmeralda, du schwindelst immer noch, selbst in hoffnungslosen Fällen. Du hast mich doch auf dem Bahnhof gesehen und ich Idiot bin schreiend neben deinem Zug hergelaufen. Du hattest unserer Liebe keine Chance geben wollen.«

»Ich war jung und dumm und stand unter Schock. Du weißt doch, was mir die Männer damals angetan haben.« Sie griff nach meiner Hand und drückte sie. So hatte es schon einmal angefangen. Aber diesmal löste es keine Gefühle bei mir aus.

»Frank sagte, dass du ein berühmter Journalist bist. Stimmt das?«

»Ach, Frank übertreibt. Ich bin sicher in Fachkreisen nicht unbekannt.«

»Bist du mit Frank …?«

»Nein. Er ist mir wie ein kleiner Bruder, obwohl er älter ist.«

»Dann bin ich beruhigt«, erwiderte sie kichernd.

Der Garçon kam und ich bestellte einen Whisky, den ich nach der Überraschung nötig hatte. Sie bestellte einen Martell Cordon bleu. Auch sie schien ein hartes Getränk nötig zu haben.

»Ich habe dich nie vergessen. Du warst schließlich meine erste große Liebe.«

Da hatte ich mittlerweile meine Zweifel. Aber ich widersprach ihr nicht.

»Du musst das verstehen. Ich war damals nicht so recht bei Sinnen. Meine Eltern verlangten, dass ich Córdoba verlasse, bis Gras über die Geschichte gewachsen ist. Sie haben mich gewaltig unter Druck gesetzt. Du ahnst ja nicht, was ich damals aushalten musste. Dieser Hernández war ein gemeiner Verbrecher.«

»Mach dir über den keine Gedanken. Er hat gezahlt.«

Sie riss die Augen auf. »Was ist mit ihm? Hat die Polizei …? Mein Gott, dann ist herausgekommen, was er mir antat?«

»Nein! Er ist tot.«

Ihr Atem ging schneller.

»Du hast ihn ge…? Du hast ihn für mich …?«

Sie konnte das Wort »getötet« oder »ermordet« oder was sie sonst so dachte nicht über die Lippen bringen.

»Verliere keinen Gedanken an ihn. Juan Hernández ist es nicht wert, dass man sich mit ihm beschäftigt.«

Sie schwieg eine Weile.

»Du hast aus deinem Leben etwas gemacht?«, sagte sie schließlich.

»Ich bin noch dabei.«

»Vielleicht können wir uns … wir haben uns doch einmal geliebt … wieder näher kommen?«

»Nein, Esmeralda. Das können wir nicht.«

Sie wurde rot und atmete schwer aus.

»In einem hast du dich nicht verändert! Deine Manieren sind immer noch schlecht.«

Ich fühlte nicht einmal Genugtuung.

»Ich hasse dich, Marc Mahon!«, fauchte sie und stürmte durch die Tischreihen zu ihrem Platz zurück, wo zwei seriös aussehende ältere Herren sie erwarteten.

Welche Dummheiten macht man in seiner Jugend. Ich hatte diese Frau einmal abgöttisch geliebt und mich wegen ihr lächerlich gemacht. Frank kam mit einem erstaunten Gesicht zurück.

»Was war denn bei euch los? Esmeralda macht ein Gesicht wie eine Gewitterfront.«

»Wir haben feststellen müssen, dass unsere Zeit in Córdoba ein Missverständnis war.«

»So ein Pech! Sie hätte dich protegieren können. Sie ist eine hervorragende Geschäftsfrau und kennt alle wichtigen Männer von Paris.«

Ich glaubte ihm dies aufs Wort.

Che. Der Traum des Guerillero

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