Читать книгу Che. Der Traum des Guerillero - Heinz-Joachim Simon - Страница 9

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Doch jung zu sein, das war der Himmel selbst

Es begann an einem heißen Sommertag. Auf dem Rugbyfeld des Lyzeums Funes in Córdoba lernte ich Ernesto Guevara de la Serna kennen. Er war ein schmächtiger junger Mann und durch seinen Körperbau eigentlich nicht für Rugby geeignet. Doch er warf sich mit dem Mut eines Löwen in das Kampfgetümmel und steckte dabei einiges ein, was ihn aber nicht davon abhielt, sich den Ball zu erkämpfen und auf das gegnerische Tor zuzulaufen. Plötzlich knickte er ein, verlor dabei den Ball und rannte an den Spielfeldrand, ließ sich ein Atemgerät geben und inhalierte zitternd mit tiefen Zügen. Die Spieler seiner Mannschaft machten deswegen kein großes Aufheben. Sie schienen dies von ihm gewohnt zu sein.

»Was hat er nur?«, fragte ich Tomaso, mit dem ich befreundet war und der mich dazu eingeladen hatte, mir das Rugbyspiel gegen das vornehme Gymnasium Moserrate anzusehen.

»Er hat einen Asthmaanfall.«

»Dann sucht er sich ausgerechnet Rugby als Sport aus?«

»So ist Ernesto nun einmal! Er will stets das Unmögliche und meistens schafft er es sogar. Er sagt immer, dass alles eine Willenssache sei.«

Ich war von dem jungen Mann sofort fasziniert. Er lief wieder aufs Spielfeld und warf sich ins Getümmel, als ginge es um sein Leben. So jemanden wollte ich zum Freund haben, nahm ich mir vor.

»Erzähl mir von ihm«, bat ich Tomaso.

»Die Familie ist ziemlich vornehm. Einst war sie bedeutend. Generäle und Vizekönige gehören zu ihren Vorfahren. Ernestos Vater ist jedoch ein Lebemann und Frauenheld. Seine Mutter hält die Familie zusammen. Sie sind deswegen arm, weil sein Vater mit seinen Unternehmungen ständig pleitegeht. Aber die Mutter hat etwas von einer Fürstin und Kinder lieben sie, weil sie wundervolle Geschichten zu erzählen weiß. Doch im Haus sieht es stets aus, als wäre der Krieg ausgebrochen. Ein unvorstellbares Chaos. Ernestito ist ihr Liebling, vielleicht weil er asthmakrank ist. Da er ziemlich verhätschelt wurde, ist er auch sehr faul. Doch irgendwie schaffte er es bisher immer, versetzt zu werden. Er ist meistens viel zu beschäftigt zum Lernen.«

»Was hat er denn so viel zu tun?«

»Ich kenne niemanden, der so viel liest wie er. Außerdem bessert er mit seinen Nebentätigkeiten die Kasse der Familie auf. Er ist ein sehr beliebter Caddy im Golfclub. Wegen seiner Liebenswürdigkeit bekommt er das meiste Trinkgeld aller Caddys, die darüber natürlich nicht sehr erfreut sind.«

Nach dem Spiel kam Ernesto zu uns. Tomaso und Ernesto begrüßten sich, indem sie die Fäuste gegeneinander schlugen.

»Was läuft?«, fragte Ernesto keuchend. Er schien immer noch unter dem Anfall zu leiden. Tomaso stellte mich vor und Ernesto musterte mich mit einem durchdringenden Blick.

»Von deiner Figur her wärst du ein guter Quarterback.«

»Mich interessiert Rugby nicht.«

»Treibst du keinen Sport?«

An seinem Ton war zu erkennen, dass mich das in seinen Augen zu keiner lohnenswerten Bekanntschaft machte.

»Oh doch. Ich bin ein passabler Tausendmeterläufer. Außerdem bin ich im Jiu Jitsu Club. Ich trainiere für den Schwarzen Gürtel.«

Ich merkte, dass ihm das mit dem Jiu Jitsu gefiel.

»Welche Schule besuchst du?«

Ich sagte es ihm. Er war in derselben Schule, aber in einer Parallelklasse. Wir waren erst vor Kurzem aus Frankreich nach Argentinien emigriert.

»Mein Vater will sich hier eine Existenz aufbauen. Er plant nebst Studio ein Geschäft für Fotoapparate und Zubehör zu eröffnen.«

»Ihr seid Juden?«

»Das sind wir, obwohl ich das erst weiß, seit wir aus Deutschland nach Frankreich fliehen mussten. Und als die Deutschen nach Frankreich kamen, ging es weiter nach Portugal. Wir sind ganz schön herumgekommen. Jetzt wollen wir Argentinier werden.«

»Kann mich dein Vater unterrichten, wie man gute Fotos macht?«

»Könnte er, aber er hat viel um die Ohren. Ich werde dir das zeigen. Wir hatten in Berlin eine Fotoagentur in der Friedrichstraße. Ich habe den besten Fotografen Deutschlands über die Schulter gesehen.«

»Na prima. Brauchst du Arbeit?«

»Könnte ich gebrauchen, wenn es neben der Schule abläuft.«

»Klar doch. Ich kann dich als Caddy im Golfclub empfehlen. Außerdem kannst du mitkommen, wenn ich im Herbst bei der Weinernte helfe. Es gibt nicht viel Geld, aber Kleinvieh macht auch Mist.«

»Abgemacht«, sagte ich. Nicht nur, weil ich das Geld brauchte, sondern weil ich ihn mir gut als Freund vorstellen konnte.

»Liest du gern?«

»Klar doch. Wassermann, Zweig, Heinrich Mann, aber auch die amerikanischen Autoren Jack London, Sinclair Lewis, John Steinbeck, Hemingway und Fitzgerald«, rasselte ich herunter, obwohl ich die amerikanischen Autoren erst hier in Córdoba kennengelernt hatte.

»Dann werden wir gute Freunde sein. Ich lese auch sehr gern. Wir können uns über die Bücher austauschen, die wir gerade gelesen haben.«

Sein Atem hatte sich beruhigt. Mir gefiel die Art, wie er mir die Freundschaft antrug und gleichzeitig darauf verwies, auf welcher Basis diese stehen würde.

»Ich werde dich Kochba nennen, nach dem jüdischen Freiheitshelden Bar Kochba.«

»Soll mir recht sein«, erwiderte ich lachend und schlug in die mir entgegengehaltene Hand ein. So begann meine Freundschaft mit Ernesto Guevara de la Serna.

Am nächsten Tag trafen wir uns im Golfclub. Als ich die Terrasse betrat, kam er mir entgegen.

»Alles geregelt!«, verkündete er. »Ich zeige dir nachher, worauf es ankommt. Du übernimmst morgen die Schicht von sieben bis neun Uhr. Es ist eine gute Schicht, da viele Geschäftsleute erst spät zum Golfen kommen, und die werfen ein gutes Trinkgeld ab, wenn man ihnen beim Siegen hilft. Du verstehst? Ich zeige dir nachher, wie es gemacht wird.«

Ein junges Mädchen saß auf der Terrasse und sah sehnsuchtsvoll zu uns herüber. Es war mir klar, dass ihr Blick nicht mir galt.

»Ein schönes Mädchen«, sagte ich beeindruckt.

»Chichina. Tut mir leid, sie ist vergeben. Ich werde sie vielleicht heiraten«, sagte er bestimmt.

»Schade, dass ich zu spät gekommen bin.«

Er lachte. »Ich werde aufpassen, dass du es nicht doch versuchst. Ihr Deutschen gebt ja nicht so schnell auf.«

»Das will ich nicht mehr sein. Die Deutschen haben Millionen von uns umgebracht.«

»Hast du Goethe auf Deutsch gelesen?«

»Klar doch! Wer reitet so spät durch Nacht und Wind … So etwas und auch noch anderes. Werther und ein bisschen Faust.«

»Du wirst es mir mal auf Deutsch vortragen. Ich meine den Faust

Wir trafen uns jeden Tag nach der Schule. Da ich in der Parallelklasse war, stimmten unsere Stundenpläne nicht immer überein, so dass wir manchmal aufeinander warten mussten, was nicht schlimm war, denn wir konnten die Zeit mit Lesen überbrücken. Unser Treffpunkt war der Parque Las Heras am Río Suquia.

Córdoba ist die Stadt der Glocken und eine der schönsten Städte Argentiniens, mit vielen Kirchen aus dem 18. Jahrhundert und reichen Bürgerhäusern aus der Kolonialzeit. An der Plaza San Martín, dem Mittelpunkt der Stadt, konnte man die Iglesia Catedral bewundern und die ›Manzana‹ der Jesuiten. Sie kündete davon, wer einst der Stadt seinen Stempel aufgedrückt hatte. Mit der Compañía de Jesús besaß Córdoba die älteste Kirche Argentiniens. Es war ein Glücksfall, dass wir in Córdoba eine zweite Heimat fanden, denn die Córdobaner waren freundliche Menschen mit einem offenen Charakter, ohne Scheu vor Fremden. Um Córdoba herum wurde viel Landwirtschaft betrieben. Es war gutes Land, das im Osten in die Pampa überging und nach Westen in die Sierra de Córdoba, einem rotsteinigen Bergmassiv.

Neben Tomaso war auch oft Chichina dabei, wenn wir uns am Río Suquia trafen. Ihre sanft blickenden Augen rühmte Che in zärtlichen Versen. Die beiden liebten sich sehr und hatten auch vor mir keine Hemmungen, ihre Zuneigung zu zeigen, natürlich im Rahmen der Schicklichkeit. Ich glaube nicht, dass sie jemals miteinander geschlafen haben. Sie passten eigentlich nicht zueinander und vielleicht war ihnen dies bewusst und sie ließen es deswegen nicht zum Äußersten kommen. Damals dachte man so. Es war das letzte, was man einander geben konnte und dies kam erst infrage, wenn man vor dem Traualtar »Ja« gesagt hatte. Chichina in ihrem blauen Kleidchen mit dem weißen Kragen sah man die Tochter aus gutem Hause an, während Ernesto immer wie ein Tramp aussah, seine Kleidung war verwahrlost, sein Haar zu lang und sein Hemd wechselte er auch nicht sehr oft. Er revoltierte, ohne dass es ihm bewusst war, geschweige denn, dass er damals bereits die Welt verbessern wollte. Das alles war damals noch verpuppt. Chichina stammte aus einer reichen Familie, die jeder in Córdoba kannte und achtete. Ich wunderte mich, dass die Familie Ernesto als Freund der Tochter tolerierte, obwohl sich dieser, wie Chichina mir gegenüber beklagte, sehr herausfordernd benahm. War es bereits der Instinkt, der später zu einem Hass gegen die Reichen auswuchs? Wenn jemand reich ist, so bedenke, dass er es vielen Armen weggenommen hat, sagte er schon damals. Dies entsprang noch nicht einer politischen Überzeugung, sondern seinem Gerechtigkeitssinn.

Wie oft lagen wir am Ufer des Río Suquia und lasen uns gegenseitig aus unseren Lieblingsbüchern vor. Besonders Jack London hatte es ihm angetan, der ein Tramp, Abenteurer, Sozialist und Dichter war. Che nannte es später einmal unsere Zeit der Kirschblüte, womit er die Zartheit der Gefühle und unsere Unschuld zum Ausdruck bringen wollte.

Dann brachte Chichina eines Tages ihre Freundin mit, eine rothaarige Schönheit mit dem schönen Namen Esmeralda de Cagnetas, deren Vater ein großer Estanciero war, der es jedoch vorzog in Córdoba statt in der Pampa zu leben. Sie gehörte also zur guten Gesellschaft von Córdoba. Chichina hatte mir wohl einen Gefallen tun wollen, denn oft genug fühlte ich mich wie das dritte oder fünfte Rad am Wagen. Vielleicht hatte sie auch Mitleid mit mir, denn in ihrer weiblichen Klugheit fühlte sie, dass ich mich nach einer Liebe wie zwischen Che und ihr sehnte. Esmeralda behandelte mich, nachdem sie erfahren hatte, dass ich ein armer Flüchtling war, wie einen Stiefelputzer auf der Plaza San Martín.

Wir redeten auch oft über unsere Zukunft, Chichina, Che, Tomaso, Esmeralda und ich. Ernesto wusste noch nicht so recht, welche Laufbahn er einschlagen wollte. Er schwankte zwischen einem Ingenieurstudium und dem Arztberuf. Es war wohl seine Krankheit, die ihn dazu brachte, die medizinische Forschung in Betracht zu ziehen.

»Ich möchte so etwas wie das Penicillin erfinden.«

Typisch für ihn, sich ein so hohes Ziel zu stecken. Chichina sprach davon, Architektur zu studieren. Esmeralda träumte davon, ein Modestudio in Buenos Aires zu eröffnen, wo sie den argentinischen Frauen Pariser Chic nahebringen wollte. Tomaso hatte dagegen bodenständigere Träume. Er wollte Gaucho werden und Rinder treiben und mit dem Wind reiten, wie es die Gauchos nannten, die wochenlang in der Pampa auf sich alleingestellt waren. Mir war klar, dass ich irgendetwas mit Schreiben machen wollte, was darauf hinauslief, dass ich mich als berühmten Journalisten bei Paris Match und Times vorstellte. Natürlich war dies alles noch sehr unausgegoren. Aber wir waren uns alle darin einig, dass wir nicht so werden wollten wie die Eltern. Mehr oder weniger ausgeprägt, hatten wir einen Widerwillen gegen ihr geregeltes Leben, gegen die Heuchelei, die Falschheit hinter der Fassade. Wir wussten, dass die meisten Ehen kaputt waren, dass die Männer, wie Ernestos Vater, herumhurten und die Frauen ihre tristen Nachmittage damit verbrachten, sich mit Klatsch und Alkohol zu betäuben. An den Sonntagen ging man elegant herausgeputzt in die Kirche und verabredete sich danach zu Grillpartys. Wir waren also dagegen, aber dies war völlig unpolitisch und nur Che hatte von Karl Marx gehört, was aber bei ihm noch kein »Heureka« ausgelöst hatte.

»Ich beneide dich um deine Bestimmtheit«, sagte Ernesto einmal zu mir. »Du hast bereits einen Kompass im Kopf. Ich habe nur den Durst nach fremden Ländern. Bevor ich mich entscheide, werde ich eine Reise durch Südamerika machen. Ich will die Wurzeln unseres Kontinents kennenlernen und die indianische Kultur studieren.«

»Du wirst in den fremden Ländern nur dich selbst treffen«, wandte Chichina ein. Dies sagte sie wohl aus der Ahnung heraus, dass sie ihn dann verlieren würde, aber vielleicht wusste sie auch, dass sich dieser Durst nicht löschen ließ und die Frage enthielt: Warum bin ich da? Ich erinnere mich an seine Betroffenheit, als Chichina dies aussprach.

»Sind wir nur dazu da, um Geld zu verdienen und es für nutzlose Dinge auszugeben? Das kann es nicht sein!«, entfuhr es Ernesto trotzig. »Jeder Mensch ist dazu da, die Welt ein bisschen besser zu machen.«

Ein Satz wie ein Lebensprogramm. Es hätte ganz gut in eine Regierungserklärung gepasst. Von mir hätten sich solche Worte lächerlich angehört, aber bei ihm hatte es einen homerischen Ton. »Voranzustreben den anderen«, so etwas in der Art.

In solchen Sphären lebten wir am Ufer des Río Suquia. Doch meine Wirklichkeit hatte auch noch eine Kehrseite.

Meine Familie und damit auch ich hatten genug damit zu tun, einigermaßen über die Runden zu kommen. Unser Fotogeschäft warf wenig ab und auch Vaters Hochzeits- und Kindstaufenfotos sicherten gerade so das Existenzminimum, so dass er abends in der Derbybar Klavier spielte. Und wenn die Nazis dort waren, begleitete er ihr Gegröle mit zusammengebissenen Zähnen. Meine Mutter, die aus einer Beamtenfamilie stammte und wohlbehütet aufgewachsen war, half unser Einkommen dadurch aufzubessern, dass sie als Änderungsschneiderin arbeitete. Ich steuerte mein kleines Scherflein bei, indem ich mit Ernesto bei der Weinernte half und mein Trinkgeld als Caddy ablieferte. Ich wusste, dass mein Vater Geld sparte, um mir ein Studium zu ermöglichen. Das war es, was ihn durchhalten ließ. Ich sollte es einmal besser haben als er und ein wohlhabender Bourgeois werden, mit vielen Kindern und mit einem angesehenen Beamtenposten. Meine sportlichen Aktivitäten, mich in asiatischen Kampfsportarten zu schulen, betrachtete er mit Misstrauen. Da ich aber einige Artikel über Córdobas große Zeit bei den Zeitungen unterbringen konnte, auch über ›Martín Fierro‹ von José Hernández und sogar über Güemes, den Helden der Pampa, die mir viel Lob einbrachten, kritisierte er mich nicht sehr.

»Warum nicht«, sagte er schließlich. »Du könntest an der Universität Professor für Geschichte werden.«

Er hielt viel von staatlich abgesicherten Berufen. Als der Güemes-Artikel erschien, war ich ein paar Tage lang so etwas wie berühmt. Meine Lehrer sprachen darüber und, wie mir Chichina verriet, sprach man sogar in den Clubs von dem deutschen Bengel, der das Zeug habe, ein zweiter Dumas zu werden, was mich mit stolzer Brust durch Córdoba laufen ließ. Leider währte der Ruhm nicht lange. Das schönste Lob bekam ich von Ernesto:

»Wenn die ganze Schreiberei einen Sinn haben soll, dann um sich für die Schwachen dieser Welt einzusetzen. Du hast das Talent dazu. Werde ein Emile Zola!«

Selbst Esmeralda beeindruckte mein kurzfristiger Ruhm und sie behandelte mich fortan weniger kühl. Ich registrierte jedes Lächeln, jedes zustimmende Wort von ihr. Und wenn sie mir mal ihre schöne Hand auf den Arm legte und mich mit ihren grünen Augen ansah, lief mir ein Schauer über den Rücken. Es gab keinen Zweifel. Ich hatte mich in die rothaarige Hexe verliebt. Sie war meine erste Liebe und wegen ihr kam es zu jenem Zwischenfall, der mich und Ernesto noch enger zusammenschweißen sollte.

In meiner Klasse gab es einen Felix Hernández, dessen Vater, wie wir wussten, in Deutschland als Hermann Kübler einen hohen Rang als SS-Offizier bekleidet hatte. Hier in Córdoba zeichnete er sich nur dadurch aus, dass er eine Autowerkstatt besaß und der Vorsitzende des Germania-Clubs war. Sein Sohn war drei Jahre älter als wir. Er hatte mehrmals eine Klasse wiederholen müssen und das nicht, weil er dumm war, sondern wegen seiner Faulheit und geringen Aufsicht durch die Eltern und weil er lieber mit seinen älteren Brüdern auf selbst zusammengebastelten Motorrädern die Gegend unsicher machte. Es war noch vor der Zeit, als Marlon Brando den Wilden spielte. Eines Tages war er auf mich zugekommen und hatte mir einen Boxhieb in die Seite gegeben.

»Ich habe gehört, du bist ein Saujud. Wie zum Teufel bist du Bazille den Gaskammern entkommen?«

Mein Vater hatte mir eingebläut, mir nichts gefallen zu lassen. Niemals.

»Wir hätten damals in Deutschland den Nazis rechtzeitig Paroli bieten sollen. Nie wieder lassen wir uns etwas gefallen, von wem auch immer.«

Das brauchte ich mir aber nicht in Erinnerung zu rufen, denn ich hatte genug Bücher gelesen, die mich aufforderten, kein Unrecht einfach hinzunehmen. D’Artagnan hätte aus geringerem Anlass seinen Degen gezogen. Ich nahm seinen Arm und sorgte dafür, dass er einen Überschlag machte und plumpsend zu Boden fiel. Er glotzte mich wie ein angestochener Stier an.

»Was war denn das für ein jüdischer Trick?«, keuchte er und stürmte auf mich zu. Ich wich aus, stellte ihm ein Bein und verabreichte ihm einen Schlag in den Nacken und schon wieder lag er keuchend am Boden. Ich stellte ein Bein auf seinen Brustkorb und gab ihm eine deftige Warnung mit auf den Weg:

»Du arisches Arschloch! Begreifst du nicht, dass du eine Flasche bist? Wenn du es erneut versuchen willst, kann ich dir sehr, sehr wehtun.«

Er begriff dies vorerst, aber nachhaltige Lehren zog er nur scheinbar daraus. Von da an zeigten mir seine wütenden Blicke, wie sehr er mich hasste. Es beeindruckte mich erstmal nicht.

An einem Abend, ich begleitete Esmeraldas Vater beim Golfspiel, kam es zum zweiten Zusammenstoß. Der große Estanciero nannte mich seinen Glückscaddy. Er war ein miserabler Spieler. Ich sorgte dafür, dass er besser aussah als er war, indem ich einige Golfbälle aus der Tasche zog und entsprechend gut platzierte. Nach jedem Spiel sammelte ich seine verschossenen Bälle ein, so dass niemals auffiel, dass nur meine Schummelei es ihm ermöglichte, die Platzreife zu erreichen. Ich bekam von ihm dafür ein Trinkgeld, das ich sonst in der gesamten Woche nicht bekam. Als ich diesmal auf die Terrasse zurückkam, warteten meine Freunde. Esmeraldas Vater rief seiner Tochter zu, dass er ein gutes Spiel gemacht habe. Seine Mitspieler dagegen machten missmutige Gesichter. Sein Glück und Können rühmend ging er mit ihnen an die Bar, um mit ein paar Tequilarunden ihre schlechte Laune aufzubessern. Ich setzte mich neben Esmeralda und drückte ihre Hand.

»Ei, was hast du für einen durchtriebenen Charakter«, sagte Ernesto lächelnd.

»Du hast Vater wieder zu Glücksmomenten verholfen«, kommentierte Esmeralda nachsichtig. Sie wusste, wie schlecht ihr Vater spielte und ahnte, dass ich gehörig nachhalf, um ihn gut aussehen zu lassen.

»Kochba ist ein Robin Hood, der von den Reichen nimmt«, verteidigte mich Ernesto grinsend.

»Recht geschieht es Vater. Er fällt auf seine eigene Eitelkeit herein«, sprach mich meine Angebetete frei.

»Unerhört!«, rief jemand. »In Deutschland hätte man einen Juden nie in einen Club gelassen.«

Ich erkannte die Stimme. Hernández saß mit einigen Freunden an einem Tisch vor dem Eingang zur Bar. Dass ich mit Esmeralda Händchen hielt, gefiel ihm gar nicht, denn er hatte auch einen Blick auf sie geworfen. Ernesto stand auf und ging zu seinem Tisch.

»Du bist ein stinkendes Aas!«, sagte er und klebte ihm eine.

Hernández sprang auf und wollte sich auf Ernesto stürzen. Ich eilte zu den beiden Kontrahenten und stellte mich vor meinem Freund in Positur. Hernández’ Freunde waren in der Überzahl und deswegen so recht in der Stimmung, bei dieser Auseinandersetzung mitzumischen. Der Steward, der dies beobachtet hatte, kam herausgeeilt.

»Keine Schlägerei im Club! Hier benimmt man sich zivilisiert. Wenn ihr euch prügeln wollt, dann tut das außerhalb des Clubgeländes.«

Hernández, der sich vor Esmeralda nicht gedemütigt sehen wollte, schlug nach Ernesto, der dem Schlag auswich. Ich hatte gerade eine neue Sportart gelernt, die sich Karate nannte und probierte dies mit einem Handkantenschlag aus. Hernández ging gurgelnd zu Boden. Nun wollten seine Freunde für ihn aktiv werden. Mein nächster Schlag legte den zweiten Nazijüngling neben Hernández. Der Steward stellte sich vor die beiden anderen.

»Los, verlasst sofort das Gelände! Ihr habt zwei Wochen Hausverbot.«

Hernández und sein Freund rappelten sich auf.

»Und die da? Was ist mit denen?«, stotterte er giftig.

»Ihr habt angefangen!«, wehrte der Steward ab. »Außerdem gehören Ernesto und Marc zum Personal. Nun verschwindet!«

»Das zahlen wir euch beiden heim!«, zischte Hernández. »Wir machen Seife aus euch!«

Aber der durchdringende Blick des Stewards zwang sie zum Rückzug. Sie zahlten ihre Zeche und verließen unter Drohungen die Terrasse. Esmeralda war von meiner Vorstellung, wie ich an ihrem bewundernden Blick erkannte, sehr angetan. So hatte sie mich jedenfalls noch nie gesehen.

»Was war denn das?«, fragte Ernesto, als wir wieder bei den Mädchen saßen.

»Was meinst du?«

»Mit einem Schlag jemanden zu Boden schicken.«

»Ach, das ist eine Kampftechnik aus Japan«, antwortete ich gelassen. »Sehr effektiv, wenn man sie beherrscht.«

»Du bist ein Krieger!«

»Na ja. Übrigens, danke!«

»Wofür?«

»Du weißt schon.«

»Compañeros müssen sich beistehen«, erwiderte er dazu lapidar.

»Wärst du auch mit allen vieren klargekommen?«, fragte Esmeralda. Ihre Stimme bebte.

»Schon möglich«, erwiderte ich, um ihre Begeisterung anzuheizen.

Ich schlug also ganz schön die Trommel. Aber so hatte sie mich noch nie angesehen und ich glaubte, sie endlich erobert zu haben. Ernesto grinste unverschämt. Als er und Chichina sich daraufhin schnell verabschiedeten, wusste ich, dass er mir die Möglichkeit eröffnen wollte, die Begeisterung Esmeraldas zu nutzen. Wir verstanden uns ohne viele Worte. In der Zeit sagte bereits Celia, Ernestos Mutter, dass wir wie Castor und Pollux wären. Mir was dies peinlich. Ernesto warf mir dann eine Kusshand zu, womit er seine Mutter jedoch nur auf den Arm nehmen wollte. Ich war fast jeden Abend bei den Lynchs, wie Ernestos Vater mit dem zweiten Nachnamen hieß. Ich mochte den chaotischen Haushalt, wo überall Wäsche herumlag, Pullover, auch Bücher und Zeitschriften und oft stand das ungewaschene Geschirr des ganzen Tages gestapelt in der Küche. Sie fütterten mich durch und Celia war für mich wie eine zweite Mutter. Sie war sehr gebildet und brachte mir Whitman nahe, Proust, Pound und Fitzgerald. Ich liebte sie fast genauso wie Ernesto, und ich bestätigte ihm gern, dass es wohl in ganz Argentinien keine Frau wie sie gab.

»Ich glaube, ich habe dich verkannt«, gestand Esmeralda an jenem Abend und griff über dem Tisch nach meiner Hand und drückte sie. »Lass uns Freunde sein.«

»Ich hoffe nicht nur das!«, gab ich mit trockenem Mund zurück und strich über ihren Handrücken.

»Wir werden sehen«, sagte sie.

Das war schon mal keine Absage und ich hoffte auf mehr. Ich begleitete sie nach Haus und auf dem Weg dorthin, unter den Kolonnaden der Plaza San Martín, küsste ich sie. Erst ganz zart, aber sie lehrte mich den Zungenkuss und ich bekam Gefühle, wie ich sie vorher noch nicht gekannt hatte und wurde mutiger, griff an ihren Busen. Sie wehrte mich nicht ab, sondern drängte sich mir entgegen und ihr Schoß drückte gegen meine Leibesmitte und sie rieb sich an mir. Als ich ihre Bluse aufknöpfte und ihre nackte Haut spürte, wurde ich noch kühner und streichelte ihre Brüste. Plötzlich löste sie sich von mir.

»Damit wollen wir es für heute belassen«, sagte sie plötzlich sehr kühl.

Ich war zu schüchtern, zu unerfahren, um dagegen zu protestieren. Hatte sie mir doch bereits mehr gewährt, als ich mir in meinen kühnsten Träumen erhofft hatte. Sie schloss ihre Bluse und gab mir einen Kuss auf die Wange.

»Sei nicht traurig. Wir sind erst am Anfang.«

Ich schloss daraus, dass sie mir bald mehr gewähren würde und ich gehorchte ihr und brachte sie zu dem prächtigen Haus gleich am Eingang der Plaza San Martín.

Am nächsten Tag fragte mich Ernesto, ob ich einen schönen Abend gehabt hätte.

»Jedenfalls kannst du nicht mehr sagen, dass sie dich wie einen Schuhputzer behandelt.«

»Ich liebe sie«, sagte ich in meiner jugendlichen Torheit.

»Hm«, machte Ernesto. »Bedenke aber, aus welcher Familie sie kommt. Reiche Mädchen lassen sich vielleicht von einem armen Mann lieben, aber mehr wird nicht draus.«

»Und wie ist es mit deiner Chichina?«

»Sie ist ein guter Kamerad. Aber geschlafen haben wir nicht miteinander. Es würde mich zu sehr verpflichten.«

»Mann, Ernesto, ich denke, du liebst sie.«

»Ja. Sogar sehr. Aber ich liebe auch meine Freiheit.«

»Und wie denkt sie darüber?«

»Wenn sie mich liebt, wird sie mich nicht anketten. Dir sage ich es: Sie wird sich bald von mir trennen.«

»Und das ist dir egal?«

»Nein. Aber es ist die Konsequenz.«

»Aber du liebst sie sehr?«

»Natürlich.«

Manchmal wurde selbst ich nicht aus ihm klug.

Es geschah während des Karnevals im Stadtteil San Vincente. Wir hatten den Hunderten von Tanzgruppen zugeschaut, die hinter den Kapellen in fantastischen Kostümen für ausgelassene Stimmung sorgten. Esmeralda klagte plötzlich über Kopfschmerzen und wir verabschiedeten uns von den anderen. Als wir durch den Parque Las Heras gingen, blieb sie plötzlich stehen und sagte mit spitzbübischem Lächeln, dass wir uns ein wenig ausruhen sollten.

»Und deine Kopfschmerzen?«

»Sie sind plötzlich weg, du Dummer.«

Wir gingen bis ans Ufer des Río Suquia und setzten uns ans Wasser. Der Mond spiegelte sich darin. Von ferne war die Musik der Karnevalsumzüge zu hören. Sie legte den Kopf an meine Schulter und wir küssten uns lange und plötzlich seufzte sie und ließ sich nach hinten fallen und zog mich auf sich. Sie griff mir in den Schritt und streichelte mich. Mir blieb fast das Herz stehen, aber dann fasste ich Mut und griff ihr nun beherzt in den Ausschnitt und liebkoste ihre Nippel.

»Nun komm schon«, sagte sie plötzlich, knöpfte meine Hose auf und streichelte meinen Penis und ich zog ihren Schlüpfer beiseite und fand ihren nassen Schoß.

»Du Dummerle!«, sagte sie und zog ihr Höschen aus, führte meine Hand zu ihrem Schoß und ich streichelte sie noch eifriger und sie fing an zu keuchen.

»Nun komm! Mach schon!«, forderte sie mich auf und nahm meinen Penis und ich drang, von ihrer Hand geführt, in sie ein. Wir küssten uns, dabei stießen unsere Zungen wild aneinander. Noch nie hatte ich solche Gefühle gehabt.

Ich ergoss mich sehr schnell in sie, wobei ihr ein unwilliger Laut entfuhr, den ich so verstand, dass ich weitermachen sollte. Mir kam erst später der Gedanke, dass sie bereits sehr viel von der Liebe wusste. Ich war stolz, als sie in die Nacht schrie. Und selbst dann war sie noch liebesbereit und sie klopfte mir auf den Rücken und wir taten es noch einmal. Wir flüsterten beide von ewiger Liebe.

»Ich werde dich heiraten«, sagte ich bestimmt.

»Ja. Ja doch«, flüsterte sie heiser. »Du wirst mich nicht im Stich lassen wie Ernesto Chichina.«

»Nein. Niemals.« Wie ich das mit der Heirat bewerkstelligen wollte, wovon wir leben würden, war mir in dieser Nacht keinen Gedanken wert. Ich war nur glücklich darüber, dass sich das aufregendste Mädchen Córdobas für mich entschieden hatte.

»Weißt du, wann ich wusste, dass du der Richtige bist?«, flüsterte sie zärtlich und strich mir übers Haar. »Als du diesen dummen Hernández fertiggemacht hast. Da wusste ich, das ist der richtige Mann für mich.«

Es gab mir nicht zu denken. Ich entnahm ihren Worten nur, dass ich ihr Mann war.

Eng aneinandergedrückt machten wir uns zur Plaza San Martín auf und ich bewegte mich wie im Traum neben ihr. Wir blieben oft stehen und küssten uns. Es war in der Gasse zur Plaza San Martín hin, wir waren fast an ihrem Haus angelangt, als uns acht Männer entgegenkamen und uns umringten. Es waren Männer, keine Jungen in meinem Alter.

»Na, betreibt ihr Rassenschande?«, sagte der Größte von ihnen, offensichtlich der Anführer. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Trotz des schlechten Lichts durch wenige Straßenlaternen identifizierte ich ihn als den älteren Bruder von Felix Hernández.

»Der Itzig hat es gewagt, meinen Bruder anzurühren, diese Judensau!«, sagte er zu seinen Kameraden. Auch diese sahen sehr gewaltbereit aus, trugen hohe schwarze Stiefel und schwarze Hemden und wagten es, in den Tagen des Mummenschanzes, sich als SS zu verkleiden. Jedenfalls trugen sie an ihren Armen rote Binden mit dem Hakenkreuz.

»Er hat den Streit angefangen«, verteidigte ich mich, obwohl ich ahnte, dass dies sinnlos war.

»Oh, gibt es so etwas? Ein Jude, der sich gegen einen Arier wehrt? Bringen wir dem Kerl bei, was ihn in Deutschland erwartet hätte.«

»Mein Vater ist Don Cagnetas. Wenn ihr uns etwas tut, wird er euch zur Rechenschaft ziehen!«, rief Esmeralda, die hinter meinem Rücken Schutz gesucht hatte, mit zitternder Stimme.

Aber das hielt die Nazibrüder nicht auf. Sie stürzten sich auf mich. Sie waren alle über zwanzig und von kräftiger Statur und hatten wohl auch getrunken, so dass sie sich mutig genug wähnten. Ich hatte gute Fortschritte in Karate gemacht, um mich gegen zwei, drei Männer erfolgreich behaupten zu können. Ich brach einem die Kinnlade, dem zweiten das Nasenbein, doch dann hatten sie mich im Clinch und warfen mich zu Boden und traktierten mich mit Fußtritten. Das tat weh und ich schrie vor Schmerzen. Doch was sie dann taten, war noch schlimmer. Sie zerrten mir die Hose herunter und dann … drang etwas in meinen After ein und ich … verstand. Jemand fickte mich. Ich schrie vor Scham und Wut und Hass und hörte den Mann über mir röcheln:

»Dazu bist du gerade gut genug, du Jude, du … Jude, du …!«

Ich kannte die Stimme. Oh ja, ich würde nie vergessen, wie Juan Hernández seinen Samen in meinen Hintern spritzte. Ich verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich die Bande grölend im Kreis um Esmeralda stehen und einer lag auf ihr.

»Gib es der Hure des Juden! Zeig ihr, mit wem es mehr Spaß macht.«

Ich wollte mich erheben und wurde mit einem weiteren Tritt wieder zu Boden geschleudert und dann sah ich noch, dass sich ein weiterer dieser Unholde auf Esmeralda stürzte und ich schrie, heulte meinen Hass heraus, während ich die Hose hochzog. Ich wäre wohl nicht lebend davongekommen, wenn nicht in diesem Augenblick eine Tanzgruppe hüpfend herangekommen wäre. Als sie gewahrten, dass hier das Gegenteil von Karneval ablief, liefen sie schreiend auf die Nazibengel zu und diese sahen wohl ein, dass sie gegen die Übermacht nicht viel ausrichten konnten und gaben Fersengeld.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem weißen Zimmer. Ernesto und Chichina saßen neben meinem Bett und sahen mich bekümmert an.

»Wo bin ich?«, nuschelte ich. Der Kiefer tat mir sehr weh, überall tat es weh, auch mein Arsch.

»Wo wohl? Im Krankenhaus. Du siehst aus wie eine zerquetschte Orange.«

»Esmeralda? Was ist mit Esmeralda?«

»Sie ist heute Morgen entlassen worden und längst wieder zu Hause. Den Umständen entsprechend geht es ihr gut, jedenfalls besser als dir.«

»Aber sie haben sie …«

»Darüber wollen wir nicht sprechen«, sagte Chichina bestimmt. »Es wäre nicht gut für ihren Ruf, du verstehst?«

Ich erzählte später nur Che, dass man auch mich gefickt hatte.

»Wer war es?«, fragte Ernesto erregt. »Von Esmeralda war nicht herauszubekommen, was euch genau passierte. Die offizielle Sprachregelung ist, dass man euch überfallen und dich verprügelt hat. Sie hätte die Männer nicht gekannt und ihr wäre auch nichts passiert. Die Leute aus der Tanzgruppe erzählten anderes. Aber sie behauptete, diese würden sich irren, denn die Unholde wären getürmt, ehe sie ihr etwas antun konnten.«

Es war nicht wahr, aber ich protestierte nicht. Wenn Esmeralda es so geregelt haben wollte, dann respektierte ich das. An Ernestos Gesicht erkannte ich, dass er dieses Märchen nicht glaubte.

»Es war der Bruder von Felix Hernández. Sie trugen schwarze Uniformen und die Hakenkreuzbinde am Ärmel.«

»Wir werden es denen heimzahlen!«, sagte Ernesto und seine Augen blickten hart, entschlossen und unerbittlich. »Sie werden den Karneval nie vergessen!«

Ich blieb nur bis zum nächsten Tag im Krankenhaus. Wir hatten kein Geld für einen längeren Aufenthalt. Ich lief eine Weile mit einem Stützkorsett herum, damit meine Rippen wieder zusammenwuchsen. Sowie ich einigermaßen schmerzfrei war, nahm ich meine Übungen in der Sportschule wieder auf und trainierte mit einer Verbissenheit, die Meister Kusomoto mit Sorge betrachtete. Er wusste, was mir widerfahren war und ahnte natürlich, was mich antrieb.

»Rache ist ein übler Ratgeber«, ermahnte er mich. Er war ein weiser Mann. Nicht dass er mir meine Rachepläne ausreden wollte. Es entsprach den Regeln des Bushido, dass ich meine Ehre wieder herzustellen hatte, aber er bat mich, meinen Rachefeldzug behutsam anzugehen. Er hatte dazu ein paar klug klingende Sprüche auf Lager, vom Wasser, das mit der Zeit den härtesten Felsen bricht und mehr noch in der Art.

Aber ich war kein Samurai, der sich in sich versenken konnte, und brannte darauf, es den Übeltätern heimzuzahlen. Sowie ich einigermaßen hergestellt war, ging ich zum prächtigen Palais an der Plaza San Martín, um mit Esmeralda zu sprechen. Aber ich wurde nicht vorgelassen. Der Majordomus wies mich mit den Worten ab, dass ich nicht erwünscht sei. Esmeralda wolle nichts mehr mit mir zu tun haben. Auch ihr Vater ging mir aus dem Weg und buchte mich nicht mehr als Caddy. Doch eines Tages fing ich ihn ab.

»Señor Cagnetas, warum lässt man mich nicht mehr zu Esmeralda?«

Er sah mich an, als wäre ich eine Fliege auf einem Misthaufen.

»Junge, du hast meine Tochter in eine unmögliche Lage gebracht. Du hast sie nicht schützen können. Außerdem habe ich ohnehin nicht viel davon gehalten, dass sie sich mit Leuten abgibt, die nicht unseren Kreisen angehören. Einer aus der Gesellschaft wäre nie mit ihr abends durch Córdobas Straßen marschiert. Ein unmögliches Benehmen. Nein. Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch nie wiederseht.«

»Aber wir lieben uns.«

»Was wagst du dir einzubilden? Kinderei! Wer bist du denn, dass du von einer Liebe zu einer Cagnetas zu sprechen wagst? Scher dich zum Teufel!«

Ich fand die ganze Welt ungerecht. Was konnte ich dafür, dass mir Felix’ Bruder auflauerte? Ich war doch das Opfer und wurde nun mit den Tätern gleichgesetzt. Ich hätte am liebsten ganz Córdoba vor Gericht geladen.

Dann bekam ich einen Brief, in dem mir Esmeralda bestätigte, was ihr Vater mir gesagt hatte. Sie schrieb, dass ich nicht in der Lage gewesen sei, sie vor den Hernándezleuten zu schützen und dies habe sie zu der Erkenntnis gebracht, dass wir aus verschiedenen Welten stammten und sie unsere Freundschaft als beendet betrachte. Es wäre eine Kinderei gewesen. Wenn ich noch irgendetwas für sie empfinden würde, dann solle ich über alles schweigen, was in jener Karnevalsnacht geschehen sei, womit sie wohl einschloss, dass wir miteinander geschlafen hatten und nicht nur die Bastarde, die sie vergewaltigt hatten.

Ich stürzte mich noch intensiver in Meister Kusomotos Übungen und lernte von ihm die geheimen Griffe, die zum Tod führten. Ich fühlte mich minderwertig und selbst, als mir Meister Kusomoto sagte, dass ich die absolute Perfektion erreicht hätte, schmerzte der Stachel. Ich verstand Esmeraldas Reaktion nicht. Immer wieder ging ich an das Ufer des Río Suquia, wo wir uns geliebt hatten. Ich hörte immer noch ihre Stimme und ihren Schwur, mich zu lieben. Um Klarheit zu bekommen, ging ich zu dem einzigen Menschen, der meiner Meinung nach in der Lage war, mich über ihr rätselhaftes Verhalten aufzuklären. Nicht zu Che, zu Chichina ging ich. Und sie streichelte mein Gesicht, als ich von dem Brief erzählte.

»Ich weiß. Sie hat mir alles erzählt. Du musst das verstehen. Sie stammt aus einer der vornehmsten Familien Argentiniens. Nie hat sie Gewalt erlebt und nun … wurde sie drei Mal vergewaltigt und wenn die Tanzgruppe nicht gekommen wäre, hätten wohl alle acht … Die Familie schreibt das Unglück der Tatsache zu, dass du ein ›Hemdloser‹ bist, ein Niemand. Mit einem aus ihren Kreisen, so glauben sie, wäre Esmeralda das nie passiert. Ohnehin haben die Eltern den Umgang mit mir, Che und dir immer sehr kritisch angesehen. Sie hätten nie jemanden als Ehemann akzeptiert, der nicht aus ihren Kreisen stammt. Ein guter Charakter ist ihnen zu wenig. Schon meiner Familie, die liberal ist und viel Verständnis für meine Freundschaft mit Ernesto aufbringt, fällt es schwer, Ernesto zu akzeptieren, obwohl seine Familie sehr angesehen ist. Du musst Esmeralda vergessen.«

Es fiel mir schwer, das zu akzeptieren. »Dann ist es aus? Wirklich aus?«

»Ja. Es ist aus, Marc.«

»Ich liebe sie doch«, beteuerte ich sinnloserweise. Die Tränen liefen mir über das Gesicht. »Irgendwann wird sie ja mal aus dem Haus kommen. Ich muss nur mit ihr reden. Sie wird sich schon daran erinnern, was wir einander versprochen haben.«

»Du wirst sie nicht sehen, jedenfalls nicht in Córdoba. Man schickt sie nach Paris auf eine Modeschule.«

Man entführte sie mir. So empfand ich. Als ich Ernesto davon erzählte, nickte er nur.

»Finde dich damit ab. Es ist vorbei. Das mit der Heirat war ohnehin Dummheit. Man hängt sich in unserem Alter nicht an eine Frau. Es geht darum, unserem Stern zu folgen!«

Ich dagegen fand das einen verdammt dummen Rat.

Ich glaubte immer noch, dass ich bei einem Zusammentreffen alles klären konnte. Ich trieb mich jeden Tag am Bahnhof herum, kannte die Züge, die nach Buenos Aires fuhren und, tatsächlich, aufgrund meiner genauen Kenntnis über die Fahrpläne konnte ich ihre Abfahrt abpassen. In einer großen amerikanischen Limousine rauschte sie heran und betrat mit Vater, Mutter, Tante und Onkeln, Cousins und Cousinen und dem Majordomus die Bahnhofshalle. Ich stand neben dem Erfrischungsstand und ich weiß, dass sie mich sah. Einen kurzen Augenblick trafen sich unsere Blicke. Sie drückte ihren großen Hut herunter und eilte, bei ihrem Vater eingehängt, mit der ganzen Entourage zu den Waggons der Ersten Klasse. Ich folgte ihnen. Sie stieg in den Zug. Der Majordomus stieg ihr mit den Koffern nach. Dann sah ich sie am Fenster. Sie winkte ihren Angehörigen zu. Ich lief an ihnen vorbei. Der Zug setzte sich in Bewegung und ich rannte neben ihm her und rief ihren Namen. Ich erreichte das Abteil, aus dem sie aus dem Fenster winkte und rief ihr zu, wie sehr ich sie liebe. Aber sie starrte mich kalt an und schüttelte den Kopf. Der Zug verließ den Bahnhof und ich stand mit tränenden Augen allein am Ende des Bahnsteigs.

Wie betäubt ging ich schließlich zur Halle zurück. Ihr Vater sah mir ernst entgegen.

»Du benimmst dich wie ein Idiot, Marc Mahon. Man spannt ein Rassepferd und ein Muli nicht zusammen. Du wirst sie nie wiedersehen. Und das ist auch gut so. Und ich hoffe, dass auch ich dich nie wiedersehen muss. Du hast unserer Familie genug Schande bereitet.«

Ich hasste ihn für seine mitleidlosen Worte. Dann winkte er seiner Entourage zu und sie verließen den Bahnhof. Ich starrte immer noch in die Ferne, wo nur noch eine Wolke von dem Zug kündete, der meine Liebe mitgenommen hatte.

»Ihr habt ohnehin nicht zueinander gepasst«, sagte Ernesto, als ich ihm mein Leid klagte.

»Wie kannst du das sagen!«, protestierte ich. »Ich denke, du bist mein Freund.«

»Eben. Weil ich dein Freund bin. Esmeralda ist sehr leichtfertig und du zu ernsthaft und zu anständig, um mit so einer Frau fertigzuwerden. Du wärst sehr unglücklich geworden.«

»Ein schöner Freund bist du mir.«

»Wir sollten uns jetzt um Hernández kümmern. Alles andere ist sentimentaler Unsinn.«

Ich war eine Weile ernstlich böse auf ihn. Aber an unserer Freundschaft änderte das nichts.

Che. Der Traum des Guerillero

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