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Kapitel 2

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In seinem Zimmer angekommen, ließ Martens seinen Koffer auf das Bett legen. Maria, die es sich nicht hatte nehmen lassen, den Koffer hochzutragen, meinte:

„Sie haben aber diesmal wenig Gepäck. Nur einen Koffer, der zudem nicht voll zu sein scheint, so leicht ließ er sich tragen.“

„Ja Maria, kurz wird mein Aufenthalt auf jeden Fall bei euch werden. Nur, wohin die Abreise geht, weiß ich noch nicht genau„“ gab er ihr versonnen zur Antwort.

Als Maria hinausging, warf er nur einen kurzen Blick auf seinen Koffer und dachte: Na, ich kann ihn ja immer noch auspacken, wenn es nötig sein soll, und außerdem ist er ja wirklich fast leer. Aus seiner eleganten Herrentasche, die er bis dahin unter dem Arm getragen hatte, nahm er einen dicken, fest verschlossenen weißen Umschlag,

„Für Margret Bichler“, stand in seiner gestochen scharfen Schrift darauf und etwas tiefer: „Nach meinem Tode zu öffnen.“

Sollten sich die seltsamen Vorahnungen die er hatte nicht erfüllen, so konnte er diese Unterlagen ja wieder zurück in seine Tasche legen. In dem Umschlag befanden sich auf einem Blatt Papier einige Telefonnummern mit der Bitte, diese anzurufen und den Leuten am anderen Ende von seinem Ableben zu berichten. Das waren ein Bestattungsunternehmer, dem er all seine Wünsche schon seit längerem schriftlich mitgeteilt hatte, sein Notar und Testamentvollstrecker sowie sein Vermögensverwalter, eine Anwaltskanzlei, die auch schon in dritter Generation für ihn arbeitete. Außerdem die Unterlagen über ein größeres Darlehen, welches er Bichlers kürzlich gewährt hatte, damit sie sich die teuren Maschinen und Geräte kaufen konnten, wie sie für einen modernen Weinanbau heutzutage benötigt wurden. Das für Alfons Bichler gewährte Darlehn hatte er, notariell beglaubigt, auf Margret Bichler als Nutznießerin übertragen lassen. Sie war nun die Empfängerin der monatlichen Rückzahlungen ihres Sohnes. Er hatte ein Konto auf ihren Namen eingerichtet, welches diese Zahlungen erhielt. Außerdem hatte er noch eine beachtliche Summe, zusätzlich auf dieses Konto eingezahlt. Er wusste von Margrets Träumen, einmal mit einem der weißen Luxusschiffe eine Reise um die Welt zu machen. Jetzt konnte sie sich diesen Traum erfüllen, und vielleicht lernte sie dabei einen Menschen kennen, der ihr zeigte, dass sie noch begehrenswert war. So hatte sie, wenn sie ihrem Sohn das Weingut und die Weinberge gänzlich überließ, ein gesetzlich geschütztes Zubrot. Was sie damit machen würde, wäre dann ihre Sache. Martens lächelte, er war zufrieden mit diesem Entschluss. Seine Erben, die sich Nach seinem Tod auf das bis dahin unerreichbare Martensvermögen stürzen würden, hätten keinen Zugriff mehr auf dieses Darlehn und den zugezahlten Betrag. Den konnte Margret Bichler niemand mehr streitig machen. In einem Brief, der all diesen Schreiben zu oberst lag, hatte er Margret für ihre über vierzigjährige Freundschaft und dafür, dass sie all die Jahre sein Geheimnis niemandem verraten hatte, gedankt. Er hatte ihr auch die Sache mit dem Darlehen und der Bargeldsumme erklärt und ihr dazu geschrieben: Nimm das Geld ohne Vorbehalt als Beweis unserer großen, ehrlichen Freundschaft, die sauber und ohne Makel ein ganzes Menschenleben anhielt. Dieses Geld steht dir zu, weil du meine vertraute Freundin um meiner selbst willen warst, meine Erben aber nur meine Freunde des Geldes wegen sind. Er steckte den großen und recht prallen Umschlag in die Innentasche seines Mantels und richtete sich dann auf. Dabei sah er sich in dem über dem Tisch hängenden großen Spiegel aufmerksam an. Er sah ein noch immer gutaussehendes Gesicht, in dem einige Alterspigmentflecken und tausend Furchen und Kerben zwei noch wach und hell in die Welt schauende Augen umrahmten, deren graublaue Farben noch jugendlich frisch wirkten. Sein sorgfältig und elegant geschnittenes schneeweißes Haar war für einen Einundachtzigjährigen noch erstaunlich voll und dicht. Dann hob er seine Hände, schlanke kräftige Männerhände, die früher einmal hart, aber auch überaus zärtlich zufassen konnten und betrachtete den braunen Pigmentflecken auf den Handrücken. Er zuckte mit den Schultern, warf noch einen gelangweilten Blick in den Spiegel und wandte sich mit den Worten - Na alter Junge, so ist das nun mal mit dem Alt werden - vom Spiegel ab. Er ging zur Tür, er wollte keine Zeit verlieren und den herrlichen Sonnentag ausnutzen, um hinauf zu IHRER Bank zu gehen. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, dieser Besuch würde nur kurz sein. Nach ein paar Tagen würde er die Heimreise antreten, falls er nicht vorher auf die wirklich letzte Reise gehen würde. Er zog sich seinen schweren, mit Pelz gefütterten Wintermantel an, schlang sich einen langen, weißen Seidenschal um den Hals und setzte seinen Homburger auf. Vom Kopf bis zu den Schuhen ein eleganter, gepflegter Mann. So trat er zu Maria und Alfons in die Gaststube.

„Schau dir den Herrn Martens an, ein Mann von Welt, ein Typ zum Verlieben„“ sagte Maria schelmisch, während sie ihren Alfons in die Rippen knuffte.

„Ja, der Herr Martens, der ist einfach nicht zu übertreffen,“ meinte dieser, während er an seiner blauen Winzerschürze zupfte.

„Ich werde noch einen Spaziergang machen.“

„Ist gut, Herr Martens, sicher wollen Sie zu Ihrer Bank, aber da kann Sie doch der Alfons mit dem Unimog hinfahren, und Sie brauchen nur noch den Abstieg zu Fuß zu machen.“

„Das ist lieb von euch beiden, aber ich habe den Weg ein Leben lang zu Fuß gemacht, und so werde ich auch heute zu Fuß hinaufsteigen und wenn es das letzte Mal sein sollte.“

„Hören Sie auf, Herr Martens, Sie und das letzte Mal; Sie werden doch hundert Jahre alt, so rüstig, wie Sie sind. Aber sagen Sie doch zuerst meiner Mutter guten Tag, Sie wissen doch, wie sie sich immer freut, wenn Sie kommen, und seit Papa tödlich verunglückt ist, ist sie halt viel allein. Sie ist draußen im Stall bei ihren Tieren.“

„Danke für den Hinweis, Alfons, aber ich wäre selbstverständlich sowieso zu deiner Mutter gegangen, ehe ich hinaufgehe. Sorge doch dafür, dass sie ein wenig unter Menschen kommt. Vielleicht lernt sie dann einen neuen Lebensgefährten kennen. Es ist doch schade, wenn eine so gut aussehende Frau sich so früh im Leben in der Einsamkeit vergräbt.“

René Martens ging aus dem Haus über den Hof in den Stall, in dem sich Margret Bichler zur Unterhaltung und zur Zerstreuung einiges Kleinvieh wie Kaninchen und Enten hielt.

„Hallo Margret“, begrüßte er sie.

„Wie gut du ausschaust. Du wirst wohl immer jünger und hübscher. Wie elegant du selbst im Stall bist, wie magst du da erst ausschauen, wenn du zum Tanzen gehst.“

„Herzlich willkommen René, du alter Schmeichler. Von wegen jünger, fünfundfünfzig bin ich im letzten September geworden, und das weißt du ja ganz genau; hast mir doch Blumen und Pralinen geschickt. Was die Eleganz im Stall betrifft – du kannst dir doch denken, dass ich mich wegen dir ein bisschen zu Recht gemacht habe. Aber es ist so schön, dich wieder einmal zu sehen. Nur, was treibt dich um diese Zeit zu uns? Es ist Anfang Dezember, Schnee liegt noch keiner, und die Tage sind meistens grau und trübe und bringen wenig Freude.“

„Du siehst, Margret, heute ist ein herrlicher Sonnentag und wenn ich Glück habe, mit einmaliger Fernsicht. Außerdem muss man in meinem Alter die Etappen kürzer setzen, wer weiß, ob ich den nächsten Juli noch erlebe.“

„Ach René, mach keine Sprüche, einen Juli ohne dich, das gibt es einfach nicht. Juli und René, das gehört einfach zusammen wie die Trauben und der Wein. Ein Juli ohne dich wäre für mich in meiner jetzigen Einsamkeit eine schlimme Zeit. Ich weiß es noch wie heute, als du zum ersten Mal bei uns warst. Unsere selige Mama war fünfunddreißig Jahre alt, und ich war gerade vierzehn geworden. Mama sagte damals zu mir: „Schau Kind, das ist ein Mann, von dem man träumen kann.“ Wenn sie gewusst hätte, dass ich das schon seit dem Augenblick tat, als wir unsere erste Begegnung hatten. Ich habe nie im Leben darüber gesprochen, habe mich keinem Menschen anvertraut. Aber heute, als alte Witwe, die ich nach vierundzwanzig glücklichen Ehejahren geworden bin, denn glücklich war ich mit meinem Franz schon, wenn auch tief in meinem Herzen die Sehnsucht nach dir nie ganz verlosch - kann ich es dir ja anvertrauen. Ich war damals schrecklich in dich verliebt, mit all der Romantik und Träumerei, zu der ein vierzehnjähriges Mädchen fähig ist. Leidenschaftliche Liebesbriefe habe ich an dich geschrieben, die ich dann anschließend wieder verbrannte. Ich wollte in deinen Armen sterben und dir mit dem letzten Atemzug meine Liebe gestehen. Du kennst ja die romantischen Spinnereien von Mädchen in diesem Alter. Später, als du Simone kennenlerntest, war ich seltsamerweise nicht eifersüchtig, und meine Liebe wandelte sich in eine tiefe Freundschaft und Verehrung, in die ich auch Simone einschloss.“

„Ich weiß, Margret, Simone hatte damals mit den Augen einer Frau sofort gesehen, wie es um dich stand und ich weiß auch, dass sie dich sehr gern hatte. Deine reine und wahre Liebe, die du damals empfandest, war auch der Grund, warum du sie gesehen hast und so als einzige unser Geheimnis kanntest. Aber Margaret, schau mich an, und dann siehst du, was es für dich für ein Glück war, dass du mich damals nicht bekommen hast.“

„Nur keine falsche Bescheidenheit! Einem so rüstigen und dazu noch alleinstehenden Herrn schauen doch alle Frauen nach.“

„Ja, die über achtzigjährigen“, lächelte er sanft. Dann nahm er ihre Hände und hielt sie mit festem Druck: „Ich danke dir für diese späte Liebeserklärung, sie macht mich auch heute noch sehr glücklich. Du warst das schönste Mädchen aus dem ganzen Dorf und wäre ich damals zwanzig Jahre jünger gewesen - wer weiß, wie alles ausgegangen wäre.“ Er hob ihre Händel an seine Lippen: „Leb wohl Margret, du bist auch heute noch eine wunderbare Frau.“ Er küsste zart ihre Handrücken. Ehe er hinaus ging griff er in die Innentasche seines Mantels und holte den Brief heraus. Er reichte ihn, der ihn erstaunt ansehenden Frau: „Margret verwahre diesen Umschlag und öffne ihn erst wenn ich gestorben bin. In ihm befinden sich einige Formulare und Briefe auf denen ich einige Wünsche und Maßnahmen aufgeschrieben habe, welche Du mir dann erfüllen, beziehungsweise für mich erledigen musst. Es ist für mich ganz wichtig, dass du alles so wie ich es aufgeschrieben habe ausführst. „ Er gab ihr den Brief, den sie unschlüssig und nun wirklich erstaunt entgegennahm.“

„Aber René was soll das denn? So schnell stirbt man doch nicht!“

Er lächelte sie an: „Ja dann musst du den Umschlag eben etwas länger aufbewahren.“

Er umarmte sie noch einmal und verließ dann den Raum. Margret Bichler blieb lange regungslos in dem Ha1bdunkel des Raumes stehen. Sie lauschte in sich hinein und versuchte, Ruhe in die Gefühle und Gedanken zu bekommen, die ihr durch den Kopf gingen. Fragen drangen auf sie ein, die sie nicht beantworten, konnte. Warum war ihr so seltsam traurig zumute? Was war der Anlass gewesen, dass sie René eben mit aller Offenheit, ihre, doch ein Leben lang so sorgsam gehütete Jugendliebe offenbart hatte? Warum zog ein so intensiver Schmerz in sie ein und legte sich wie eine Klammer um ihr Herz, als Renés, Stimme beim Abschied einen so ernsten, einen so endgültigen Klang bekam? Sie wandte sich wieder ihren Tieren zu, und während sie über das weiche Fell ihres Lieblingskaninchens strich, trübte ein Tränenschleier ihren Blick. Ihre tiefen Gefühlsbeziehungen, die sie ein Leben lang mit René verbunden hatten, ließen sie instinktiv wissen, dass dieses Treffen wohl ihr letztes war.

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