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Оглавление[108][109]4 Zentrale Forschungsfelder der Kommunikationswissenschaft
Die nachfolgende Erörterung relevanter kommunikationswissenschaftlicher Lehrinhalte und Forschungsfragen bezieht sich primär auf den Gegenstandsbereich der öffentlichen Kommunikation und hier insbesondere auf klassische Massenkommunikation sowie Kommunikation in bzw. mittels Onlinemedien. Aspekte der Organisations- sowie Werbekommunikation klingen, wenn überhaupt, nur sporadisch an, den Public Relations ist ein kleiner Abschnitt gewidmet. Die Ausführungen folgen in ihrer Systematik in Analogie zu den wichtigsten Faktoren bzw. Positionen des publizistischen Prozesses in »alten« wie »neuen« Medien, nämlich: Kommunikator (Medienschaffende), Aussage (Medieninhalte), Medium (technisch, formal, institutionell, strukturell, organisatorisch), Rezipient (Reichweiten-, Rezeptions-, und Wirkungsforschung). Auch wenn, wie erwähnt, für Phänomene der Onlinekommunikation ein neues Begriffsinventar vorgeschlagen wird (vgl. Kap. 3.3.6), findet hier, wo immer es möglich und vertretbar ist, die Verwendung traditioneller Begriffe der Kommunikationswissenschaft Anwendung.
Über die nachfolgend zu erörternden Themenkreise liegt allein im deutschen Sprachraum eine große Fülle von thematisch wie inhaltlich recht heterogenen Forschungsarbeiten und wissenschaftlicher Literatur vor. Theoretische Denkansätze und methodisches Vorgehen bei der Aufarbeitung der einzelnen Felder durch verschiedene Autoren unterscheiden sich dabei zum Teil erheblich. Es ist nicht möglich, auf sie alle hier im Einzelnen einzugehen. Vielmehr erscheint es sinnvoll, sich auf jeweils relevante Aspekte zur Kommunikator-, Aussagen-, Medien- und Rezeptientenforschung zu konzentrieren, die in der Summe dennoch ein wenigstens einigermaßen abgerundetes, mit Sicherheit aber nicht vollständiges Bild ergeben. Dabei ist, wie bereits ausgeführt (vgl. Kap. 1), auch zu berücksichtigen, dass keines der Lehr- und Forschungsfelder für sich allein gesehen werden kann, sondern viele Forschungsfragen des einen Feldes (z. B. Kommunikatorforschung) jeweils auch andere Felder (Aussagen-, Medien-, Rezipientenforschung) tangieren können – und umgekehrt. Die nachfolgenden Ausführungen folgen zwar keiner in sich geschlossenen Journalismus-, Medien- oder Kommunikationstheorie, gehen aber insgesamt von einer systemischen Auffassung von Massenkommunikation aus.
4.1 Kommunikator-/Journalismusforschung
Bezogen auf öffentliche Kommunikation versteht man unter dem Kommunikator eine Person, eine Gruppe von Personen oder eine Institution, die originärpublizistisch oder über ein Massenmedium Aussagen an eine (im Prinzip) unbegrenzte Zahl von Rezipienten mitteilt. Es ist dies ein sehr weit gefasstes Verständnis vom Kommunikator, das z. B. sich an die Öffentlichkeit wendende Politiker, Wirtschaftskapitäne und Gewerkschaftsfunktionäre ebenso einschließt wie predigende Priester, [110]Public Relations-Referenten, Werbeagenten, Autoren, Journalisten, Onlinepublizisten u. a. m. Bezogen auf Prozesse der Massenkommunikation, und darum geht es hier im Wesentlichen, stellt der Begriff Kommunikator eine Sammelbezeichnung für alle Personen dar, die – in welcher Form auch immer – an der Produktion und Publikation von Medieninhalten beteiligt sind. Die Kommunikatorforschung bezieht in ihr Untersuchungsfeld daher Personen ein, die durch Vorarbeiten, durch Auswahl, Schreiben und Redigieren, durch Gestalten und Präsentieren, aber auch durch Einwirken auf die technische Herstellung sowie nicht zuletzt durch Organisation und Kontrolle an der Entstehung und Verbreitung publizistischer Aussagen mitwirken.
Solche Personen sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber um wenigstens einige Beispiele zu nennen – bei Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen, Onlinemedien sowie in Nachrichtenagenturen und Mediendiensten:
• bei den Vorarbeiten: Rechercheure, Archivare, Dokumentatoren, Programm- und Sendungsplaner etc.;
• bei Auswahl, Schreiben und Redigieren: Reporter, Fotoreporter, Redakteure, Hörspiel- oder Drehbuchautoren sowie Literaten etc.;
• beim Gestalten und Präsentieren: Layouter, Grafiker, Producer, Moderatoren und Präsentatoren etc.;
• bei der Einwirkung auf die technische Herstellung: Texterfasser, Drucker, Cutter, Bild- und Toningenieure, Kameraleute etc.;
• bei Organisation und Kontrolle: Chefredakteure, Ressortleiter, Chefs vom Dienst, Herausgeber, Verleger, Programmdirektoren, Intendanten etc.
Kommunikatoren sind zudem alle jene ›elektronischen Publizisten‹, die bei Multimedia, bei Onlinemedien bzw. in der Onlinekommunikation professionell mit der Produktion von ›Content‹ befasst sind wie Onlineredakteure, Multimedia-Autoren, -Konzepter, -Producer, Webmaster und -designer, Videoreporter, Information-Broker u. a. m. Zu Kommunikatoren zählen z. B. aber auch Bürgerjournalisten, Leserreporter, Videojournalisten, Blogger und weitere Akteure, die sich der Onlinemedien oder ihrer Möglichkeiten bedienen, um Aussagen in die Öffentlichkeit oder in Teilöffentlichkeiten zu transportieren. Vor allem Blogger sind (von Ausnahmen abgesehen) meist keine professionellen Kommunikatoren, für die professionelle Regeln der Recherche, Produktion und Publikation sowie ethische Standards und Mindestvoraussetzungen an Kompetenz gelten (vgl. Donsbach 2009, S. 120). Zur Gruppe der Kommunikatoren zählen z. B. jedoch auch Personen, die als Texter oder Gestalter in der Werbung, als Public-Relations-Manager in der Öffentlichkeitsarbeit oder als Medienreferenten in der Organisationskommunikation tätig sind.
Die Kommunikatorforschung widmet sich also allen Personen oder Gruppen, die im Zentrum oder an der Peripherie publizistischer Aussagenproduktion wirken. Die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft hat sich im Bereich der Kommunikatorforschung lange Zeit in starkem Maße auf den Bereich des (Informations-)Journalismus in Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen konzentriert. Auskunft darüber gibt für den Zeitraum von 1945 bis 1990 Frank Böckelmann in der 1993 erschienenen Publikation »Journalismus als Beruf«. Sie enthält eine Bilanz der Kommunikatorforschung, in der sämtliche Studien und Publikationen aus dieser Zeitspanne systematisch – medienübergreifende sowie nach Mediengattungen geordnete Journalistenstudien – verzeichnet und kommentiert sind (Böckelmann 1993). Auch von Donsbach (1999a, 1999b) und Pürer (1997) gibt es Überblicksbeiträge. Neben vielen anderen (kleineren oder größeren) empirischen Arbeiten sind für die beiden zurückliegenden Jahrzehnte – 1990 bis 2010 – (oft) repräsentative quantitative Studien über Journalisten in Deutschland erschienen wie Weischenberg et al.: Journalismus in Deutschland, 1993 und 1994; Schneider et al.: Sozialenquete über die Journalisten in der Bundesrepublik Deutschland [111](1993, 1994a und 1994b); Weischenberg et al.: Die Souffleure der Mediengesellschaft (2006a und 2006b) sowie Studien z. B. über Journalisten/-Journalismus in den Ressorts Politik (Lünenborg/Berghofer 2010), Lokales (Grimme 1990), Sport (Görner 1995; Schaffrath 2006, 2007, 2010), Wissenschaft (Hömberg 1989; Lublinski 2004), Medien (Ruß-Mohl/Fengler 2000; Malik 2004; Beuthner/Weichert 2005) und auch Sensationsjournalismus (Dulinski 2003). Dem Thema »Journalismus und Unterhaltung« ist ein von Armin Scholl et al. (2007) herausgegebener Sammelband gewidmet. Auch wird Frauen im Journalismus zunehmend Aufmerksamkeit zuteil (u. a. Fröhlich/Holtz-Bacha 1995; Lünenborg 1997; Schwenk 2006; Koch 2007). Ebenso liegen über deutsche Auslandskorrespondenten Arbeiten vor (u. a. Hahn et al. 2008). Über den Onlinejournalismus gibt es ebenfalls zahlreiche empirische Studien, darunter z. B. die Arbeiten von Löffelholz et al. (2003), Meyer (2005), Quandt (2005), Neuberger et al. (2009). Mit crossmedialem Journalismus befasste sich u. a. Meier (2007, 2010), mit mobilem Journalismus Wolf/Hohlfeld (2010) und Wolf (2010). Dem Image der Journalisten sind u. a. Lieske (2008) und Donsbach et al. (2009) auf den Grund gegangen, ein Vergleich des Journalistenbildes in literarischen Bestsellern mit Befunden der empirischen Kommunikatorforschung, »Journalismus in Fiktion und Wirklichkeit«, so der Titel, stammt von Evelin Engesser (2005). Von Meyen/Riesmeyer (2009) gibt es eine bundesweit durchgeführte qualitative Studie über Journalisten in Deutschland, von Meyen/Springer (2009) eine über freie Journalisten. International vergleichende Journalismusforschung stammt u. a. von Hanitzsch/Seethaler (2009) und Hanitzsch (2013), der Thematik ist auch der Sonderband von Medien und Kommunikationswissenschaft »Grenzüberschreitende Medienkommunikation« (Wessler/Averbeck-Lietz 2012) gewidmet. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik legte 2006 Bernhard Pörksen mit der Publikation »Die Beobachtung des Beobachters« vor (Pörksen 2006). Journalistischem Handeln zwischen kommunikativer Vernunft und mediensystemischem Zwang ist Carsten Brosdas »Diskursiver Journalismus« gewidmet (Brosda 2008). Einen Sammelband zu aktuellem Stand und Perspektiven der Journalismusforschung mit zahlreichen Beiträgen haben Anfang 2013 Klaus Meier und Christoph Neuberger (2013) vorgelegt. Das Thema »Objektivität im Journalismus» mit Beiträgen von Ulrich Saxer (2012), Philomen Schönhagen (2012), Detlef Schröter (2012) und Hans Wagner (2012b) ist Gegenstand eines von Hans Wagner herausgegebenen Sammelbandes (Wagner 2012a). Einem bislang wenig bekannten Kommunikationsberuf, den Lektoren – den ›Gatekeepern‹ der Buchverlage – ist Walter Hömberg in einer für Deutschland repräsentativen Studie auf den Grund gegangen (Hömberg 2010). Mit »Büchermenschen«, d. h. mit der beruflichen Situation und den Bedingungen beruflicher Karrieren im Deutschen Buchhandel, hat sich Romy Fröhlich befasst (Fröhlich 2011). Auf mehrere der hier erwähnten Studien wird im Laufe des Kapitels noch näher eingegangen.
Kommunikatorforschung ist, bezogen auf die Massenmedien, weitgehend also immer noch Journalismusforschung. Kommunikatoren z. B., die im weiten Feld der Unterhaltungsmedien tätig sind wie Talk- und Showmaster in Hörfunk und Fernsehen, Präsentatoren von Radio- und TV-Sendungen etc. oder Personen, die in eher künstlerischer und bildnerischer Weise in Presse und Rundfunk wirken, fanden durch die deutsche Kommunikationswissenschaft bislang nur wenig Beachtung. Verweisen kann man u. a. z. B. auf den bereits erwähnten Sammelband »Journalismus und Unterhaltung» von Scholl et al. (2007) sowie auf Louis Bosshart et al. (1994) »Medienlust und Mediennutz«.
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, das Lehr- und Forschungsfeld Kommunikator-/Journalismusforschung zu strukturieren (vgl. u. a.: Jarren 1994; Donsbach 1994; Blöbaum 1994; Weischenberg 1992, 1995; Esser 1998; Merten 1999; Kunczik/Zipfl 2001). Hier werden die folgenden Themenkomplexe erörtert: wichtige Aspekte der journalistischen Berufsforschung; der Themenkreis Journalisten und Medieninhalte; aktuelle Themen der Journalismusforschung sowie neuere Theorien zur Journalismusforschung. Kompakte Überblicke zu »Journalismus« und »Journalisten« vermitteln Weischenberg (2005) und Donsbach (2009).
[112]4.1.1 Journalistische Berufsforschung
Die journalistische Berufsforschung hat eine lange Tradition. Sie begann bereits im 19. Jahrhundert, als in die medienkundliche Geschichtsschreibung berufsgeschichtliche Überlegungen zum Journalismus einflossen (vgl. Prutz 1845). Die deutschsprachige Zeitungswissenschaft und die frühe Publizistikwissenschaft haben sich vorwiegend historisch und personenzentriert (und weitgehend auch normativ) mit herausragenden journalistischen Persönlichkeiten sowie mit dem Wesen des Journalismus befasst. Im Mittelpunkt standen in aller Regel Einzelpersonen und deren Biografie (vgl. etwa Spael 1928) oder auf das praktische Handwerk bezogene Überlegungen (vgl. Dovifat 1931; Groth 1928). Daneben gab es bereits auch (meist kleinere) empirische Studien, die sich mit der sozialen und ökonomischen Lage oder etwa auch der Ausbildung der Journalisten befassten. »Sämtliche empirische Studien zielen auf die Verbesserung der Existenzbedingungen und des Ansehens des journalistischen Berufsstandes bzw. suchen zu erklären, warum Lage und Ansehen so schlecht sind, wie sie sind. Unter ihnen befinden sich einige Studien von Berufsverbänden, einige volkswirtschaftliche Lageberichte und einige Pressedissertationen« (Böckelmann 1993, S. 33). Die Titel dieser Studien und zusätzliche Angaben über ihre Inhalte sind der Synopse von Frank Böckelmann zu entnehmen (Böckelmann 1993, S. 33ff). Nach 1945 setzten allmählich Studien ein, die sich traditionellen Fragen des journalistischen Berufes widmeten und ihren Gegenstand von den Print- auf die Funkmedien ausweiteten. Ermittelt wurden demographische Daten und Tätigkeitsmerkmale, ansatzweise auch die soziale Lage der Journalisten. Es entstanden im Weiteren berufsstatistische Erhebungen, und Fragen der Einstellung der Journalisten zu ihrem Beruf und Berufsverständnis (Selbstbild) gewannen an Bedeutung. Ab etwa 1965 entfaltet sich eine empirische Berufsforschung, in der Fragestellungen im Vordergrund stehen, aus denen berufsstrukturelle Merkmale über Journalisten ermittelt, Berufsauffassungen festgestellt sowie ein allfälliger Wandel des Berufs-»Bildes« erschlossen werden können. Es sind dies Fragen nach
• demographischen und anderen berufsrelevanten Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, soziale Herkunft;
• Berufserwartungen und -vorstellungen sowie Motiven der Berufswahl;
• Berufsausbildung und Berufsanforderungen;
• Berufsweg und Karriereverlauf;
• Berufs- und Berufsrollenverständnis, Selbstbild und Fremdbild;
• Selbsteinschätzung von sozialem Status und gesellschaftlichem Ansehen;
• Berufsweg, Berufszufriedenheit, Karriereverlauf;
• Berufsmobilität;
• Einstellungen zu berufspolitischen, parteipolitischen und anderen gesellschaftlich relevanten Fragen sowie zur Parteizugehörigkeit;
• Berufsethik.
Die meisten Kommunikator-Studien sind folglich auch Versuche, die Wirklichkeit journalistischer Berufe empirisch zu fassen und daraus Merkmale für ein Berufsbild abzuleiten. Mit neuen empirischen Forschungskonzepten, die in den ausgehenden 1960er-Jahren entstehen, setzt auch ein Paradigmenwechsel in der Journalismusforschung ein. Nicht unerwähnt bleiben soll jedoch, dass es aus den 1950er-Jahren vergleichsweise umfassende empirische Sozialenqueten gibt: nämlich jene von Walter Haseloff 1954 in Berlin (Haseloff 1954) sowie die von Walter Hagemann 1956 in Nordrhein-Westfalen durchgeführten Journalistenstudien (Hagemann 1956; Wirth 1956). »Die Sozialenqueten in der Mitte der 1950er-Jahre werden wie ihre Vorläufer zu Beginn des [20.] Jahrhunderts und nach dem Ersten Weltkrieg von der akuten Notlage eines großen Teils der Journalisten veranlasst. Im selben [113]Maß, in dem sich die ökonomische Lage der Journalisten bessert, treten in den Berufsverbänden die Fragen der beruflichen Ausbildung und der (Mitsprache-)Rechte im Medienbetrieb in den Vordergrund« (Böckelmann 1993, S. 41).
4.1.1.1 Berufsgeschichte des Journalismus
Vorformen dessen, was wir heute als Journalismus bezeichnen, gehen im deutschen Sprachraum bis ins 14. Jahrhundert zurück. Die Berufsgeschichte des Journalismus umfasst somit eine Zeitspanne von mehr als 600 Jahren. Dementsprechend vielfältig sind wissenschaftliche Bemühungen, sie zu erforschen. Es ist hier daher nicht möglich, die Berufsgeschichte des Journalismus von ihren Anfängen bis zur unmittelbaren Gegenwart im Detail nachzuzeichnen. Vielmehr soll in groben Konturen auf einige wichtige Etappen der Entstehung und Entwicklung dieses Berufes verwiesen und damit wenigstens ein grober Überblick geboten werden. Dabei ist vorab festzuhalten, dass die Berufsgeschichte des Journalismus untrennbar mit der Geschichte des Nachrichtenwesens (Zulieferung von Informationen an die Korrespondentennetze der großen Handelshäuser, Errichtung von Postlinien), der gedruckten Medien (Zeitung, Zeitschrift), später der elektrischen bzw. der elektronischen Medien (Hörfunk, Fernsehen) sowie schließlich der digitalen Medien (Onlinemedien) verbunden ist. Zur Geschichte des Journalismus liegen Periodisierungsversuche vor, von denen jene von Dieter Paul Baumert (1928, 2013) sowie Thomas Birkner (2011, 2012) nachfolgend kurz dargestellt werden.
In dem von Dieter Paul Baumert 1928 vorgelegten Werk »Die Entstehung des deutschen Journalismus« ist die erste, im eigentlichen Sinn des Wortes zu verstehende Journalismusgeschichte des deutschen Sprachraumes zu sehen. Ihrer kohärenten Systematik, die naturgemäß um seither eingetretene Entwicklungen zu ergänzen ist, kann man auch heute noch folgen. Im Hinblick auf die Zeitspanne von den ersten Anfängen bis zur Vollendung des journalistischen Berufsbildungsprozesses unterscheidet Baumert zwischen vier Phasen bzw. Perioden (vgl. Baumert 1928):
• In der präjournalistischen Periode (bis zum Ausgang des Mittelalters) sind Nachrichtenüberbringer in Sendboten, wandernden Spielleuten und berufsmäßigen Dichtern und Sängern zu sehen, die (in Reim und Lied gefasste) Neuigkeiten in die Öffentlichkeit trugen – aber auch in Historiographen, fürstlichen Sekretären und Chronisten, die von Amts wegen ihnen zugängliche Quellen als (Nachrichten-)Material benutzten.
• In der Periode des korrespondierenden Journalismus (frühe Neuzeit) belieferten Handelsleute, Konsulats- und Stadtschreiber, Beamte und Diplomaten, aber auch Angehörige gebildeter Schichten und politisch Interessierte Informationen an die im 16. Jahrhundert entstehenden (unperiodisch erscheinenden) »Avisenblätter« sowie – ab dem 17. Jahrhundert – an Postmeister und Drucker. Die »Zeitungs- bzw. Nachrichtensammler« (das Wort »Zeitung« hatte damals die Bedeutung von »Nachricht«) waren auf zuverlässige Korrespondenten angewiesen. Innerhalb der Zeitungen selbst allerdings übten sie keine »journalistische« Tätigkeit aus.
• Ab Mitte des 18. Jahrhunderts entstand nicht zuletzt im Gefolge der Aufklärung der schriftstellerische (und politische) Journalismus; daher spricht man von der Periode des schriftstellerischen Journalismus. Er fand seine Ausdrucksform zuerst in der Zeitschriftenliteratur, floss im Weiteren aber in die Zeitungen ein und trug zur literarischen Veredelung der Zeitung bei. Protagonisten des politisch-literarischen Journalismus waren u. a. Joseph Görres (Rheinischer Merkur) sowie der junge Karl Marx (Rheinische Zeitung).
• Der redaktionelle Journalismus, wie wir ihn auch heute noch kennen, entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Aufhebung der Zensur, die eine rapide Ausdifferenzierung des Zeitungswesens zur Folge hatte. Die Aufgaben des Redakteurs bestanden (und bestehen) aus dem selbstständigen [114]Referieren über Tagesereignisse (korrespondierende Leistung), aus dem Selektieren, Prüfen, Sichten, Kürzen etc. eintreffender Nachrichten (redigierende Leistung) sowie aus tagesliterarischem Schaffen z. B. im Feuilleton (schriftstellerische Funktion). Redakteure arbeiten seither in stets komplexer werdenden Medienorganisationen.
Von Walter Hömberg wurde die Leistung Dieter Paul Baumerts jüngst neu gewürdigt (Hömberg 2012) und dessen 1928 erschienene Sozialgeschichte des Journalismus in einer Neuauflage herausgebracht (Baumert 2013).
Die Vollendung des journalistischen Berufsbildungsprozesses im 19. Jahrhundert wurde von Jörg Requate detailreich und international vergleichend aufgearbeitet (vgl. Requate 1995). ln der Periode des redaktionellen Journalismus entfaltete sich die journalistische Tätigkeit zum Ganztagesberuf, der nun hauptberuflich ausgeübt wurde. Er ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet von der Herausbildung der Zeitungsressorts (Politik, Lokales, Wirtschaft, Feuilleton, Sport), vom Aufkommen der Korrespondenz- bzw. Nachrichtenbüros, von der Nutzbarmachung der Telegrafie für den Zeitungsnachrichtendienst sowie vom organisierten Pressestellenjournalismus. 1904 gab es im Deutschen Reich rund 4.600 Journalisten. Bemühungen, sich gleichsam im Sinne einer Profession in Berufsverbänden zu organisieren, gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts. 1895 wurde der »Verband deutscher Journalisten- und Schriftstellervereine« gegründet, 1909 folgte der »Bund deutscher Redakteure« und 1910 der »Reichsverband der Deutschen Presse« (RdP), »der erstmals explizit journalistische Interessen vertrat« (Weischenberg 2010, S. 42; Hervorhebung i. Orig.). In ihm »gingen der 1902 in Berlin gegründete Verein Deutscher Redakteure‹, der 1909 in Berlin gegründete ›Bund Deutscher Redakteure‹ sowie der Verband der Deutschen Journalisten- und Schriftstellervereine‹ auf« (Weischenberg 2010, S. 42f). Gewerkschaftliche Zielsetzungen wurden erst 1919 durch die Delegiertenversammlung des RdP festgeschrieben (Weischenberg 2010, S. 43). Damit »war die Grundlage gelegt, über tarifliche Verhandlungen die schlechte materielle Lage der Journalisten zu verbessern« (ebd.). Im April 1922 erfolgte nach langen Verhandlungen mit dem »Verein Deutscher Zeitungsverleger« die Bildung der sozialpartnerschaftlich angelegten »Reichsarbeitsgemeinschaft Deutsche Presse« (ebd.). Der RdP wurde 1933 von den Nationalsozialisten »geschlossen in den NSStaat« übergeführt, die »Indienstnahme« war mit Inkrafttreten des Schriftleitergesetzes (Oktober 1933) am 1. Januar 1934 vollzogen (ebd.). Nachfolger des »Reichsverbandes der deutschen Presse« war nach dem Ende der Nazidiktatur der 1949 gegründete »Deutsche Journalisten-Verband« (DJV) (Weischenberg 2010, S. 44).
Eine im Vergleich zu Baumert etwas andere Phaseneinteilung der Geschichte des Journalismus hat Thomas Birkner 2011 vorgelegt (Birkner 2011, 2012). Im Unterschied zu Baumert, dessen Einteilung »anhand der jeweils dominierend handelnden Personen« wie Korrespondenten, Schriftstellern und Redakteuren erfolgt, möchte Birkner auch »endogene Faktoren« einbeziehen, also »Texte sowie die Organisationen, in deren Strukturen diese entstehen und in denen Journalisten arbeiten« (Birkner 2011, S. 345). Zu berücksichtigen sind jeweils zeitliche Kontexte wie Sozialstruktur und Kultur (Bevölkerungswachstum, Alphabetisierung), die wirtschaftliche und technologische Dimension (Ökonomisierung des Pressewesens, technologische Weiterentwicklung) sowie schließlich die Dimension Politik und Recht (Zensur, zensurfreie Presseunfreiheit, Pressefreiheit). Birkner sieht die Entwicklung des Journalismus komplementär zu Baumert in vier Phasen: Genese, Formierung, Ausdifferenzierung sowie Durchbruch des modernen Journalismus:
1) | In der Phase der Genese (1605–1848) des Journalismus entstehen Zeitungen und Zeitschriften, aus dem Buchdruckerwesen entwickelt sich allmählich das Zeitungsgewerbe mit seinem publizistischen und ökonomischen Zweigen. Es bildet sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine journalistische Avantgarde (Allgemeine Zeitung; Johann Friedrich Cotta, Heinrich Heine, z. B. [115]aber auch Joseph Görres) heraus, deren Repräsentanten noch (eher) Schriftsteller sind. Retardierende Wirkung für eine Ausdifferenzierung des Journalismus hat das »Unterdrückungssystem der Karlsbader Beschlüsse« von 1819 (Wiedereinführung der Zensur), die »fast dreißigjährige Polizeiaktion […] gegen die Presse« (Birkner 2011, S. 347 mit Bezugnahme auf Schneider 1966). Gleichwohl »war die Presse wesentlicher Bestandteil der Revolution von 1848« (Birkner 2011, S. 348). Erste organisatorische und redaktionelle Strukturen bilden sich heraus. |
2) | Für die Phase der Formierung (1849–1873) des Journalismus ist die »symbiotische Entstehung von Parteien und Parteizeitungen« wichtigstes Element, prägend sind auch wirtschaftlicher Aufschwung und industrielle Entwicklung, die Erfindung der Telegrafie (rasche Nachrichtenübermittlung aus vielen Teilen des Kontinents und der Welt) sowie das für Zeitungen und Zeitschriften populär werdende Anzeigengeschäft (Birkner 2011, S. 348). Die Zeitung wird endgültig zum Wirtschaftsprodukt, Bevölkerungswachstum und sich ausbreitende Bildung erhöhten die Lesefähigkeit: »Das deutsche Bildungssystem brachte zunehmend die Produzenten wie Konsumenten journalistischer Produkte hervor« (Birkner 2011, S. 349). |
3) | Für die Phase der Ausdifferenzierung (1874–1900) des Journalismus ist »das Zusammenspiel der gesamtgesellschaftlichen Großtrends von Urbanisierung und Alphabetisierung von Bedeutung, ebenso die Beschleunigung des Nachrichtenverkehrs. »Das Reichspressegesetz von 1874 »bot einen rechtlich nicht besonders liberalen, aber doch stabilen Rahmen«, der sich positiv auf die Entfaltung des Pressewesens auswirkte. Die »neu auftretende Generalanzeigerpresse verkörperte […] den starken Einfluss des Wirtschaftssytems«, zwischen Gesinnungspresse (Parteilichkeit) und Generalanzeigerpresse (unterstellte Parteilosigkeit) »wurde langsam, aber sicher eine Un- bzw. Überparteilichkeit möglich« (Birkner 2011, S. 349). Mit dem Ende der Sozialistengesetze (Einschränkung der sozialdemokratischen Presse) sowie der Ära Bismark kann von einer »faktischen – jedoch stets fragilen – Pressefreiheit gesprochen werden« (Birkner 2011, S. 350). Politik ist zunehmend dem Einfluss der Medien ausgesetzt und muss sich dem »Urteil der Öffentlichkeit« stellen (ebd.). |
4) | Für die Phase des Durchbruchs (1900–1914) wird der Journalismus integraler Bestandteil der vor dem 1. Weltkrieg entstehenden und sich ausbreitenden Massenkultur, der Journalismus wird »integraler Bestandteil der ›Entfesselung der Massenkommunikation‹« (Birkner 2011, S. 350 mit Bezugnahme auf Wilke 2000). Die Selbstfindung des journalistischen Berufs wird u. a. auch im Kontext des Entstehens journalistischer Praktikerliteratur gesehen (Birkner 2011, S. 350f, mit Bezugnahme auf Groth 1948). In der boomenden Zeit des Pressewesens der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts (Ansteigen der Zeitschriften von 5.632 (1902) auf 6.689 (1913), Anwachsen der Zeitungstitel von 3.405 (1897) auf 4.221 (1914)) bilden sich auch moderne journalistische Institutionen heraus, vollzieht sich die Ausdifferenzierung der Redaktionen in Ressorts, wachsen moderne journalistische Akteure heran und entstehen moderne journalistische Aussagen mit sich ausdifferenzierenden Textstrukturen heraus (Birkner 2011, S. 352–354). »Die Modernität des deutschen Journalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist bislang unterschätzt worden. Zu dominant erschienen die Zwänge der politisch-rechtlichen Dimension in den vorigen Epochen und zu glatt ließen sich diese mit der Zensur im Ersten Weltkrieg, der Polarisierung in der Weimarer Republik und der Totalität im Nationalsozialismus zu einer unendlichen Geschichte eines vormodernen Journalismus verknüpfen. Doch auch in Deutschland begann um 1900 das »Jahrhundert des Journalismus« (Birkner 2011, S. 355 mit Bezugnahme auf Birkner 2010). |
Mit dem Aufkommen des öffentlichen Radios (in Deutschland ab 1923) entfalten sich auch erste Formen des Radiojournalismus. Er differenziert sich ebenso bald vielfältig aus wie dreißig Jahre später der Fernsehjournalismus im Gefolge der raschen Ausbreitung dieses audiovisuellen Mediums ab Anfang der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Eine große Fülle journalistischer Berufe in Zeitungen, [116]Zeitschriften, Hörfunk, Fernsehen und Nachrichtenagenturen entsteht. Die jüngste, vermutlich noch geraume Zeit nicht abgeschlossene Entwicklung betrifft den Journalismus in Onlinemedien (vgl. Kap. 4.1.3.4).
Obwohl technische Innovationen das Berufsbild von Journalisten stets verändert und mitgeprägt haben, blieben im Print- wie im Funkjournalismus redaktionelle Aufgaben einerseits und technische Aufgaben andererseits bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend getrennt. Ab Mitte der 1970er-Jahre ändert sich dies jedoch grundlegend, als elektronische Produktionssysteme im Medienbereich Einzug halten. Dies gilt zunächst in besonderer Weise für den Zeitungs- und Zeitschriftenjournalismus in der Folge der Implementation von Redaktionselektronik in den Zeitungsverlagshäusern (vgl. Weischenberg 1978; Mast 1984; Pürer 1985). Denn dadurch wurden technische Aufgaben wie Texterfassung und Textgestaltung, die zuvor von Setzern und Metteuren vorgenommen wurden, aus den Setzereien weitgehend in die Redaktionen verlagert und müssen dort nun von den Journalisten weitgehend selbst durchgeführt werden. Ähnliches vollzog sich durch sog. elektronisches Broadcasting sowie durch die Einführung der digitalen Technik (z. B. elektronisches Schneiden) in den Radio- und Fernsehredaktionen. Ein weiterer Technologieschub, der für Journalisten nicht ohne Folgen bleibt, ist in den multimedialen Möglichkeiten des Onlinejournalismus zu sehen, die Text, Ton, Bild, Video und Grafik vereinen (siehe Kap. 4.1.3.4). Nicht zu Unrecht wurde daher zunächst vom »redaktionstechnischen Journalismus« (Pürer 1985) gesprochen und kann man im Weiteren besser (und eleganter) vom »elektronischen Publizisten« sprechen, der sowohl redaktionelle (Inhalt) wie auch zunehmend technische Aufgaben (Form, Gestaltung) integriert.
4.1.1.2 Journalismus und politisches System
Für den Journalismus in Deutschland gilt, dass Möglichkeiten seiner mehr oder weniger ungehinderten Ausübung von Anfang an eng mit dem jeweils herrschenden politischen System verbunden waren. Dies geht aus dem langen Kampf um die Pressefreiheit in Deutschland hervor (vgl. Fischer 1982; Wilke 1984a). Es gibt sie – trotz Aufhebung der Zensur im Jahre 1848 – uneingeschränkt de facto erst seit 1949 mit dem In-Kraft-Treten des Grundgesetzes in Westdeutschland, in Ostdeutschland erst seit der 1990 erfolgten Wiedervereinigung. Davor wurden deutsche Journalisten »in den absoluten Fürstenstaaten politisch verfolgt, durch Bismarcks Sozialistengesetz kaltgestellt, in Weimar für ideologische Ziele missbraucht, in Nazideutschland ins Konzentrationslager geworfen und in der DDR als Funktionäre des Klassenkampfes eingesetzt, wobei jede dieser Zeiten sich durchaus nicht nur auf eine Repressalie beschränkte« (Donsbach 1999a, S. 492).
In pluralistischen demokratischen Systemen wie der Bundesrepublik Deutschland werden den Massenmedien aus einer idealistischen normativen Sicht wichtige Funktionen zugewiesen: Sie sollen eine demokratiepolitisch wichtige Aufgabe erfüllen, indem sie nicht nur Öffentlichkeit über gesellschaftlich relevante Vorgänge in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur herstellen, sondern v. a. auch Kritik- und Kontrollaufgaben wahrnehmen, indem sie auf die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien bei Gesetzgebung (Legislative), Gesetzesvollzug (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) sorgfältig achten. Sie sind idealiter in das Prinzip der Gewaltenteilung eingebunden. Gleichwohl stellen Medien und Journalismus keine »Vierte Gewalt« (Publikative) dar: Weder sieht dies das Grundgesetz vor, noch verfügt die Mehrheit der Journalisten über die dazu erforderlichen Kompetenzen und Qualifikationen. Nicht zu übersehen ist in diesem Kontext zudem, dass große Medienbetriebe selbst mächtige Institutionen darstellen und Interessen verfolgen, sich damit also die Frage nach der »Kontrolle der Kontrolleure« stellt.
[117]In den meisten pluralistischen Demokratien westlichen Typs ist in der Ausübung des journalistischen Berufs ein Jedermannsrecht zu sehen. Dies ist auch in Deutschland der Fall. Daher ist hier die Berufsbezeichnung Journalist auch nicht geschützt. Begründet wird dies mit Art. 5 des Grundgesetzes, wonach »jeder […] das Recht (hat), seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten […]«. Folgerichtig ist der Zugang zum Beruf im Prinzip auch nicht an spezielle Voraussetzungen oder Ausbildungsgänge gebunden. (Dies schließt freilich nicht aus, dass sich Journalisten angesichts zunehmender Komplexität von Vorgängen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur mehr denn je eine besonders qualifizierte Ausbildung angedeihen lassen sollten – vgl. Kap. 4.1.1.3). In Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes ist auch die wichtigste Rechtsgrundlage der journalistischen Arbeit zu sehen. Er verbürgt einerseits die Pressefreiheit als individuelles (Abwehr-)Recht für jeden einzelnen Bürger und garantiert andererseits die Freiheit der Medien von jeglicher staatlichen Einflussnahme. Weitere relevante Rechtsgrundlagen für den Journalismus sind (nicht zuletzt auf Grund der föderativen Struktur Deutschlands) u. a. in den Landesverfassungen und Landespressegesetzen, in medienrelevanten zivil- und strafrechtlichen Bestimmungen sowie in zahlreichen anderen Rechtsmaterien zu sehen (vgl. Pürer/Raabe 2007, S. 331ff).
Zu erwähnen ist in diesem Kontext, dass die Journalisten zur Erfüllung ihrer öffentlichen und dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe einerseits mit Sonderrechten ausgestattet sind, ihnen andererseits aber auch besondere Pflichten auferlegt werden. Zu den Sonderrechten (vgl. Pürer/Raabe 2007, S. 354ff) gehören z. B. der besondere Auskunftsanspruch gegenüber Behörden, das Zeugnisverweigerungsrecht (Informantenschutz) sowie die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses (Beschlagnahmeverbot von eigenbeschafften Unterlagen, Durchsuchungsverbot). Zu den besonderen Pflichten zählen die Verpflichtung zur Berichtigung falscher Nachrichten sowie v. a. die Sorgfaltspflicht: Sie hält Journalisten an, alle Nachrichten vor ihrer Verbreitung genau auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.
4.1.1.3 Ausbildung und Sozialisation im Journalismus
Da, wie erwähnt, Pressefreiheit ein Jedermannsrecht ist, ist der Berufszugang in den Journalismus prinzipiell offen und nach wie vor nicht an eine formalisierte Ausbildung gebunden. (»Eine staatliche Ausbildung wäre […] nur für den Fall zulässig, in dem Journalisten unzureichend ihre öffentliche Aufgabe erfüllen würden und damit die Pressefreiheit selbst gefährdet wäre« – Donsbach 2009, S. 98) In die Qualifikation von Journalisten wurde seitens der Medienbetriebe für lange Zeit (unverständlicherweise) nur wenig Aufwand und Mühe investiert, dem klassischen, einer Lehre vergleichbaren Volontariat nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Für lange Zeit galt der Journalismus v. a. unter Medienpraktikern gar als »Begabungsberuf«, der nicht erlernbar sei. Diese befremdende und überholte Auffassung (um nicht zu sagen: Ideologie) ist heute nur noch selten vorzufinden. Im Gegenteil: Da 1) zunehmend viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einer wissenschaftlichen Durchdringung unterliegen, 2) zahlreiche Vorgänge in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur infolge ihrer hohen Komplexität nur noch schwer zu durchschauen sind und 3) immer größer werdende Informationsmengen zu bewältigen sind, hat sich weithin die Einsicht durchgesetzt, dass (nicht nur – aber v. a.) im Informationsjournalismus tätige Personen über eine gute Ausbildung verfügen sollten.
Die Forderung nach qualifiziert ausgebildeten Journalisten kam Anfang der 1970er-Jahre auf. Damals konnte in einer bundesweit unter Zeitungsvolontären durchgeführten Umfrage empirisch nachgewiesen werden, dass die redaktionelle Ausbildung den Anforderungen an einen modernen Journalismus weitgehend nicht entsprach (vgl. Kieslich 1971, 1974). In einem vom Deutschen Presserat initiierten und (zunächst 1971 und dann 1973) von Verlegern, Journalisten und Wissenschaftlern erarbeiteten [118]»Memorandum zur Journalistenausbildung« (siehe Aufermann/Elitz 1975, S. 286ff) wurden Empfehlungen zur Verbesserung der Ausbildungsmöglichkeiten von Journalisten festgehalten. Es entfaltete sich daraufhin in weiten Bereichen des Medienwesens eine heftige Ausbildungsdebatte, die in der Kommunikationswissenschaft in eine Diskussion über die Professionalisierung des Journalismus mündete (vgl. Publizistik 19:1974 Heft 3–4 sowie Publizistik 20:1975, Heft 1–2; vgl. Aufermann/Elitz 1975). Ihr ursprünglich aus den USA stammender Grundgedanke war, angesichts gestiegener Berufsanforderungen für den Journalismus u. a. ähnliche Ausbildungs- und Zugangsregeln zu schaffen wie sie etwa für klassische Professionen (Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte etc.) gelten und die Journalisten auf verantwortungsethisches Handeln zu verpflichten. Zu einer solchen – allgemein verbindlichen – Professionalisierung des journalistischen Berufs kam es aber aus mehreren Gründen nicht: So wurde sie mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht für vereinbar gehalten. Außerdem wurde eingewendet, eine vereinheitlichte Journalistenausbildung könnte zu einer Homogenisierung der Weltsicht der Journalisten führen, was die Vielfalt der Meinungen beeinträchtigen könnte. Auch wurde befürchtet, dass die Professionalisierung des Journalismus zu einer Abschirmung der Journalisten vom Publikum führt. Last but not least wurde argumentiert, dass der Journalist der Wahrheit verpflichtet sei und somit auch gesinnungsethisch handeln müsse; ihm könne und dürfe – nicht zuletzt infolge unzureichender Kenntnisse der Medienwirkungsforschung – (ausschließlich) verantwortungsethisches, also an den vermeintlichen oder wirklichen Folgen orientiertes Handeln, nicht abverlangt werden (vgl. Kepplinger/Vohl 1976).
Gleichwohl gingen von dieser Ausbildungsdebatte zahlreiche Impulse und Initiativen für die Verbesserung der Ausbildung von Journalisten aus. So wurden in der Folge an mehreren Universitäten Diplomstudiengänge für Journalistik errichtet, universitäre und außeruniversitäre studien- und berufsbegleitende Ausbildungseinrichtungen geschaffen, neue Journalistenschulen etabliert und auch dem Volontariat mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Ausbildungsvertrag zwischen Verlegerund Journalistenverbänden, der das zweijährige Volontariat in Zeitungsverlagshäusern inhaltlich regelt, kam allerdings erst viele Jahre später, nämlich 1990 zu Stande.
Mindestvoraussetzung, um heute im Journalismus tätig zu sein, ist der Nachweis des Abiturs. In zahlreichen Zeitungs- und Rundfunkredaktionen ist für den Einstieg in den Journalismus ein abgeschlossenes (Fach-)Studium unabdingbar. Es gibt auch mehrere Wege, die in den Journalismus (Print-, Funk-, Onlinemedien) führen. Zu erwähnen sind insbesondere folgende:
• Das klassische Volontariat: Es dauert in den Zeitungsverlagshäusern zwei Jahre, führt den Volontär durch mehrere Ressorts und vermittelt in aller Regel eine gute praktisch-handwerkliche Ausbildung.
• Freie Journalistenschulen: Die Ausbildung findet in Kompaktkursen statt, die 18 bis 24 Monate dauern und neben einer soliden, teils mehrmedialen praktisch-handwerklichen Ausbildung (Print, Funk, Online) auch medien- und berufskundliche Inhalte vermitteln.
• Universitäre Ausbildungsgänge in Form von Bachelor- und Masterstudiengängen Journalismus: Sie integrieren eine crossmediale praktisch-handwerkliche Ausbildung mit einer theoretisch-kommunikationswissenschaftlichen. Es gibt darunter Masterstudiengänge, deren Studierende ein Bachelor- oder Masterstudium in einem anderen Fach (Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Literaturwissenschaft etc.) abgeschlossen haben, sodass viele von ihnen über inhaltliche Voraussetzungen für die Tätigkeit in einem Ressort verfügen.
• Das Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: Es vermittelt in seinen BA- und MA-Studiengängen, wie sein Name sagt, eine primär theoretische bzw. wissenschaftliche Ausbildung und versucht, Einblicke in die breite Palette der Kommunikationsberufe (Journalismus, Public Relations, Werbung, Medienmanagement, Onlinekommunikation etc.) zu bieten. (Pflicht-)Praktika ergänzen in aller Regel ihr Lehrprogramm.
[119]• Fachhochschulstudiengänge: Sie leisten eine ressortbezogene Grundausbildung, vermitteln gleichzeitig eine (in aller Regel mehrmediale) praktisch-handwerkliche Ausbildung (Print, Funk, Online) sowie medien- und berufskundliches Wissen.
• Studienbegleitende Akademien: Sie vermitteln Studierenden aller Studienrichtungen begleitend zum Studium (vorwiegend in der vorlesungsfreien Zeit) eine intensive praktisch-handwerkliche (Print oder Funk oder Online) sowie medien- und berufskundliche Ausbildung in Form von mehrwöchigen bzw. mehrmonatigen Kompaktkursen und ergänzenden (Wochenend-)Seminaren.
• Berufsbegleitende Akademien: Sie bieten für bereits im Beruf stehende Journalisten (v. a. für Jungjournalisten) und sog. Seiteneinsteiger mehrmonatige bzw. mehrwöchige, vorwiegend praktischhandwerkliche Ausbildungskurse (Print, Funk, Online) sowie mehrtägige medien-, berufs- oder ressortkundliche Fortbildungsseminare.
• Journalistenschulen in Medienbetrieben: Sie leisten (meist) eine crossmediale praktisch-handwerkliche Ausbildung, die durch medien- und berufskundliche Ausbildungsinhalte (darunter auch Medienökonomie) ergänzt wird.
Was die Ausbildungsinhalte betrifft, so besteht Übereinkunft darüber, dass Journalisten – v. a. jene, die bei den klassischen Medien im Informationsbereich arbeiten – über eine möglichst umfassende und breit angelegte Ausbildung verfügen sollten. Fünf Gebiete sind anzusprechen (vgl. Pürer 1996b, S. 402f):
1) | Eine solide, nach Möglichkeit mehrmediale praktisch-handwerkliche Ausbildung; also die Kenntnis der journalistischen Tätigkeiten, Darstellungsformen und Gestaltungstechniken. Eine mehrmediale Ausbildung (Print, Funk, Fernsehen, Online) erhöht die Berufsmobilität zwischen den Medien. |
2) | Ein fundiertes, allgemeines gesellschaftliches Grundlagenwissen mit Kenntnissen über Staat, Politik, Recht, Gesellschaft und Kultur. Es ermöglicht im Bedarfsfall den Einsatz des Journalisten in mehreren Ressorts. |
3) | Ein umfassendes Ressortwissen in Politik oder Wirtschaft oder Kultur oder Sport oder Sozialem etc. Es ist unerlässlich für jenes Ressort, in welchem man vorwiegend arbeitet und für das man ohne Spezialwissen nicht mehr auskommt. |
4) | Die Grundlagen der Methoden und Techniken der Sozial- und Medienforschung. Journalisten sind oft mit empirischem Datenmaterial konfrontiert, dessen Entstehung und Qualität sie unbedingt beurteilen können sollten. |
5) | Eine gute Kenntnis des Medien- und Berufswissens, um über eigene Rechte und Pflichten genau Bescheid zu wissen. |
Zu ergänzen ist dieser Katalog um Ausbildungsinhalte, die aus dem Vorhandensein neuer Kommunikations- und Medienangebote in Onlinemedien wie Blogs, soziale Gemeinschaften, Kurznachrichtendienste, Kommentarfunktionen und andere Kommunikationsanwendungen und -möglichkeiten resultieren.
Aus diesem Ausbildungskatalog ergeben sich Kompetenzen, über die Journalisten verfügen sollten. Weischenberg hat 1990 auf drei Schlüsselkompetenzen hingewiesen (Weischenberg 1990): die Fach- und Organisationskompetenz (das Handwerk und das Medienwissen), die Sachkompetenz (das Ressortwissen) sowie die Vermittlungskompetenz (die mediengerechte Artikulationsfähigkeit). Claus Eurich spricht die folgenden Kompetenzen an: die Selektionskompetenz (Herstellung und Wahrung des Blicks auf und für das Wesentliche); die Recherchekompetenz (Auffinden und Prüfen der Seriosität von Quellen, systematisches Gegenrecherchieren etc.); die Kontextkompetenz [120](ereignisbezogen Schnittstellendimensionen freilegen, neue Themenfolgen erschließen etc.); die Vermittlungskompetenz (Sprachkompetenz, Kompetenz der Stilformen, Kompetenz der Visualisierung etc.); die Reflexionskompetenz (Berücksichtigung sozialer Prozesse und ontologischer Komponenten) und die Sozialkompetenz (Bedachtnahme auf den Umstand, dass durch die Folgen journalistischer Tätigkeit im weitesten Sinne die Herstellung und Verstärkung von gesellschaftlichem Sinn und Eigensinn erfolgt) (vgl. Eurich 1998, S. 16).
Die European Journalism Training Organisation (EJTA) hat 2006 mit Blick auf die Veränderungen, durch die der Journalismus infolge des Internets gekennzeichnet ist, den nachfolgend genannten Kompetenzenkatalog entwickelt (hier in Übernahme von Steffen Burkhardt 2009, S. 10–12):
• Reflexionskompetenz: Kenntnis der gesellschaftlichen Grundwerte, Entwicklung des Mediensystems sowie der Zielgruppen journalistischer Produkte. Bedeutung des Journalismus in modernen Gesellschaften, seine Verantwortung, seinen Einfluss. »Journalisten müssen die Werte, die durch ihre professionellen Entscheidungen zum Ausdruck gebracht werden, erkennen, benennen und begründen können« (Burkhardt 2009, S. 10).
• Vermittlungskompetenz: Öffentlichkeitswirksame Inhalte identifizieren, sie mediengerecht für spezifische Zielgruppen aufbereiten, analytischer Zugang zu aktuellen Ereignissen, Kenntnisse der Nachrichtenfaktoren, Verständnis der Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen von Medien, Medieninstitutionen und Medienprodukten. »Nur wer Ereignisse für spezifische Zielgruppen selektieren kann, ist journalistisch in der Lage, öffentliche Diskurse, Diskussionen und Debatten reflektiert zu gestalten« (Burkhardt 2009, S. 11).
• Planungs- und Organisationskompetenz: realistische Arbeitspläne erstellen und umsetzen können. »Journalistinnen und Journalisten sollten dabei trotz Außendrucks zielführend arbeiten können und flexibel genug sein, spontan auf unerwartete Entwicklungen angemessen zu reagieren« (ebd.).
• Informationskompetenz: Informationen nachrichtlich erfassen und verarbeiten können, Kenntnis von Informationsquellen/Informanten, Referenzpublikationen, Datenbanken, Nachrichtenagenturen, Fähigkeit, Quellen zu hinterfragen, Beiträge durch (Double-)Checks objektivieren. »Vor allem durch die neuen Medien wird Informationskompetenz auch als Basis für einen Interaktionsprozess verstanden und in einem weiteren Sinn als Fähigkeit gesehen, mit der Gesellschaft informierend zu interagieren« (ebd.).
• Selektionskompetenz: Zwischen relevanten und weniger relevanten Aspekten unterscheiden können, richtig gewichten; Informationen korrekt, akkurat, zuverlässig und vollständig verarbeiten und sie in den richtigen Kontext setzen können. »Bei der Selektion müssen sie Informationen für ein spezifisches Medium verarbeiten und die Folgen ihrer Auswahl für die Zielgruppe, die Gesellschaft (zunehmend auch aus interkultureller Perspektive), die Informanten, die Betroffenen und sich selbst abwägen« (Burkhardt 2009, S. 10f).
• Strukturierungskompetenz: Kenntnis der Darstellungsformen, für spezifische Inhalte angemessen Form wählen, auf Erzählstrukturen achten »und die Strukturen der Informationsaufbereitung auf die Bedürfnisse eines Medienprodukts abzustimmen« (Burkhartd 2009, S. 11).
• Präsentationskompetenz: Sich schriftliche und mündliche Sprachfertigkeit aneignen, Informationen möglichst auch crossmedial aufbereiten können (durch Verknüpfung von Texten, Bildern, Tönen, Videosequenzen); sich Genre-, Technik und Layoutkenntnisse aneignen. »Ziel ist dabei nicht, alles zu können, sondern eine Koordinationsfähigkeit für die Arbeit im Team zu entwickeln und z. B. Techniker in Hinblick auf eine sinnvolle Präsentation von Themen anzuleiten« (ebd.).
• Evaluationskompetenz: Eigene Arbeit und die anderer auf Basis von Qualitätskriterien bewerten können. Die Evaluationskompetenz »erfordert eine Offenheit für kritische Selbst- und Fremdevaluation als konstruktiver Voraussetzung zu Weiterentwicklung der journalistischen Arbeit und die Bereitschaft, Verantwortung für die Folgen von Veröffentlichungen zu übernehmen« (ebd.).
[121]• Soziale Kompetenz: Sozial akzeptierte Umgangsformen, Engagement und Initiative in der Teamarbeit, Erkennen und Beachten von hierarchischen Beziehungen. Die soziale Kompetenz »setzt die Kenntnis der beruflichen Aufgabe, persönlicher Stärken und Schwächen und die Reflexion von Kolleginnen und Kollegen voraus« (ebd.).
Im Zusammenhang mit dem Thema Ausbildung sei noch kurz die Frage angesprochen, welche Stadien ein Journalist durchschreitet, wenn er im Zuge des Eintritts in eine Redaktion gleichsam schrittweise die journalistische Berufsrolle übernimmt. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der allgemein als berufliche Sozialisation bezeichnet wird und den es in allen anderen Berufen auch gibt. Sie geht im Wesentlichen in drei Etappen vor sich (vgl. Rühl 1971, Langenbucher 1971; Gruber 1976, Gottschlich 1980): In der Rekrutierungsphase (unmittelbar vor Berufseintritt) sind die soziale Herkunft des Journalisten, v. a. aber seine Vorstellungen über den Beruf, seine Erwartungen an den Beruf sowie seine Motivation von Bedeutung. Es konnte festgestellt werden, dass Journalisten eher der Mittel- und Oberschicht entstammen, sie den Beruf ergreifen, weil sie sich ein hohes Maß an Selbstverwirklichung erwarten und mit dem Beruf oftmals idealistische Erwartungen verbunden sind (die Welt verbessern, Macht ausüben können, anderen helfen). In der Konkretisierungsphase, also während der redaktionellen Ausbildung, erhält der in die Redaktion Eintretende vielfältige An- und Unterweisungen, lernt Sanktionsmöglichkeiten (Lob, Tadel) kennen und erfährt bei Bewährung auch berufliche Förderung. In dieser Phase übernimmt oder antizipiert er bewusst oder unbewusst Verhaltensregeln, verinnerlicht allmählich die in der Redaktion geltenden Werte, passt sich an und übt vielleicht auch Selbstzensur. Kurz: Er lernt die Diskrepanz zwischen Berufsvorstellungen und -erwartungen einerseits und der Berufswirklichkeit andererseits kennen. In der Konsolidierungsphase, nach dem Ende der Ausbildung, kommen die Ergebnisse beruflicher Sozialisation zum Tragen: Die redaktionellen Mitgliedsregeln und die Berufsethik werden übernommen, es bildet sich das persönliche Berufsverständnis heraus. Die Grundmuster berufsspezifischer Vorstellungsbilder wie berufliche Autonomie, moralische Integrität sowie das Gefühl persönlicher Kompetenz verfestigen sich.
4.1.1.4 Berufsbild und Berufsstruktur
Wie erwähnt, ist die Berufsbezeichnung Journalist in Deutschland und zahlreichen anderen demokratischen Ländern westlicher Prägung nicht geschützt: Rein rechtlich kann sich jeder als Journalist bezeichnen. Es gibt daher auch kein allgemein verbindliches Berufsbild. Und angesichts der Fülle journalistischer Berufe mit je unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Tätigkeitsmerkmalen verwundert es folglich nicht, dass neuere Definitionen von »Journalist« bzw. »Journalismus« in aller Regel eher allgemein gehalten sind. So definiert z. B. Manfred Rühl Journalismus (aus systemtheoretischer Sicht) als »Herstellung und Bereitstellung von Themen zur öffentlichen Kommunikation« (Rühl 1980, S. 319), wobei das Kennzeichen der Themen, die der Journalismus bereitstellt, das Aktualitätsprinzip ist.
Gleichwohl haben »seit jeher die Strukturdefinitionen im Berufsbild des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) eine starke normative Kraft ausgeübt« (Donsbach 1999a, S. 489) und zumindest in der Praxis weithin Anerkennung gefunden. Vergleicht man die Berufsbilder des 1949 gegründeten DJV von den Anfangsjahren bis zur Gegenwart, so hat sich der Journalismus entlang dreier Dimensionen bis heute verändert, wie Donsbach festhält: So ist 1) ein Wandel vom Journalismus als Begabungsberuf zum Ausbildungs- und Qualifikationsberuf feststellbar; wird 2) der sog. »subsidiäre Journalismus«, also Tätigkeiten in der Öffentlichkeitsarbeit, in das Berufsbild integriert; und schließlich werden 3) Tätigkeitsmerkmale und Arbeitsformen an die technischen und wirtschaftlichen Veränderungen [122]in der Medienwelt angepasst (vgl. Donsbach 1999a, S. 490). Die derzeit gültige Definition des Berufsbildes des DJV lautet (DJV 2012):
»Journalistin/Journalist ist, wer nach folgenden Kriterien hauptberuflich an der Erarbeitung bzw. Verbreitung von Informationen, Meinungen und Unterhaltung durch Medien mittels Wort, Bild, Ton oder Kombinationen dieser Darstellungsmittel beteiligt ist:
1) | Journalistinnen und Journalisten sind fest angestellt oder freiberuflich tätig für Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Anzeigenblätter oder aktuelle Verlagsproduktionen), Rundfunksender (Hörfunk und Fernsehen), digitale Medien, soweit sie an publizistischen Ansprüchen orientierte Angebote und Dienstleistungen schaffen, Nachrichtenagenturen, Pressedienste, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Wirtschaft, Verwaltung und Organisationen sowie in der medienbezogenen Bildungsarbeit und Beratung. |
2) | Zu journalistischen Leistungen gehören vornehmlich die Erarbeitung von Wort und Bildinformationen durch Recherchieren (Sammeln und Prüfen) sowie Auswählen und Bearbeiten der Informationsinhalte, deren eigenschöpferische medienspezifische Aufbereitung (Berichterstattung und Kommentierung), Gestaltung und Vermittlung, ferner disponierende Tätigkeiten im Bereich von Organisation, Technik und Personal. |
3) | Journalistinnen und Journalisten üben ihren Beruf aus als freiberuflich Tätige oder als Angestellte eines Medienunternehmens bzw. im Bereich der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit eines Wirtschaftsunternehmens, einer Verwaltung oder einer Organisation. |
Freie Journalistinnen und freie Journalisten sind tätig
• regelmäßig für einen oder mehrere Auftraggeber auf der Grundlage individueller Vereinbarungen oder tariflicher Verträge,
• für ein oder mehrere Unternehmen auf der Grundlage von Vereinbarungen im Einzelfall oder ohne Auftrag, indem sie journalistische Beiträge erarbeiten und den Medien anbieten.
Freie Journalistin/freier Journalist ist auch, wer Inhaber oder Anteilseigner eines Medienbüros ist oder im Zusammenschluss mit anderen freien Journalistinnen oder Journalisten arbeitet, sofern die journalistische Tätigkeit dabei im Vordergrund steht. Angestellte Journalistinnen und Journalisten arbeiten auf der Basis des geltenden Arbeitsrechts und bestehender Tarifverträge.«
Aus der sehr detaillierten Beschreibung geht hervor, dass das Berufsbild im Hinblick auf das Arbeitsverhältnis (fest angestellt oder freiberuflich), auf die Medien (Presse, Rundfunk, Online-, Offlinemedien, Öffentlichkeitsarbeit etc.), auf die Tätigkeitsmerkmale (Recherchieren, Auswählen, Aufbereiten, Gestalten etc.) und auf die Unternehmensart (Medienunternehmen, Wirtschaftsunternehmen, Verwaltung, Organisation) konkretisiert wird. Es bezieht damit einen möglichst umfassenden Kreis von Personen ein, die in Kommunikationsberufen tätig sind. Dies ist nicht zuletzt berufspolitisch für die Verbände selbst (hohe Mitgliederzahlen) sowie für die jeweils Betroffenen (Tarifverträge) von besonderer Bedeutung.
Es ist wiederholt versucht worden, Daten zu Berufsbild, Berufsstruktur, Selbstbild und Fremdbild der Journalisten in Deutschland zu ergründen. Es ist dies forschungstechnisch gar nicht so einfach zu bewerkstelligen: So liegen keine Berufslisten oder Berufsverzeichnisse vor, in die Einsicht genommen werden könnte. Und auch die Berufsverbände sind aus Gründen des Datenschutzes in aller Regel nicht bereit, die Namen ihrer Mitglieder bekannt zu geben. Daher sind Journalismusforscher weitgehend auf die Bereitschaft von Medienbetrieben angewiesen, wenn sie Informationen über die Anzahl der journalistisch Beschäftigten erhalten oder sich für Zwecke wissenschaftlicher Befragungen (mittelbaren oder unmittelbaren) Zugang zu Journalisten verschaffen wollen. Nicht [123]selten stößt man dabei unter den Journalisten auch auf eine beträchtliche Zahl von Antwortverweigerern. Es verwundert dies bei einer Berufsgruppe, die anderen Personengruppen – berufsbedingt natürlich – sehr gerne auf die Finger, unter den Teppich (und mitunter sogar in die Betten) schaut. Möglicherweise ist aber ein Grund auch darin zu sehen, dass zahlreiche Fragebögen – nicht zuletzt von Studierenden der Journalistik oder Kommunikationswissenschaft – auf den Schreibtischen der Journalisten landen, deren Bearbeitung oftmals viel Zeitaufwand bedeutet.
Unter den zahlreichen empirischen Studien, die es über Journalisten in Deutschland seit Ende der 1960er- bzw. Anfang der 1970er-Jahre gibt, seien hier aus Platzgründen jene herausgehoben, die medienübergreifende Gesamtdarstellungen umfass(t)en. Es sind dies Mitte der 1970er-Jahre vorgelegte Studien, Anfang der 1990er-Jahre (nach der Wiedervereinigung) erstellte Studien sowie zwischen 2005 und 2009 entstandene Journalistenbefragungen. Dazu im Einzelnen:
Journalistenenquete 1974, Synopse »Journalismus als Beruf« 1977
1974 erarbeitete die Arbeitsgemeinschaft für Kommunikationsforschung (AfK) München eine – leider nicht veröffentlichte, sondern nur als vervielfältigter Forschungsbericht vorliegende – repräsentative »Journalistenenquete« (vgl. Böckelmann 1993, S. 56ff). 1977 folgte – ebenfalls von der AfK München – die Forschungssynopse »Journalismus als Beruf« (vgl. Böckelmann 1993, S 58ff). Auch sie liegt nur als vervielfältigtes Manuskript vor. Bei ihr handelte es sich u. a. auch um eine Auswertung von Kernstudien, deren Datenmaterial zugänglich und einigermaßen vergleichbar war (vgl. ebd.). Damals gab es in der Bundesrepublik (also nur Westdeutschland) »etwa 25.000 Journalisten«, unter ihnen mehr als 4.500 freie Journalisten und etwas mehr als 1.500 Volontäre und Praktikanten (ebd.). Die meisten von ihnen arbeiteten bei Tages- und Wochenzeitungen (6.500). »Etwa 3.000 Journalisten waren beim Rundfunk [damals nur öffentlich-rechtlicher Rundfunk – H. P.] und sonstigen AV-Medien tätig« (Böckelmann 1993, S. 59). Die Befragten hielten mehrheitlich (»zwischen der Hälfte und zwei Dritteln«) den Journalismus »für einen ›Beruf für Idealisten‹«, Beziehungen wurden für Karrieren als wesentlich erachtet (Böckelmann 1983, S. 60). Im Rollenverständnis der Befragten dominierte die Auffassung, »politische und gesellschaftliche Prozesse kritisch zu kommentieren und zu kontrollieren« (ebd.), daneben gab es noch »die Rollenvorstellung vom Journalisten als Anwalt unterprivilegierter […] Bevölkerungsgruppen« (ebd.). Das Berufsbild befand sich damals infolge »zunehmender Rationalisierung und Technisierung der journalistischen Berufstätigkeit« im Umbruch (ebd.). Zur Erklärung: Die Einführung elektronischer Systeme der Zeitungsproduktion – und damit die Verlagerung technischer Arbeiten aus dem Bereich Satzherstellung in die Redaktion – stand damals bevor.
Journalismus in Deutschland [I], Sozialenquete 1992
Weiters zu erwähnen sind die 1992 entstandenen Berufsstudien über »Journalismus in Deutschland[I]« (Weischenberg et al. 1993f; 1.500 schriftlich Befragte) sowie die »Sozialenquete über die Journalisten in der Bundesrepublik Deutschland« (Schneider et al. 1993f; 1.500 Telefoninterviews). Beide Studien beanspruchten Repräsentativität, gelangten aber infolge unterschiedlicher methodischer Designs zu mitunter mehr oder weniger voneinander abweichenden Ergebnissen. 1992 gab es im wiedervereinten Deutschland 32.000 (Sozialenquete) bzw. 36.000 (Journalismus in Deutschland) hauptberuflich tätige Journalisten, hinzu kamen rund 18.000 bis 20.000 freie Mitarbeiter. In der Summe ergab dies etwa 52.000 bis 55.000 Journalisten. Größter Arbeitgeber waren die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, [124]gefolgt von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sowie vom privaten Rundfunk (Radio, TV). Die zumindest tendenziell vergleichbaren Ergebnisse der beiden Studien lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Im Jahr 1992 waren Journalisten eine relativ junge Berufsgruppe mit einem Durchschnittsalter von 37 Jahren. Der Anteil der Frauen lag im Bundesdurchschnitt bei 30 Prozent (in Ostdeutschland höher als in Westdeutschland). Das monatliche Durchschnittseinkommen betrug damals rund 2.045 Euro netto. Die Berufszufriedenheit war hoch, besonders geschätzt wurde die berufliche Autonomie. Mit Blick auf Berufsverständnis bzw. Rollenbild stand die Informationsfunktion an erster Stelle, gefolgt von Kritik- und Kontrollaufgaben. Die Befragten verfügten über ein recht positives Publikumsbild (»aufgeschlossen«, »gut informiert«, »politisch interessiert«), bei politischen Präferenzen wurde von den Befragten die SPD besser bewertet als andere Parteien. Was ethische Fragen betraf, so standen die ostdeutschen Journalisten unfairen Methoden der Informationsbeschaffung deutlich zurückhaltender gegenüber als die westdeutschen. Junge Journalisten standen der Berufsethik unbekümmerter gegenüber als ältere. Wichtigste Orientierungsmedien der Journalisten waren Der Spiegel und die Süddeutsche Zeitung sowie Tagesthemen (ARD) und Tagesschau (ARD). Die Arbeitszeit betrug im Wochendurchschnitt 46 Stunden und stieg mit höherer Berufsposition. Den größten Zeitaufwand nahm bei Printjournalisten die Recherche, bei Funkmedien die technisch aufwändigere Produktion ein. Bei den journalistischen Ausbildungswegen dominierte mit Abstand das Volontariat. In der Summe waren die Journalisten damals eine relativ homogene Berufsgruppe, eine ausgeprägte Tendenz zur »Selbstreferenz« war nicht zu übersehen: Externe Einflüsse wurden gering bewertet, hohe Beachtung kam der Kollegenorientierung zu.
Journalismus in Deutschland [II]
Mit der 2006 als Buchpublikation veröffentlichen Studie »Die Souffleure der Mediengesellschaft« legten Siegfried Weischenberg, Maja Malik und Armin Scholl einen umfassenden »Report über die Journalisten in Deutschland« vor (Weischenberg et al. 2006b). Kernbefunde der Studie wurden 2006 auch als Aufsatz vorab publiziert (Weischenberg et al. 2006a). Das Design des Journalistenreports 2006 entsprach weitestgehend jenem der 1993 publizierten Studie »Journalismus in Deutschland« (Weischenberg et al. 1993ff). Die Resultate der umfangreichen quantitativen und repräsentativen Erhebung beruhen auf den Antworten von 1.536 repräsentativ im Frühjahr 2005 telefonisch (mittels CATI) befragten, festangestellten oder freien Journalistinnen und Journalisten aus Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, Anzeigenblättern, Hörfunk- und Fernsehsendern, Onlinemedien, Nachrichtenagenturen und Mediendiensten. Als Journalisten werden den Autoren der Studie zufolge (relativ eng) diejenigen Personen bezeichnet, »die hauptberuflich und hauptsächlich damit beschäftigt sind, aktuelle, auf Tatsachen bezogene und (für ihr Publikum) relevante Informationen zu sammeln, zu beschreiben und in journalistischen Medien zu veröffentlichen« (Weischenberg et al. 2006b, S. 31).
2005 gab es in Deutschland hochgerechnet etwa 48.000 hauptberuflich tätige Journalisten – festangestellt oder als hauptberuflich Freie. Gegenüber 1993 (damals rund 54.000) sind dies immerhin rund 6.000 weniger, wobei das Minus hauptsächlich auf die rückläufige Zahl von hauptberuflichen Freien – insgesamt stellen diese 12.000 bzw. ein Viertel – zurückzuführen ist (vermutlich aber auch auf die relativ eng gehaltene Definition von Journalist). Die Zahl der festangestellten Redakteure dagegen ist mit rund 36.000 gegenüber 1993 stabil geblieben (vgl. Weischenberg et al. 2006b, S. 36f). (Die mehr als 7.000 Journalisten, die bei der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2005 als arbeitslos gemeldet waren, sind in der Statistik nicht enthalten).
[125]Die Autoren eruierten Befunde zu klassischen Fragen der journalistischen Berufsforschung, u. a. also: in welchen Medien und Ressorts die Journalisten arbeiten; welche Merkmale und Einstellungen sie aufweisen; wie es um ihre Berufszufriedenheit bestellt ist; über welches Rollenbild sie verfügen; wie sie sich informieren und welche ihre Leitmedien sind; wonach sie sich richten und wie es um ihre Moral bestellt ist. Holzschnittartig - und damit naturgemäß verkürzt - lässt sich der deutsche Journalist kompakt wie folgt beschreiben:
Er ist männlich (63 Prozent), knapp 41 Jahre alt (1993: 37 Jahre), entstammt der Mittelschicht, verfügt über einen Hochschulabschluss (69 Prozent) und hat ein Volontariat absolviert (63 Prozent). Er arbeitet bei einem Printmedium (61 Prozent), verdient ca. 2.300 Euro netto monatlich (1993: umgerechnet 2.000 Euro), lebt in einer festen Partnerschaft (71 Prozent) und ist kinderlos (57 Prozent). Er positioniert sich weltanschaulich »eher links von der Mitte« und sieht sein Medium »mehr oder weniger rechts von der Mitte« (Weischenberg et al. 2006b, S. 70). Sein berufliches Selbstverständnis ist vom Informationsjournalismus geprägt (vgl. Weischenberg et al. 2006b, S. 192ff). Wichtige Orientierungsmedien sind für ihn die Süddeutsche Zeitung (35 Prozent) und Der Spiegel (34 Prozent) sowie die ARD-Tagesschau (19 Prozent) und weitere andere, aber weniger regelmäßig genutzte Medien (vgl. S. 132ff). Weitere Resultate sind:
Frauen: Der Anteil der Frauen im Journalismus macht 37 Prozent aus (1993 waren es knapp ein Drittel, in den 70er-Jahren 20 Prozent); unter den Berufsanfängern stellen sie erfreulicher Weise bereits die Hälfte (50,3 Prozent). Frauen nehmen insgesamt nur zu gut einem Fünftel (22 Prozent) leitende Posten ein und verdienen im Durchschnitt immer noch weniger als ihre männlichen Kollegen. Vier von fünf Chefredakteuren sind männlich (vgl. S. 45ff). Auf der mittleren Führungsebene hat indessen »etwas mehr Bewegung stattgefunden« (ebd): knapp 29 Prozent der Ressortleiter und Chefs vom Dienst sind weiblich (1993: 20 Prozent). Journalistinnen sind überwiegend in Ressorts bzw. für Themen wie Mode, Wellness, Lifestyle, Gesundheit, Familie, Kinder, Soziales tätig. Diese Verteilung spiegelt »weitgehend altbekannte Rollenmuster wider« (Weischenberg et al. 2006b, S. 48), wenngleich »die Geschlechtergrenzen in den zentralen Ressorts des Journalismus langsam aufzuweichen [scheinen]« (ebd.) und Frauen »nicht mehr nur in den vermeintlichen Randbereichen des Journalismus vertreten [sind]« (Weischenberg et al. 2006b, S. 49). Vom Segment der Zeitungen abgesehen sind Frauen »in den zentralen Ressorts und zentralen Medien mindestens entsprechend dem Frauenanteil im Journalismus insgesamt repräsentiert« (ebd.).
Ausbildung: Bezüglich weiterer Ergebnisse sei erwähnt, dass z. B. der Ausbildungsweg der Journalisten bislang »keinerlei Einfluss auf ihre spätere berufliche Position und nur wenig Einfluss auf ihr Gehalt« hat (S. 68). Unter den journalistischen Ausbildungswegen stehen Praktikum (69 Prozent) und Volontariat (62 Prozent) unangefochten an der Spitze, ein Studium der Journalistik weisen 14 Prozent der Befragten auf, jenes der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft 17 Prozent. Unter den universitären Studienrichtungen stehen Germanisitik/Literatur- und Sprachwissenschaften mit 25 Prozent an der Spitze (Weischenberg et al. 2006b, S. 67f).
Medientyp: Innerhalb der Medienbereiche hat es seit 1993 Verschiebungen gegeben (vgl. Weischenberg et al. 2006b, S. 37ff): So sind bei Fernsehen und Hörfunk sowie allgemein bei Zeitschriften prozentuell vergleichsweise mehr Journalisten tätig als 1993; bei Zeitungen, Anzeigenblättern, Agenturen und Mediendiensten prozentuell weniger. Bei Onlinemedien arbeiten 5 Prozent, unter ihnen eine beträchtliche Anzahl fester Freier. Auf diese Gruppe, die Freien, greifen nun in vergleichsweise stärkerem Ausmaß auch Fernsehen und Hörfunk zurück (vgl. Weischenberg et al. 2006b, S. 40).
Rollenbild: »Größte Zustimmung von den Journalisten erhalten […] Rollenbilder, die auf Information und Vermittlung gerichtet sind«: »das Publikum möglichst neutral und präzise informieren« (89 Prozent); »komplexe Sachverhalte erklären und vermitteln« (79 Prozent); »dem Publikum möglichst schnell Informationen vermitteln« (74 Prozent); »Realität genau so abbilden, wie sie ist« [126](74 Prozent). Wichtig erscheint den Journalisten aber auch, Kritik an Missständen zu üben (58 Prozent), den Menschen Gehör zu verschaffen (34 Prozent), sich für Benachteiligte in der Bevölkerung einzusetzen (29 Prozent), Bereiche wie Politik und Gesellschaft zu kontrollieren (24 Prozent). Dagegen wollen nur 14 Prozent »die politische Tagesordnung beeinflussen und Themen auf die politische Agenda setzen« (Weischenberg et al. 2006b, S. 106f). Absicht und Rollenumsetzung (tatsächliche Handlungsrelevanz) weichen jedoch voneinander ab, wobei es auch mediale Unterschiede (Medientyp) gibt (Weischenberg et al. 2006b, S. 107ff).
Tätigkeiten: Die Wochenarbeitszeit beträgt den Angaben der Befragten zufolge 45 Stunden (und ist damit um eine Stunde weniger als 1993). Der tägliche zeitliche Aufwand für die Recherche beträgt 117 Minuten, jener für das Auswählen 33 Minuten, für das Redigieren des Informationsmaterials 33 Minuten, für das Redigieren der Texte von Kollegen und Mitarbeitern 55 Minuten. »Gleich geblieben ist mit zwei Stunden auch die Zeit, die für das Texten und Verfassen von Beiträgen aufgebracht wird […] wohingegen die Moderation (nur bei Rundfunkjournalisten) deutlich an Bedeutung verloren hat« (28 Minuten; 1993: 46 Minuten) (Weischenberg 2006b, S. 80f). Neu hinzugekommen sind Internettätigkeiten (Kommunikation und Recherche, 122 Minuten), E-Mail-Kontakte und Kommunikation mit dem Publikum (44 Minuten). Das Mitte der 1990er-Jahre neu hinzu gekommene Internet blieb für die Arbeit der Journalisten also nicht ohne Folgen.
Arbeitszufriedenheit: Die Arbeits- bzw. Berufszufriedenheit ist relativ hoch. Geschätzt wird v. a. das Verhältnis zu Mitarbeitern (93 Prozent), Arbeitskollegen (88 Prozent) und Vorgesetzten (74 Prozent). Hohe Wertschätzung genießt auch die Möglichkeit, sich die Arbeit selbst einzuteilen (79 Prozent) und mit der politischen und weltanschaulichen Linie des Medienbetriebs gut zurecht zu kommen. Auch mit der Qualität der Ausbildung sind die Befragten zufrieden (72 Prozent), die Fernsehjournalisten besonders. Mit der Höhe der Bezahlung sind 54 Prozent zufrieden, mit der beruflichen Sicherheit immerhin die Hälfte (50 Prozent). Aufstiegsmöglichkeiten werden von Chefredakteuren (56 Prozent) und Ressortleitern (46 Prozent) naturgemäß höher eingeschätzt als von Redakteuren (26 Prozent Zufriedene) oder Volontären (33 Prozent Zufriedene). Ähnlich sind die Verhältnisse bezüglich der beruflichen Absicherung (Weischenberg et al. 2006b, S. 89ff).
Arbeitsklima, Ethik, Publikumsbild: Das Arbeitsklima wird durchweg als gut bezeichnet, mit der Arbeitsbelastung am wenigsten zufrieden sind die Zeitungsjournalisten, »deren Redaktionen personell am meisten von der Medienkrise betroffen sind« (Weischenberg et al. 2006, S. 93). Gegenüber der Legitimität umstrittener Recherchemethoden herrscht noch stärkere Zurückhaltung vor als 1993, jüngere Journalisten sind vergleichsweise weniger zurückhaltend (vgl. Weischenberg et al. 2006, S. 174ff). Das Publikumsbild ist differenziert; im Durchschnitt wird es für politisch interessiert und gebildet, an Informationen noch mehr interessiert gehalten als an Unterhaltung und politisch überwiegend der Mitte zugeordnet (vgl. Weischenberg et al. 2006, S. 157ff).
Parteipräferenzen: Was die Parteipräferenzen der Befragten betrifft, so gaben 36 Prozent der Befragten an, eine Neigung für Bündnis 90/Die Grünen zu haben, gefolgt von 26 Prozent der Respondenten mit Neigung zur SPD, neun Prozent mit Neigung zu CDU/CSU, sechs Prozent mit Neigung zur FDP und ein Prozent zur PDS (heute: Die Linke). Weitere 20 Prozent geben an, ohne Parteineigung zu sein. Gegenüber 1993 finden die Grünen fast doppelt so viel Zuspruch (plus 19 Prozent), in der Altersgruppe der 36- bis 45-Jährigen ist er mit 42 Prozent am höchsten.
Bei den hier dargestellten Befunden handelt es sich nur um einige wenige (notgedrungen relativ undifferenziert wiedergegebene) Ergebnissplitter, vorwiegend nackte Daten. Die Studie enthält eine große Fülle von Erklärungen und Interpretationen dieser und weiterer Daten und Fakten, die ein differenziertes und facettenreiches Bild über die Berufsgruppe der Journalisten in Deutschland vermitteln. Die Autoren gelangen gegenüber 1993 zu einem Berufsbild, das auch die Folgen der Digitalisierung und der Wirtschaftskrise im Mediensektor zu spüren bekam; das Berufsfeld selbst hat sich [127]u. a. durch Fachmedien und spezielle Themengebiete sowie durch das Internet ausdifferenziert. Der Berufsstand franst seit geraumer Zeit bekanntlich an seinen Rändern aus, so etwa auch im Onlinejournalismus. »Man lernt, wie schwer es geworden ist zu entscheiden, ob jemand nun ein Journalist ist oder nicht. Diese Identifizierungsprobleme werden im Online-Zeitalter immer größer« (Weischenberg et al. 2006, S. 20). Die Studie wirft auch einen Blick auf die Wertschätzung von Berufen in der Bevölkerung, die für Journalisten laut Allensbacher Umfrage von 2005 mit 10 Prozent der Befragten sehr gering ist. Mittlerweile weist diese Wertschätzung wieder etwas bessere Ergebnisse auf (vgl. w. u.). In dem Band wird auch das Thema der sog. »Alphatiere« (z. B. Sabine Christiansen, Anne Will, Günther Jauch, Johannes B. Kerner, Hans-Ulrich Jörges, Sandra Maischberger etc.) im Journalismus angesprochen, teilweise konkretisiert an kontinuierlich gesammelten, veröffentlichten Äußerungen der Protagonisten bzw. betroffenen Medienstars selbst (Weischenberg et al. 2006, S. 52–53).
Mit Journalisten in Deutschland befasst sich auch eine 2009 veröffentliche, qualitative Studie (Meyen/Riesmeyer 2009). Befragt wurden mittels Leitfadeninterviews 501 nach dem Prinzip der theoretischen Sättigung ausgewählte deutsche Journalisten (vgl. Meyen/Riesmeyer 2009, S. 49ff). Die Studie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität, Verallgemeinerungen lässt sie infolge der relativ großen Zahl von Befragten tendenziell jedoch zu. Theoretisch basiert die Studie auf Bourdieus Konzept von Feld, Kapital und Habitus, aus welchem die Autoren eine Theorie des journalistischen Feldes herleiten (Meyen/Riesmeyer 2009, S. 25ff). Die Autoren finden u. a. heraus, dass sich viele Befragte dem Publikum verpflichtet fühlen, was Meyen/Riesmeyer dazu verleitet, von einer »Diktatur des Publikums« (so der Titel der Untersuchung) zu sprechen.
Eine empirische Studie über »Freie Journalisten in Deutschland« wurde 2009 von Michael Meyen und Nina Springer vorgelegt (Meyen/Springer 2009). Es handelt sich dabei um eine Onlinebefragung von 1.543 freien Journalisten, ergänzt um 82 Tiefeninterviews (vgl. Meyen/Springer 2009, S. 12). Dieser »Report« gibt u. a. Aufschluss über die Berufsstruktur, den Arbeitsalltag, das Selbstverständnis, die Auftragslage und die Berufszufriedenheit von freien Journalisten in Deutschland. Außerdem nahmen die Autoren eine Typenbildung vor. Durchgeführt wurde die Studie im Auftrag des Deutschen Fachjournalisten-Verbandes (DFJV).
Im Zusammenhang mit dem Berufsbild Journalismus ist schließlich auch auf Berufsauffassungen bzw. Berufsverständnisse zu verweisen, die im Journalismus vorzufinden sind. Dabei ist es nicht unproblematisch, journalistisches Handeln typischen beruflichen Rollenmustern zuzuordnen, zumal Journalisten nicht oder nur selten »ausschließlich einem einzigen Rollenmuster folgen. Vielmehr wechseln sie zwischen verschiedenen Rollen, wie es ihre Aufgabenstellungen eben von Fall zu Fall erfordern« (vgl. Haas/Pürer 1996, S. 355). Auch ist darauf hinzuweisen, dass für die Ausprägung journalistischer Berufsauffassungen individuelle wie mediensystemische Faktoren eine Rolle spielen. Dazu gehören u. a. persönliche Lebensläufe der Journalisten, ihre Bildungs- und Ausbildungswege sowie Erwartungen und Ansprüche an den Beruf. Zu erwähnen sind auch Erfahrungen der beruflichen Sozialisation, Sachzwänge des medienspezifischen Umfeldes und der konkreten Arbeitsbedingungen sowie Funktion und Position eines Journalisten innerhalb des Medienbetriebes selbst. Nicht zuletzt spielen für die Ausprägung des Berufsverständnisses aber auch Haltungen eines Journalisten zu den politischen und sozialen Funktionen des Journalismus und der Massenmedien eine Rolle (vgl. Haas/Pürer 1996, ebd.). Auf folgende, mehr oder weniger typische und auch empirisch vorfindbare journalistische Berufsauffassungen (Haas/Pürer 1996; Haas 1999) bzw. Journalismus-Konzeptionen (vgl. Bonfadelli/Wyss 1998; Haller 2004) ist zu verweisen (die hier nicht in ihren einzelnen Details beschrieben, sondern nur im kurz gerafften Überblick vorgestellt werden):
[128]• Objektive Vermittlung: Journalismus als neutrale Vermittlungsaufgabe bedeutenden Geschehens in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur; der Journalist als unparteiischer Vermittler, der Nachrichten möglichst faktengetreu und unverfälscht weitergibt; verzichtet auf Wertung und Bewertung, will Bürger unvoreingenommen informieren. Die Problematik ist folgende: Kann zum Verlautbarungsjournalismus abdriften, wenn er Hintergründe und Ursachen ausklammert, auf kritische Wachsamkeit verzichtet und an der Oberfläche bleibt (wird verkürzt gelegentlich auch »Informationsjournalismus« genannt).
• Kritik und Kontrolle: Journalismus als Aufgabe der Meinungsbildung und des Wächters der Demokratie; Kritikfunktion findet Ausdruck in prüfenden und kritisch bewertenden Beiträgen (wie Glossen, Kommentaren, Leitartikeln etc.); Kontrollfunktion in aufdeckend-enthüllenden Beiträgen. Dabei ergibt sich die Problematik, dass das Berufsverständnis mitunter getragen wird von der Auffassung, wonach Medien neben Legislative, Exekutive und Judikative eine »Vierte Gewalt« sein sollen; Journalismus und Medien sind dazu jedoch nicht legitimiert.
• Interpretativer Journalismus: Begnügt sich nicht damit, Fakten zu sammeln und zu referieren, sondern integriert sie in größere Zusammenhänge, recherchiert Hintergründe und bietet Analysen an; nicht die Weitergabe von Nachrichten ist wichtig, sondern besonders deren Bewertung; will Interpretationsweisen und Zusammenhangseinschätzungen von Wirklichkeit anbieten. Die Problematik dieser Berufsauffassung ist, dass sie mitunter einer individuellen, subjektiven Wirklichkeitssicht verfällt und sich als Hüter der Wahrheit zu gerieren (vorwiegend im Magazin-Journalismus vorfindbar) droht.
• Anwaltschaftlicher Journalismus: Ist geprägt von parteiischer (nicht parteipolitischer) Subjektivität und versteht sich als Advokat von Personen oder Gruppen, die selbst keinen Zugang zu Medien und Interessenvertretungen haben; versucht eher »von unten nach oben« zu vermitteln (für die Schwachen und gegen die Starken, für die Ohnmächtigen gegen die Mächtigen); sieht sich als »Kommunikationshelfer«: will dem sprachlosen Bürger Gehör in der Öffentlichkeit verschaffen; verzichtet durch parteiische Stellungnahme auf Sachlichkeit und Objektivität. Problematik: Kann Gefahr laufen, sich für unredliche Zwecke missbrauchen zu lassen oder aus Fanatismus sich in deren Dienst zu stellen.
• Investigativer Journalismus: Will der Öffentlichkeit vorenthaltene oder verschwiegene, gesellschaftlich aber relevante Informationen bekannt machen, Missstände und Machtmissbrauch aufdecken (to investigate = aufspüren) bzw. öffentlich machen; bedarf einer äußerst gründlichen Recherche (Tiefenrecherche) und entsprechenden Beweisführung (und wird auch »nachforschender Journalismus« oder – missverständlich – »Recherche-Journalismus« genannt); recherchiert (zunächst) nicht selten in verdeckter Form, also ohne dass dem Informanten das Ziel der Recherche bekannt ist; ergreift mitunter Partei und verzichtet auf Objektivität; der Journalist strebt mit prononciertem Standpunkt eine authentische Darstellung seiner Wirklichkeitssicht an. Das Problem ist, dass er dadurch einseitig berichten und unvollständig informieren kann. Fließender Übergang zum Enthüllungsjournalismus, dem Gefahr droht, dass Insider »aus dem Apparat« den Journalismus instrumentalisieren, indem sie Informationen für eigene Zwecke weitergeben.
• Präzisionsjournalismus: Möchte dem Vorwurf der Oberflächlichkeit begegnen und macht die Instrumente und Validitätskriterien der empirischen Sozialforschung zur Basis der journalistischen Recherche; Vorbild des Journalisten ist der (empirische) Forscher, der versucht, seine Themen umfassend und mittels sozialwissenschaftlicher Verfahren zu ergründen. Problem: Läuft Gefahr, in dilettierende (Pseudo-)Wissenschaft zu entarten und die Grenzen zwischen Journalismus und Wissenschaft zu verwischen.
[129]• New Journalism: Versucht, unter Rückgriff auf literarische Formen und Stilmittel Realität (oft aus der Sicht der Betroffenen) wiederzugeben, wobei der ästhetischen Ausdruckskraft des Journalisten Priorität zukommt; verzichtet bewusst auf die Trennung von Nachricht und Meinung sowie von Fiction und Nonfiction, mischt Fakten und Erfundenes; bedient sich dialogischer Formen und innerer Monologe. Stammt aus der Studentenbewegung und Hippie-Kultur der 60er-Jahre in den USA (Tom Wolfe, Truman Capote), fand und findet im deutschen Sprachraum sein Forum in Zeitgeist-Zeitschriften.
• Marketingjournalismus: Versteht als stark publikumsorientiertes Konzept den Journalisten als Dienstleister und den Rezipienten als Kunden und berücksichtigt dessen Bedürfnisse bei der Produktion journalistischer Angebote; Ziel ist die langfristige Zufriedenstellung der kommunikativen Bedürfnisse des Rezipienten. Läuft dabei jedoch Gefahr, in Kommerz-Journalismus abzudriften und rein ökonomischem Kalkül zu folgen (d. h. möglichst kostengünstig bei der Werbewirtschaft nachgefragte Publika als Waren abzusetzen).
• Public Journalism: Aus den USA kommend wird in jüngerer Zeit auch im deutschen Sprachraum auf den Public Journalism verwiesen: »Public Journalism nimmt fair an den gesellschaftlichen Diskursen in der demokratischen Gemeinschaft teil. Er fördert demokratische Lösungen gesellschaftlicher Probleme, ohne sich einseitig zum Anwalt für spezifische Lösungsvorschläge zu machen, und ist verantwortlich für die Resultate seiner Berichterstattung« (Forster 2007, S. 4; siehe auch Forster 2006).
Die hier dargestellten Journalismus-Konzeptionen finden sich in unterschiedlichen Ausprägungen in Presse und Rundfunk (und teilweise auch in Onlinemedien) wieder und sind in aller Regel auch theoretisch begründet (vgl. Haas 1999). Sie sind nicht zu verwechseln mit zumeist negativ beurteilten Erscheinungen im Journalismus wie dem »Sensationsjournalismus«, dem »Scheckbuchjournalismus«, dem »erschlichenen Journalismus«, dem »Katastrophenjournalismus« u. a. m. Der Sensationsjournalismus übertreibt. Der Scheckbuchjournalismus monopolisiert Information gegen Geld. Der erschlichene Journalismus täuscht bisweilen lautere Ziele vor. Der Katastrophenjournalismus arbeitet voyeuristisch mit den Gefühlen, Ängsten und Nöten sowohl seiner Objekte als auch des Publikums. Aus einer normativen, journalismus-kritischen Sicht manifestieren sich in diesen Journalismen Fehlleistungen eines nur noch auf Gewinn hin orientierten Mediensystems, in welchem der ökonomische Erfolg (Auflage, Reichweite) gleichsam die journalistische Ethik diktiert. Auch der partizipative Journalismus, im Zusammenhang mit Bürgerjournalismus und Nutzerbeteiligung bei Onlinemedien oftmals genannt, gehört (weitgehend) nicht zu den klassisch-professionellen Berufsauffassungen im Journalismus.
Simone Ehmig ist – im weiteren und allgemeineren Sinne des Wortes – journalistischen Berufsverständnissen deutscher Journalisten auf den Grund gegangen. Sie meint einen Generationswechsel im deutschen Journalismus festzustellen, und zwar unter dem Einfluss historischer Ereignisse auf das journalistische Selbstverständnis. So hätten zeitgeschichtliche Ereignisse das Selbstverständnis des deutschen Journalismus in drei Generationen geprägt: die »Berichterstatter« der Nachkriegszeit; den »Anwaltstypus« der 1970er und 1980er-Jahre; sowie den »Nachrichtenjäger« der 1990er-Jahre (vgl. Ehmig 2000).
Mit dem journalistischen Selbstverständnis – bzw. besser: mit Paradoxien im journalistischen Selbstverständnis – befasst sich Wolfgang Donsbach in seinem Beitrag »Im Bermuda-Dreieck« (Donsbach 2008). Für ihn umfasst das Rollen- oder Aufgabenverständnis von Journalisten »all jene Verhaltenserwartungen an den journalistischen Beruf, die von den Berufsangehörigen innerhalb einer Kultur als legitim erachtet und als Richtlinien für das eigene Handeln akzeptiert werden, sodass sie sich letztlich auch im journalistischen Arbeitsprodukt niederschlagen […]« (Donsbach 2008, S. 147). In demokratischen Gesellschaften speise sich das journalistische Selbstverständnis aus drei Traditionen, [130]nämlich (Donsbach 2008, S. 147ff): als individualrechtliche bzw. subjektive Tradition (Journalismus als »subjektives Menschenrecht, das der Selbstverwirklichung des frei geborenen Individuums« dient); als Tradition der sozialen und politischen Dienstleistung (»öffentliche Aufgabe«); und der Tradition des wirtschaftlichen Primats (»Geld verdienen und bestimmte gesellschaftspolitische Zwecke verfolgen«). Die drei Traditionen werden von Donsbach im Detail beschrieben.
4.1.1.5 Zum Image von Journalisten
Zu Image, Prestige, Ansehen, Vertrauen in und Glaubwürdigkeit von Journalisten liegen mehrere aktuelle Studien vor. Teils handelt es sich um schlichte Berufsrankings anhand vorgegebener Berufslisten wie etwa der Allensbacher Berufsprestigeskala oder dem GfK-Vertrauensindex, teils um wissenschaftliche Arbeiten wie jener von Sandra Lieske (2008) oder Wolfgang Donsbach et al. (2009). Allgemein wird von Imagestudien gesprochen, aus wissenschaftlicher Sicht ist mit genaueren Begriffen zu arbeiten. Das Image ist ein komplexes Konstrukt, um das herum Begriffe wie Prestige und Ansehen, v. a. aber Vertrauen und Glaubwürdigkeit konfigurieren. Es ist hier nicht möglich, auf sie im Einzelnen umfassend einzugehen, allenfalls können sie nur kurz umrissen werden (vgl. Pürer 2012).
Beim Image handelt es sich um »ein Fremdbild, eine Bündelung von Vorstellungen, Bewertungen, Ideen und Gefühlen, die mit einem Objekt [hier mit einem Beruf] verbunden werden« (Dernbach 2005, S. 145). Als Prestige »wird ausschließlich die gesellschaftlich typische Bewertung der sozialen Positionen und Merkmale von Menschen bezeichnet« (Hradil 2001, S. 277), von Bedeutung sind berufliche Positionen (S. 278). Ansehen meint »die Bewertung von Menschen aufgrund ihrer persönlichen Merkmale und Eigenschaften« wie Fleiß, Anständigkeit, fachliche Fähigkeit und Tüchtigkeit. Mit Vertrauen ist »eine gefühlsbeladene, Sicherheit verleihende Erwartungshaltung eines Menschen oder einer Mehrzahl von Personen […] hinsichtlich eines aufrichtigen, normgerechten und fairen Handelns anderer Individuen oder kollektiver Akteure« gemeint (Hillmann 2008, S. 940). Glaubwürdigkeit ist Teil des komplexen Mechanismus Vertrauen. Sie lässt sich mit Bentele »bestimmen als eine Eigenschaft, die Menschen, Institutionen oder deren kommunikativen Produkten (mündliche und schriftliche Texte, audiovisuelle Darstellungen) von jemandem in bezug auf etwas (Ereignisse, Sachverhalte etc.) zugeschrieben wird« (Bentele 1988, S. 406).
Images bilden sich beim Beobachter erst im Laufe der Zeit. Zur Entstehung von Images haben Maximilian Gottschlich und Fritz Karmasin (1979) sechs Kriterien ausfindig gemacht, die für »die soziale Positionierung von Berufen relevant sein dürften«: 1) eine vorstellbare Aufgabenbeschreibung; 2) das Wissen über den Werdegang dieser Personengruppe; 3) damit verbunden die Beschreibbarkeit des Tätigkeitsbereiches; 4) unmittelbare Kontaktmöglichkeit; 5) Vorstellungen über Berufs- und Verhaltenskodex sowie 6) »eine adäquate Einschätzung seiner sozialen Funktionen, d. h. die Wichtigkeit für die Gesellschaft« (Gottschlich/Karmasin 1979, S. 42). Für die Einschätzung eines Berufes ist bedeutsam, je eindeutiger ihm die genannten Kriterien zugeordnet werden können (vgl. ebd.). Dies gilt auch für Journalisten.
Für die Entstehung von Personenimages sind weiter Bilder von Bedeutung, die wir uns von einem Gegenüber, hier also von Journalisten, machen. Dafür stehen Evelin Engesser zufolge mehrere Quellen zur Verfügung (Engesser 2005, S. 31ff): 1) direkte Beobachtungen und Erfahrungen (persönliche Kontakte); 2) indirekte Beobachtungen wie a) mediale Darstellungen von Journalisten bei der Ausübung ihres Berufes; b) personale Darstellungen wie Biografien und Autobiografien; c) fiktionale Darstellungen von Journalisten in Film, Fernsehen, Literatur; d) Produkte journalistischer Arbeit, aus denen wir auf Journalisten schließen. 3) Auf der imaginären Ebene können es Erwartungen, Vorannahmen und Vorurteile sein, auch Para-Feedback-Prozesse.
[131]Im Weiteren sollen kurz Ergebnisse einiger aktueller Studien vorgestellt werden, die sich mit Prestige, Ansehen und Image von sowie Vertrauen in Journalisten befassen.
Berufsrankings
Der seit 1966 durchgeführten Allensbacher Berufsprestigeskala mit 18 gelisteten Berufen liegt der Journalist der Befragung von 2011 zufolge (1803 repräsentativ Befragte) mit 17 Prozent Zustimmung an 12. Stelle, der Fernsehmoderator mit nur 4 Prozent Zustimmung gar an letzter, also 18. Stelle. An der Spitze standen und stehen seit vielen Jahren Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer etc. (Institut für Demoskopie Allensbach 2011). Dem seit 2003 von der Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung (GfK) ermittelten GfK-Vertrauensindex mit 20 gelisteten Berufen rangiert der Umfrage von 2011 zufolge der Beruf Journalist in Deutschland mit 44 Prozent der Befragten auf Platz 16. An der Spitze lagen 2011 Feuerwehr, Ärzte und Postangestellte (GfK-Vertrauensindex 2011).
Weitere Umfragen zum Thema liegen in der Studie Journalismus 2009 der Makromedia-Hochschule (Journalismus 2009) und einer Imagestudie der Akademie für Publizistik Hamburg aus 2010 vor (Imagestudie 2010). Beide Studien vermitteln ein recht ambivalentes Bild der Berufsgruppe der Journalisten sowie in das Vertrauen zu den Medien.
Zu den nur über Berufsskalen ermittelten Ergebnissen über Prestige, Ansehen von oder Vertrauen in Berufe ist mehreres festzuhalten: 1) In den zur Beantwortung vorgelegten Fragebögen wird meist nicht definiert, was jeweils mit Prestige, Ansehen oder Vertrauen gemeint ist. 2) Es ist unmöglich, in die Berufslisten alle Berufe aufzunehmen, die Auswahl bzw. das Umfeld der gelisteten Berufe kann für die Resultate von Bedeutung sein. (vgl. Donsbach et al. 2009, S. 39; siehe auch Kunczik/Zipfel 2001, S. 151). 3) Die Befragten vermögen sich nicht über alle Berufe ein zuverlässiges Bild zu machen, am ehesten über Berufe, mit deren Vertretern man persönlich zu tun hat (wie etwa Verkäufer, Lehrer, Apotheker, Arzt etc.). 4) Das Urteil der Befragten kann auch vom Zeitpunkt der Umfrage beeinflusst sein: Sollte er zufällig mit öffentlich bekannt gewordenen Fehlleistungen einer Berufsgruppe, also etwa auch des Journalismus, zusammenfallen, sind die Befragten möglicherweise voreingenommen.
Wissenschaftliche Studien
Sandra Lieske untersuchte in ihrer Dissertation mittels qualitativer Leitfadeninterviews (24 Befragte, nicht repräsentativ) das Image von Journalisten (Lieske 2008). Dieses umfasst für sie aus der Sicht des Rezipienten »das objektiv richtige und falsche Wissen sowie subjektive, d. h. von der Persönlichkeit und den Erfahrungen des Einzelnen geprägte Vorstellungen, Einstellungen und Gefühle gegenüber Journalisten. Es wandelt sich im Laufe der Zeit, ist mit empirischen Methoden messbar und besitzt Handlungsrelevanz, da es das Verhalten des Einzelnen gegenüber Journalisten und Medieneinhalten steuert« (Lieske 2008, S. 25). Sie ermittelte neben vielem anderen (absolut auch Positivem für die Einschätzung des Berufs Journalist) zwei Typen von Journalisten, den ›seriösen‹ und den ›unseriösen‹ (Lieske 2008, S. 242ff, 287–291), wobei sie einräumt, und dies erscheint wichtig (!), dass die Reduzierung auf ein Zwei-Kategorien-Schema »zu kurz [greift]« (vgl. Lieske 290ff). Die Aussagekraft der Ergebnisse ist daher nur sehr begrenzt. Dem seriösen Journalist wird Berufserfahrung und hohe Allgemeinbildung zugesprochen, er ist u. a. vertrauensvoll, sympathisch, verantwortungsbewusst und interessiert an ausgewogener Berichterstattung; er informiert sachlich und äußert seine Meinung in erkennbarer Form. Er wird mit öffentlich-rechtlichem Fernsehen sowie mit Qualitätsjournalismus in Printmedien (wie Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit [132]etc.) in Verbindung gebracht. Anders der unseriöse Journalist, der jung und dynamisch eingeschätzt, aber u. a. als aufdringlich charakterisiert sowie teils mit unsachlicher Berichterstattung in Verbindung gebracht wird. Er hält sich nicht an journalistische Normen (u. a. illegitime Methoden der Informationsbeschaffung), verletzt die Privatsphäre leichter, hat einen schlechten Leumund, wird gar als »Schmierfink« (Lieske 2008, S. 289) gesehen. Er wird nicht ausschließlich, aber oft mit Boulevard- und Sensationsjournalismus in Verbindung gebracht, insbesondere mit der Bild-Zeitung (ebd.). Für dieses Bild des unseriösen Journalismus liefert die Verfasserin einen »Erklärungsversuch« (siehe dazu Lieske 2008, S. 278ff). Es empfiehlt sich, einen Blick auf die zahlreichen anderen Resultate der Studie im Einzelnen zu werfen.
Wolfgang Donsbach et al. wollten in ihrer quantitativen Studie (1.054 telefonisch repräsentativ Befragte) mit dem Titel »Entzauberung eines Berufs« (2009) u. a. ergründen, wie es um Ansehen und Vertrauen im Journalismus bestellt ist. Das öffentliche Ansehen eines Berufs wird in der Studie als Frage der Wertschätzung gesehen »und berührt das Sozialprestige« einer Profession (Donsbach et al. 2009, S. 62f). Vertrauen in den Journalismus »ist für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft […] wichtig« (Donsbach et al. 2009, S. 64). Anhand einer Liste von zehn vorgegebenen, breit gestreuten Berufen gaben 61 Prozent der Befragten an, dass sie Journalisten »eher schätzen«. Bei der Vertrauensfrage erhalten Journalisten nur 35 Prozent Zustimmung. Alle gelisteten Berufe werden mehr geschätzt als ihnen vertraut wird, bei keinem anderen klafft zwischen Wertschätzung/Ansehen und Vertrauen jedoch eine so große Lücke wie bei Journalisten, nämlich 26 Prozentpunkte. Es scheint, so die Autoren, als werde aus der Sicht der Bürger »der Journalismus seiner gesellschaftlichen Rolle nicht hinreichend gerecht und enttäuscht die Bevölkerung in ihren Erwartungen erheblich« (Donsbach et al. 2009, S. 66). Auch für diese Studie scheint es angeraten, die zahlreichen weiteren Resultate zu betrachten.
Mögliche Ursachen
Worin könn(t)en Ursachen für das negative, aber auch ambivalente Bild der Journalisten in der Bevölkerung liegen? In der Literatur finden sich u. a. die folgenden Gründe:
• unklare Vorstellungen in der Bevölkerung vom weitgesteckten Tätigkeitsbereich der Journalisten, über ihren Werdegang und ihre Ausbildung (Gottschlich/Karmasin 1979, S. 43f);
• Alltagserfahrungen der Menschen, dass »Informationen über [in den Medien berichtete – Ergänzung H. P.] Ereignisse […] nicht immer mit den Ereignissen selbst überein[stimmen]« (Bentele 1988, S. 407);
• Medienskandale bzw. lange Zeit zurückliegende negative Ereignisse wie etwa der Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher (Lieske 2008, S. 287);
• neben Medienskandalen u. a. auch die Entschleierung der kommerziellen Basis der Medien sowie etwa auch Negativismus in der Nachrichtenauswahl (Donsbach et al. 2009, S. 13ff);
• negative fiktionale Journalistenbilder in Filmen (vgl. Lieske 2008, S. 296) und, so darf man vermutlich ergänzen, auch in TV-Serien und Romanen (vgl. Engesser 2005).
Für Horst Pöttker sind Skandalisierung und Negativismus des Journalismus und der Medien nicht a priori schlecht: Beides resultiere aus der »grundlegenden Pflicht zum Veröffentlichen«, insbesondere über (tabuisierte) Missstände und Fehlleistungen, »die der Öffentlichkeit bedürfen, um bearbeitet und korrigiert zu werden« (Pöttker 1997, S. 86).
Das Image der Journalisten ist also durchaus ambivalent: Einerseits werden sie geschätzt als Nachrichtenboten, Aufklärer und Welterklärer, andererseits sieht man in ihnen manchmal auch profilsüchtige [133]Skandalproduzenten. Auffällig ist die – auch empirisch bestätigte – hohe Arbeitszufriedenheit unter den Journalisten (Weischenberg et al. 2006b, S. 89–92). Beruht sie möglicherweise nicht zum Teil auch an einem »Defizit an selbstkritischem Vermögen« (Roegele 2000, S. 159) dieser Berufsgruppe? Mit dem Image von und Erwarungen an Journalisten befassen sich jüngst auch Magdalena Obermaier et al. (2012) am Beispiel eines »online-affinen« Publikums.
4.1.2 Journalisten und Medieninhalte
In der Kommunikationswissenschaft wird seit langem der Frage nachgegangen, wie Medieninhalte zu Stande kommen und welche Rolle dabei u. a. auch die Journalisten spielen. Es geht also um die Entstehungsbedingungen journalistischer Aussagen(produktion). Diese Thematik wirft für die Systematik des vorliegenden Buches ein Abgrenzungsproblem auf: Soll das Thema im Rahmen der Kommunikator- bzw. Journalismusforschung erörtert oder in den Ausführungen über Aussagen- bzw. Medieninhaltsforschung abgehandelt werden (vgl. Kap. 4.2)? Die Ermittlung von Nachrichtenfaktoren, um die es im Folgenden u. a. auch geht, erfolgt nämlich oftmals auch inhaltsanalytisch (vgl. u. a. Wilke 1984b). Die Entscheidung wird hier zu Gunsten der Kommunikator-/Journalismusforschung getroffen. Es sind mehrere Themenkreise anzusprechen, nämlich: 1) die Theorien zur Nachrichtenauswahl, insbesondere die Gatekeeper- und Nachrichtenwertforschung; 2) die Problematik der instrumentellen Aktualisierung sowie 3) das Verhältnis Public Relations und Journalismus.
Was das Zustandekommen von Medieninhalten betrifft, so ist auf eine Erkenntnis zu verweisen, die ursprünglich auf Östgaard (1965) zurückgeht, inzwischen aber zum Allgemeingut kommunikationswissenschaftlicher Forschung und Lehre gehört, nämlich dass exogene und endogene Faktoren für den allgemeinen Nachrichtenfluss von Bedeutung sind. Exogene Faktoren, solche also, die außerhalb der Medien liegen, sind in politisch-rechtlichen Bestimmungen und Maßnahmen, in ökonomischen Bedingungen, in internationalen Modalitäten des Nachrichtenflusses etc. zu sehen, kurz: Faktoren, die Journalismus und Massenkommunikation von außen tangieren. Dazu gehört aber z. B. auch der Einfluss, der von Öffentlichkeitsarbeit und anderen Formen organisierter Kommunikation auf den Journalismus ausgehen kann. Endogene Faktoren sind dagegen solche, die im Nachrichtensystem und im Journalismus selbst angelegt sind, also von innen her zum Tragen kommen.
4.1.2.1 Theorien zur Nachrichtenauswahl
Theorien zur Nachrichtenauswahl versuchen zu erklären, warum Journalisten in den Medien über bestimmte Themen und Ereignisse berichten und über andere nicht. Neuerdings wird auch versucht herauszufinden, warum Rezipienten bestimmte Themen in den Medien konsumieren und andere nicht (ein Forschungsbereich, der also eher in das Feld der Rezipientenforschung gehört, gleichwohl aber hier abgehandelt werden soll). Zu den klassischen Forschungsrichtungen, die sich mit Nachrichtenauswahl von Journalisten befassen, gehören die Gatekeeper-Forschung (einschließlich der News-Bias-Forschung), organisationstheoretische Studien sowie die Nachrichtenwerttheorie.
Die in den 1950er-Jahren in den USA aufkommende Gatekeeper-Forschung stellte den Journalisten in den Mittelpunkt ihrer Forschungsbemühungen. Dieser Forschungszweig geht ursprünglich auf sozialpsychologische Studien Kurt Lewins über das Einkaufsverhalten von Hausfrauen am Beispiel der Auswahl von Lebensmitteln zurück (was kommt in den Einkaufskorb, was nicht). Das Konzept wurde 1949 von David M. White auf den Journalismus übertragen. In einer kleinen amerikanischen Zeitungsredaktion wurde ergründet, welche aus dem Fernschreiber stammenden Nachrichten vom [134]Nachrichtenredakteur »Mr. Gates« (gatekeeper = der Türhüter, Pförtner) für die Zeitung verwendet bzw. nicht verwendet wurden. Die Gatekeeper-Forschung ging anfangs davon aus, dass die Nachrichtenauswahl nach mehr oder weniger subjektiven Kriterien des einzelnen Journalisten sowie nach professionellen Auswahlkriterien eher passiv erfolgt (vgl. White 1950; Gieber 1956). Insbesondere die News-Bias-Forschung legte ihren Schwerpunkt v. a. auf die persönlichen Überzeugungen von Journalisten und deren Einfluss auf die Nachrichtenauswahl (vgl. Klein/Maccoby 1954; Carter 1959; Flegel/Chaffee 1971). Dieser Persönlichkeitsansatz – und das ist seine Schwäche – stützt(e) sich einseitig auf eine Persönlichkeitspsychologie ab und geht beim Gatekeeper von einer individualistischen Entscheidungssituation aus, »die auf der Annahme basiert, der Journalist arbeite mehr oder weniger allein« (Bonfadelli/Wyss 1998, S. 25).
In weiterführenden Gatekeeper-Studien wurde erkannt, dass bei der Nachrichtenauswahl auch sozialpsychologische (der Gatekeeper als Träger einer Berufsrolle) und soziologische Aspekte (Strukturen und Funktionen einer Gesamtredaktion) eine Rolle spielen. So fand z. B. Warren Breed die Bedeutung der beruflichen Sozialisation heraus, in deren Verlauf Journalisten Normen und Werte (z. B. Blattlinie, Blattpolitik, »Rotstift« des Chefredakteurs etc.) der Redaktion kennen lernen (vgl. Breed 1955). Weiterhin wurde herausgefunden, dass handwerkliche Kriterien, Produktionszwänge (wie Zeitdruck und Platzvorgaben, insbesondere Platzmangel, Redaktionsschluss), politische und ideologische Orientierungen (z. B. Grundrichtung einer Zeitung, redaktionelle Gruppennormen) sowie Wertorientierungen der Berufsgruppe die Nachrichtenauswahl mitbestimmen (vgl. Shoemaker/Reese 1991). Solche organisationstheoretische Studien berücksichtigen, »dass Gatekeeper keine isolierten Individuen sind, sondern in bürokratisch organisierte Institutionen integriert sind« (Bonfadelli/Wyss 1998).
Die von der amerikanischen Soziologin Gaye Tuchman entwickelte und im deutschen Sprachraum von Ulrich Saxer aufgenommene Theorie der redaktionellen Entscheidungsprogramme/Routinen kann als Weiterführung und Modifikation des organisationstheoretischen Ansatzes betrachtet werden, wie Schanne und Schulz (1993) ausführen. Ausgangsthese ist folgende Annahme (Bonfadelli/Wyss 1998 in Anlehnung an Schanne/Schulz 1993): »Journalismus als Massenproduktion von Unikaten unter hohem Zeitdruck setzt ausgewählte Gesichtspunkte der Wirklichkeit in Szene, »und zwar auf Grund redaktioneller Entscheidungsroutinen« (Bonfadelli/Wyss 1998). Das bedeutet in der Konsequenz: Zunächst muss auf Grund struktureller Kriterien wie Zugänglichkeit der Informationsquellen, Beschaffungsaufwand, Zeit-/Platzmangel etc. die Zahl der berichtenswerten Themen und Ereignisse eingeschränkt werden. Sodann sind die Themen und Ereignisse bestimmten Ressorts bzw. Rubriken im Medium zuzuordnen. Schließlich drittens müssen die Ereignisse »bestimmten journalistischen Kriterien genügen, d. h. sie müssen Nachrichtenwerte verkörpern« (Bonfadelli/Wyss 1998, S. 26).
Damit ist die Brücke zur Nachrichtenwerttheorie geschlagen. Die Nachrichtenwert-Forschung konzentriert sich auf Merkmale von Ereignissen, über die berichtet wird. Das Konzept der Nachrichtenwerttheorie geht ursprünglich auf Walter Lippmann zurück. Er identifizierte spezifische Ereignismerkmale, sog. »news values«, von denen er annahm, dass sie die Publikationswahrscheinlichkeit erhöhen (vgl. Lippmann 1922). Der Nachrichtenwert wird einer Nachricht durch entsprechende Nachrichtenfaktoren verliehen. Im Kern geht die Nachrichtenwerttheorie davon aus, dass Ereignisse, auf die mehrere Nachrichtenfaktoren in hohem Maße zutreffen, eher zur Veröffentlichung ausgewählt werden als Ereignisse mit niedrigem Nachrichtenwert.
Im Laufe der Zeit entwickelten verschiedene Kommunikationsforscher anhand theoretischer Überlegungen und empirischer Studien ein immer differenzierteres Spektrum von Nachrichtenfaktoren. Anhand einer Analyse von zehn Titelgeschichten in amerikanischen Tageszeitungen ergründete Carl Merz (1925) Merkmale wie Personalisierung, Prominenz, Spannung und Konflikt. In den 1950er-Jahren [135]wurde in den USA ein relativ stabiler Katalog von sechs Faktoren entwickelt, die als Definitionskriterien für Nachrichten in Lehrbüchern für Journalisten aufscheinen, nämlich: Konflikt, Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeit und Bedeutung (vgl. Warren 1953). In Europa trug Einar Östgaard verschiedene Ergebnisse empirischer Forschung zusammen und kam zu dem Schluss, dass in erster Linie die Faktorendimensionen Vereinfachung, Identifikation und Sensationalismus die Zeitungsinhalte bestimmen (vgl. Östgard 1965; Schmidt/Zurstiege 2000, S. 134): Mit Vereinfachung ist gemeint, »dass die Medien einfache Nachrichten gegenüber komplexer strukturierten bevorzugen«. Mit dem Faktorkomplex Identifikation wird zum Ausdruck gebracht, »dass Nachrichten, sollen sie ihr Publikum erreichen, nicht nur verständlich, sondern darüber hinaus auch relevant für das Publikum sein müssen«. Dabei erhalten kulturell nahe liegende Themen eine Bevorzugung gegenüber kulturell entfernteren Themen. »Mit dem Faktorenkomplex Sensationalismus beschrieb Östgaard seine Beobachtung, dass die Nachrichtenmedien die Aufmerksamkeit ihres Publikums v. a. durch Berichte über dramatische und emotional aufgeladene Ereignisse zu gewinnen suchen. Aus diesem Grund dominieren Nachrichten über Krisen, Konflikte und Auseinandersetzungen in der Berichterstattung der Medien« (Schmidt/Zurstiege 2000, S. 134).
Aufbauend auf den Überlegungen Östgaards entwickelten die ebenfalls norwegischen Friedensforscher Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge die Nachrichtenwerttheorien theoretisch weiter. Galtung und Ruge formulierten zwölf Auswahlregeln, die sie als Nachrichtenfaktoren bezeichneten; deren empirisch-inhaltsanalytische Überprüfung nahmen sie allerdings nur anhand eines kleinen Ausschnittes, nämlich an der Auslandsberichterstattung (Kongo, Kuba, Zypern-Krise) von vier Tageszeitungen vor. Es sind dies die Faktoren Elite-Nationen, Elite-Personen, Frequenz, Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Negativismus, Bedeutsamkeit, Konsonanz, Überraschung, Kontinuität, Variation/Kompensation sowie Personalisierung. Aus den nachfolgenden Ausführungen geht hervor, was inhaltlich jeweils gemeint ist (vgl. Abb. 2, S. 136).
In den Faktoren 1 bis 8 sind kulturunabhängige Faktoren zu sehen, in den Faktoren 9 bis 12 kulturabhängige. Wie Siegfried J. Schmidt und Guido Zurstiege (2000) schreiben, haben Galtung und Ruge versucht, »das Zusammenwirken der einzelnen Nachrichtenfaktoren im gesamten Prozess der Nachrichtenselektion näher zu bestimmen. In fünf Hypothesen konkretisierten Galtung und Ruge die Ergebnisse ihrer theoretischen Überlegungen:
1) | Selektionshypothese: Je stärker die Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass darüber berichtet wird. |
2) | Verzerrungshypothese: Die Merkmale, die den Nachrichtenwert eines Ereignisses bestimmen, werden in der Berichterstattung akzentuiert. Dies hat zur Folge, dass das Bild, das die Nachrichtenmedien von den berichteten Ereignissen vermitteln, in Richtung auf Nachrichtenfaktoren verzerrt ist. |
3) | Wiederholungshypthese: Weil Prozesse der Selektivität und der Verzerrung auf allen Stufen der Nachrichtenproduktion ablaufen, verstärken sich die Verzerrungseffekte, je mehr Selektionsstufen im Prozess der Nachrichtenproduktion überwunden werden müssen. Gerade im Rahmen der Auslandsberichterstattung müssen lange Selektionsketten überwunden werden, was zur Folge hat, dass Auslandsmeldungen stärker in Richtung auf die Nachrichtenfaktoren verzerrt sind als Inlandsmeldungen. |
4) | Additivitätshypothese: Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto wahrscheinlicher ist es, dass über dieses Ereignis berichtet wird. |
5) | Komplementaritätshypothese: Die Nachrichtenfaktoren verhalten sich komplementär zueinander, das Fehlen eines Faktors kann also durch einen anderen ausgeglichen werden« (Schmidt/Zurstiege 2000, S. 137f). |
[136]Abb. 2: Nachrichtenfaktoren nach J. Galtung und M. H. Ruge (1965)
(nach Galtung/Ruge 1965, in: Noelle-Neumann, Elisabeth et al. (Hrsg.): Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation 2009, S. 391)
Der Faktorenkatalog von Galtung/Ruge wurde von deutschen Kommunikationswissenschaftlern wie Winfried Schulz (1976), Joachim F. Staab (1990), Christiane Eilders (1997), Georg Ruhrmann et al. (2003), Benjamin Fretwurst (2008) überarbeitet, erweitert und in meist breit angelegten Forschungsarbeiten (Medieninhaltsanalysen, Befragungen von Mediennutzern und auch Journalisten) empirisch überprüft. Während z. B. Schulz und Staab in ihren Forschungen mittels Inhaltsanalyse kommunikatorientiert arbeiteten, sind z. B. Eilders, Fretwurst und auch Ruhrmann et al. mittels Befragungen auch rezipientenorientiert. Die Faktoren von Schulz (1976) und Staab (1990) lassen sich dabei wie folgt gegenüber stellen (vgl. Abb. 3), wobei erkennbar ist, dass zahlreiche Faktoren übereinstimmen, teils aber etwas anders benannt werden. Eilders (1997) fügte den Faktor Sex/Erotik hinzu, Fretwurst in seiner Systematik (2008, S. 112f sowie S. 130) den Faktor [137]Kuriosität. Ruhrmann et al. (2003) ermittelten den Faktor Visualisierung (vgl. Maier 2003; Dielmann 2003). Die Studien von Ruhrmann et al. (2003), Fretwurst (2008) sowie Michaela Maier et al. (2009) »basieren auf 19 bzw. 22 Nachrichtenfaktoren« (Maier et al. 2010, S. 97). Die Entwicklung des Kataloges der Nachrichtenfaktoren von Ostgaard (1965) bis Ruhrmann et al. (2003) ist dem Lehrbuch »Nachrichtenwerttheorie« von Maier et al. (2010, S. 80–84) zu entnehmen.
Abb. 3: Nachrichtenfaktoren nach W. Schulz (1976) und J. F. Staab (1990)
(Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Freiburg/München. Staab, Joachim Friedrich (1990): Nachrichtenwerttheorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg/München. Vgl. auch Maier et al. 2010, S. 80ff.)
Schulz hat seine 1976 (und dann 1982 etwas modifiziert) hergeleiteten Nachrichtenfaktoren zu sechs Faktorendimensionen gebündelt. Hier die aus 1982 stammende Bündelung bzw. Zuordnung: Faktorendimension Konsonanz: Thema, Vorhersehbarkeit, Stereotypen; Dimension Status: Elitenation, Eliteperson, Eliteinstitution; Dimension Dynamik: Unvorhersehbarkeit, Aktualität, Unsicherheit; Dimension Valenz: Kontroverse, Erfolg, Aggression, Werte; Dimension Identifikation: Personalisierung, Ethnozentrismus, Nähe, Emotionen; Dimension Relevanz: Konsequenzen, Betroffenheit (vgl. Maier et al. 2010, S. 99 mit Bezugnahme auf Schulz 1982).
Als problematisch erweist sich, wenn Journalismus und Massenmedien, und dies ist bei Presse, Hörfunk und Fernsehen weitgehend der Fall, sich ausschließlich an Nachrichtenfaktoren orientieren und ihr Selektionsverhalten danach ausrichten. Es kommt dann nämlich zu einer verzerrten [138]Berichterstattung, die Realität und Medienrealität weit auseinander klaffen lässt. Winfried Schulz, der sich, wie dargelegt, intensiv mit Nachrichtenwerten beschäftigt hat, »sieht – wie schon Lippmann (1922) – in den Nachrichtenfaktoren weniger Merkmale von Ereignissen, als vielmehr journalistische Hypothesen von Wirklichkeit, d. h. Annahmen der Journalisten über Inhalt und Struktur von Ereignissen, die ihnen zu einer als sinnvoll angenommenen Interpretation von Realität dienen« (Schulz 1994, S. 332; vgl. auch Schulz 1989). Konsequent weitergedacht würde dies bedeuten, dass Journalisten nur noch Konstrukte von Wirklichkeit liefern bzw. dass Wirklichkeit die Folge der Medien sei – ein Grundgedanke, von dem der Konstruktivismus, bzw. der radikale Konstruktivismus, ausgeht.
Dem (Kausal-)Modell, das Nachrichtenfaktoren als Determinanten der Auswahl versteht (Orientierung der Journalisten an Nachrichtenwerten – entsprechendes Selektions- und Publikationsverhalten als Folge), wird von Joachim F. Staab und Hans Mathias Kepplinger ein sog. »Finalmodell« (Staab 1990) gegenübergestellt. »Es verweist auf die Möglichkeit der Instrumentalisierung von Nachrichtenfaktoren. Demzufolge spielen bei der Nachrichtenselektion politische Einstellungen der Journalisten eine wichtige Rolle; Nachrichten sind bloß Nebenprodukt oder Legitimation der letztlich durch politische Absichten (der Journalisten – Ergänzung H. P.) gesteuerten Auswahlprozesse« (Schulz 1994, S. 332). Eine vergleichende Darstellung von Kausal- und Finalmodell ist Maier et al. (2010, S. 20) zu entnehmen. Von Kepplinger wurde diese Sichtweise 1998 in einem Zwei-Komponenten-Modell der Nachrichtenauswahl präzisiert. Die eine Komponente im Modell sind die Nachrichtenfaktoren als Merkmale von Ereignissen; die zweite sind variierende Selektions- bzw. Auswahlkriterien der Journalisten, die mit den Nachrichtenfaktoren die Auswahl, Platzierung und den Umfang der Berichterstattung bestimmen (Kepplinger 1998; siehe auch Kepplinger/Ehmig 2006, Maurer/Reinemann 2006, Maier et al. 2010 sowie Kepplinger/Bastian 2000).
Aus den zurückliegenden zehn bis 15 Jahren liegen zahlreiche, größere oder kleinere Studien zum Thema Nachrichtenfaktoren vor. Einige dieser Arbeiten seien hier stellvertretend für andere erwähnt. Christiane Eilders (1997 und 1999) z. B. übernimmt weitgehend die Nachrichtenfaktoren von Staab und überträgt das ursprünglich kommunikatororientierte Konzept der Nachrichtenwerttheorie auf die Nachrichtenrezeption. Neu fügt sie die Faktoren Emotion sowie den bereits bei Emmerich 1984 genannten Faktor Sex/Erotik hinzu. Ihre Untersuchungen beschäftigen sich mit der Frage, ob die in der bisherigen Nachrichtenwertforschung überwiegend zu journalistischen Auswahlkriterien reduzierten Nachrichtenfaktoren auch die Rezeption von Nachrichten durch das Publikum beeinflussen, und zwar sowohl die Hinwendung zu als auch die Erinnerung an bestimmte Nachrichten (vgl. Eilders 1997 und 1999). Empirisch wurde diese Fragestellung überprüft, indem Medienbeiträge und deren Rezeption in Bezug auf ihre Orientierung an Nachrichtenfaktoren verglichen wurden. Eilders konnte das auf die Rezeption erweiterte Nachrichtenwertkonzept im Wesentlichen bestätigen, d. h. Nachrichtenfaktoren steuern sowohl die journalistische Verarbeitung wie auch Interesse und Rezeption durch Nachrichtenrezipienten. Als besonders bedeutsam stuften Rezipienten dabei v. a. die Faktoren Etablierung, Kontroverse, Überraschung, Einfluss/Prominenz, Personalisierung und Schaden ein, während die Faktoren Nutzen, Faktizität und Reichweite für Rezipienten offenbar keine besonderen Kriterien darstellen (vgl. Eilders 1997, S. 266).
Eine recht umfangreiche Forschungsarbeit zur Nachrichten(wert)theorie haben Georg Ruhrmann, Jens Wölke, Michaela Maier und Nicole Dielmann (Ruhrmann et al. 2003) mit der Monografie »Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen« vorgelegt. Es handelt sich dabei um eine Analyse von Nachrichtensendungen zweier öffentlich-rechtlicher (ARD, ZDF) und sechs privater Programmveranstalter (SAT.1, RTL, ProSieben, RTL 2, VOX, Kabel 1) im Deutschen Fernsehen anhand von 22 Nachrichtenfaktoren über den Zeitraum von 1992 bis 2001 (konkret Nachrichtensendungen aus den Jahren 1992, 1995, 1998 und 2001) sowie weiteren empirischen Studien: Das gesamte Datenmaterial der umfassenden Untersuchung basiert 1) auf Inhaltsanalysen der Fernsehnachrichtensendungen [139](2.427 Beiträge; Maier in Ruhrmann et al. 2003, S. 61ff); 2) auf zwölf Leitfadeninterviews mit TV-Nachrichtenjournalisten (vgl. Dielmann in Ruhrmann et al. 2003, S. 99ff); sowie 3) auf einer Analyse der Rezeptionsmuster der Zuschauer anhand von Erinnerungs- und Bewertungsfragen (315 Befragte; vgl. Woelke in Ruhrmann et al. 2003, S. 163ff). Eine Typologisierung der Fernsehzuschauer rundet die mehrmethodisch angelegte Untersuchung ab (Ruhrmann in Ruhrmann et al. 2003, S. 201ff). Hier nur holzschnittartig einige Ergebnissplitter:
1) | Inhaltsanalyse (vgl. Maier 2003, S. 96ff): Die Nachrichtenfaktoren Faktizität und Einfluss (einflussreiche Personen) prägten die Nachrichtenauswahl. In Berichten über deutsche Außenpolitik gewann der Faktor Konflikt (Kontroverse/Aggression) an Bedeutung. Zugelegt haben auch Visualisierung und bildliche Darstellung von Emotionen. (Eine zunehmende Visualisierung der Fernsehnachrichten bestätigen auch nachfolgende Studien – vgl. Maier et al. 2010, S. 107ff). Was übergeordnete Dimensionen betrifft, so gibt es bezüglich der Faktoren Konflikt/Negativität, Nähe, Nutzen und Prominenz »stabile Strukturen.« |
2) | Befragung TV-Nachrichtenjournalisten (vgl. Dielmann 2003, S. 135ff): Visualisierung von Nachrichten mittels Bildern und Filmen ist den Journalisten sehr wichtig (vgl. o.). Wachsender Konkurrenzdruck zwingt zu mehr Aktualität. Relevant sind Themen, die die Nation und viele Menschen betreffen und für/über die gutes Bildmaterial vorliegt. Wichtig ist den Befragten auch Zuschauer- und Serviceorientierung. Wesentliche Gatekeeper in TV-Nachrichtenredaktionen sind Chefredaktion, der Chef vom Dienst und Planungsredakteure. |
3) | Befragung TV-Nachrichtennutzer (vgl. Woelke 2003, S. 194ff): Hauptabendnachrichtensendungen werden seitens deren Zuschauer entlang der nutzungsbezogenen Eigenschaften Relevanz, Referenz, Ereignisstruktur und Güte ähnlich bewertet. Zuschauer von ARD (Tagesschau) und ZDF (heute) sind – übrigens auch den GfK-Daten zufolge – »deutlich älter« als Zuschauer der RTL2-News oder von ProSieben-Nachrichten. Themenetablierung, Prominenz oder Personalisierung erhöht die Zuwendungschance, Umgekehrtes gilt für die Nachrichtenfaktoren räumliche, politische, wirtschaftliche oder kulturelle Nähe. Faktoren wie Aggression und Kontroverse führen bei einigen Sendern zu einer höheren Zuwendungswahrscheinlichkeit. |
Benjamin Fretwurst konzentrierte sich in einer Studie über Fernsehnachrichten Ende 2005 auf die Erinnerung und Einschätzung dieser Nachrichten durch die Rezipienten. Er kombinierte eine Inhaltsanalyse (677 Beiträge) mit einer Onlinebefragung von 1.584 Rezipienten. Fretwurst findet bestätigt, dass sich »die selektive Erinnerung der Rezipienten […] von den Auswahlentscheidungen der Journalisten [unterscheidet]« (Fretwurst 2008, S. 231). Zwar weichen auf dem Feld der politischen Kommunikation »die Zusammenhänge zwischen den journalistischen Auswahlentscheidungen und Selektionsvorgängen bei den Zuschauern nur geringfügig voneinander ab« (Fretwurst 2008, S. 231) und es besteht Übereinkunft zwischen Journalisten und Rezipienten bezüglich kontrovers diskutierter Themen der Zeit. »Die Differenzen beginnen beim Negativismus. ›Gewalt‹, ›Schaden‹, ›Kriminalität‹ ohne politische Relevanz senkt die Beachtung der Rezipienten scheinbar. Tatsächlich erhöht der negative Charakter von Ereignissen die Beachtung in den Fernsehnachrichten. […] Die Ereignisse ohne gesellschaftliche Relevanz, die aufgrund ihres negativen Charakters in die Nachrichten gelangen, werden von den Rezipienten seltener als wichtigste Meldungen genannt oder erinnert« (ebd.). Fretwurst zeichnete die Entwicklung der Nachrichtenwerttheorie detailliert nach und nahm auch eine Neubestimmung der Nachrichtenwerttheorie vor, er hat diese »aber nicht auf den Kopf gestellt« (Fretwurst 2008, S. 232; vgl. auch dessen Abbildungen 2.1, S. 113 sowie Abb. 4.5, S. 217). Die Entwicklung des Katalogs der Nachrichtenfaktoren enthält in einer anschaulichen Darstellung Maier et al. 2010, S. 80–84.
[140]In ihrem Beitrag »Wir werden diese Bilder nie vergessen« berichten Michaela Maier und Karin Stengel (2007) über die von ihnen untersuchte enorme Bedeutung des Faktors Visualität für die Nachrichtenberichterstattung über internationale Krisen (Maier/Stengel 2007). Ines Engelmann legte 2012 eine Studie über »Nachrichtenfaktoren und die organisationsspezifische Nachrichtenselektion« vor. Es handelt sich dabei um eine Erweiterung der Nachrichtenwerttheorie um die Meso-Ebene journalistischer Organisationen (Engelmann 2012). Von Ingrid Andrea Uhlmann (2012) liegt eine Studie zur Auswahlwahrscheinlichkeit von Nachrichten vor. Nach wie vor lesenswert – nicht nur, aber v. a. – für pressegeschichtlich Interessierte ist Jürgen Wilkes bereits 1984 publizierte Studie »Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten«, die vom 17. bis ins 20. Jahrhundert reicht (Wilke 1984b). Kommentierte Literaturempfehlungen zum Thema Nachrichtenwerttheorie sind dem bereits erwähnten Lehrbuch von Maier et al. »Nachrichtenwerttheorie« zu entnehmen (Maier et al. 2010, S. 135–138), ebenso auch Erläuterungen der Nachrichtenfaktoren (Maier et al. 2010, S. 139–141).
4.1.2.2 Nachrichtenauswahl als »instrumentelle Aktualisierung«
Die Theorie der instrumentellen Aktualisierung geht im deutschen Sprachraum v. a. auf Hans Mathias Kepplinger zurück. Mit dieser 1989 vorgestellten Journalismus-Theorie erweitert Kepplinger die in den klassischen Gatekeeper-Forschungen vertretenen Nachrichtenselektionsmodelle um eine weitere Dimension (vgl. Kepplinger 1989b). Dabei unterscheidet er Selektions-, Inszenierungsund Aktualisierungsmodelle und das jeweilige Verhältnis von Realität und Realitätsdarstellung in diesen Modellen (vgl. Kepplinger 1989b):
• Im Selektionsmodell agieren Journalisten bei der Nachrichtenselektion als weitgehend passive, apolitische, neutrale und nichtzweckorientierte Vermittler, die auf sog. »Realitätsreize« (d. h. mehr oder weniger berichtenswerte Ereignisse) nur reagieren. Die Berichterstattung wird in dieser Auffassung als kausale Kette aus Ursache und Wirkung angesehen: Ereignisse mit bestimmtem Charakter und von öffentlichem Interesse gelten als Ursache für die darauf folgende Berichterstattung von Journalisten (vgl. Kepplinger 1990, S. 39).
• In Inszenierungsmodellen ist die Berichterstattung Folge geschickter Inszenierungen (Kampagnen) durch politische, wirtschaftliche oder kulturelle »Akteure«, durch Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Kultur also, die gezielt »Pseudo-Ereignisse« (wie Pressemitteilungen, Produktvorstellungen, Bilanzpressekonferenzen u. Ä.) schaffen mit dem Ziel, dass darüber in den Medien berichtet wird.
• Im Aktualisierungsmodell werden bereits geschehene Ereignisse durch Journalisten gezielt und zweckgerichtet genutzt. Dabei steht am Anfang die Überlegung des Journalisten, welche Wirkung er mit einer Publikation verfolgt. Diese Überlegung entscheidet über die Art der Berichterstattung.
Dem Aktualisierungsmodell zufolge selektieren Journalisten also nicht nur als Reaktion auf Schlüsselreize (Ereignisse), sondern sie berichten vielmehr über bestimmte Themenaspekte oder Ereignisse, um bestimmte Ziele zu unterstützen (oder auch auf Grund der zu erwartenden Folgen). Dabei machen sie sich – je nach persönlicher Zustimmung oder Ablehnung eines Ereignisses – v. a. Argumente von außermedialen Experten zu Eigen, die ihre persönlichen Ansichten stützen; umgekehrt blenden sie Aspekte aus, die nicht ihre persönliche Problemsicht fördern. Diese Form der Informations- bzw. Nachrichtenauswahl bezeichnet Kepplinger als »instrumentelle Aktualisierung von Ereignissen« (Kepplinger 1989a, S. 11). Nachrichtenfaktoren sind in seinem Verständnis nicht nur Ursachen, sondern auch Folgen der Entscheidung von Journalisten, etwas zu publizieren oder nicht.
[141]Instrumentelle Aktualisierung ist Kepplinger zufolge v. a. bei sog. publizistischen Konflikten zu beobachten – bei Konflikten also, die zwischen zwei (oder mehr) Kontrahenten in der Öffentlichkeit über die Massenmedien ausgetragen werden. Dabei, so Kepplinger, spielen Journalisten bewusst bestimmte Ansichten hoch oder herunter – je nachdem, welche Argumentation sie sich zu Eigen machen wollen – um entsprechend ihrer persönlichen Problemsicht Entwicklungen bewusst zu fördern (oder bewusst nicht zu fördern). Kepplinger hat seine Theorie wiederholt empirisch belegt, u. a. am Beispiel Kernenergie: So hätten deutsche Tageszeitungen, deren Journalisten sich überwiegend für die Kernenergie aussprachen, in den 1980er-Jahren v. a. positive Expertenurteile über Kernenergie veröffentlicht, während atomkritische Zeitungen genau umgekehrt verfahren seien (vgl. Kepplinger 1989a, S. 12).
»Verwandte und konkurrierende Ansätze« (Maier et al. 2010) sind in Gatekeeping (vgl. w. o.), News Bias, Agenda Setting und Framing zu sehen (vgl. dazu Maier et al. 2010, S. 116ff, vgl. auch Kunczik/Zipfel 2001, S. 266ff). Bei der News-Bias-Forschung »interessiert speziell, ob und inwieweit Medien oder Journalisten mit ihrer Nachrichtenauswahl eine bestimmte politische Linie unterstützen« (Maier et al. 2010, S. 122) und damit eine (bewusste?) Verzerrung der Berichterstattung verbunden ist. Dies kann z. B. durch die Heranziehung »opportuner Zeugen« geschehen. In diesem Kontext ist z. B. von einer »Synchronisation« (Schönbach) von Nachricht und Meinung die Rede: »Nicht die Kommentare [interpretieren] die Fakten, sondern die Fakten [werden] so ausgewählt, dass sie die Kommentare bzw. die redaktionelle Linie stützen« (Kunczik/Zipfel 2001, S. 268; siehe Schönbach 1977).
Der Agenda-Setting-Ansatz untersucht, »welchen Einfluss die Medien auf die Bedeutung von Themen bei der öffentlichen Meinungsbildung und Diskussion haben«, zumal die öffentliche Wahrnehmung von Themen »von der Art und Weise ihrer medialen Präsentation ab[hängt]« (Maier et al. 2010, S. 124; vgl. Kap. 4.4.3.2 im vorliegenden Buch).
Frames wieder »sind »Interpretationsrahmen, die als kognitive Strukturen im Bewusstsein verankert sind – bei Journalisten wie beim Publikum. Erfahrungen werden gespeichert und als Rahmen benutzt, um spätere Erfahrungen sinnvoll und schnell interpretieren, einsortieren und wieder vergessen zu können. Diese Bezugsrahmen strukturieren ein Thema und steuern damit die Informationsverarbeitung. Wesentliches Kennzeichen von Frames ist, dass sie Bewertungen enthalten. Sie können insofern auch als ›Deutungsmuster‹ bezeichnet werden« (Meier 2007a, S. 195; vgl. Entman 1993). Framing ermöglicht den Journalisten, »das Hauptaugenmerk nur auf bestimmte, vom Journalisten ausgewählte Aspekte« zu lenken. Den Rezipienten ermöglichen sie »die Einordnung des berichteten Ereignisses oder Themas in bereits bekannte Muster«, sie »vereinfachen so das Verstehen und die Interpretation des rezipierten Inhalts« (Maier et al. 2010, S. 128). Matthias Potthoff (2012) stellt dar, wie Medienframes entstehen.
4.1.2.3 Journalismus und Public Relations
Seit geraumer Zeit – etwa seit Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts – nimmt Öffentlichkeitsarbeit rapide zu, spielen Public Relations für öffentliche Kommunikation eine immer größere Rolle. Offensichtlich haben viele ›Akteure‹ in Politik, Wirtschaft, Kultur und Verwaltung erkannt, dass man Journalismus und Massenmedien für eigene Zwecke nutzen bzw. instrumentalisieren kann. Die Entwicklung ist auch aus der Mitgliederzahl der Deutschen Public Relations Gesellschaft (DPRG) ersichtlich: Waren es Anfang der 1980er-Jahre noch 500, so sind es zur Jahrtausendwende weit mehr als 2000 Mitglieder. Wenn, was unbestritten zu sein scheint, die »hohe Schule« der PR darin besteht, Einfluss auf das Mediensystem zu nehmen und Wirklichkeit so geschickt zu inszenieren, dass sie [142]nicht als Konstrukt, sondern als reale Wirklichkeit erscheint (vgl. Merten 1999, S. 269), stellt sich verständlicherweise die Frage nach dem Verhältnis von Journalismus und Public Relations: Sind Öffentlichkeitsarbeiter bzw. PR-Manager mithilfe von Pressemitteilungen, Veranstaltungen, Events, Pressekonferenzen etc. in der Lage, wesentlich auf Journalismus und Medienberichterstattung Einfluss zu nehmen (zumal Überzeugung die basale Funktion von PR darstellt)? Sind sich Journalisten dieser Einflussversuche bewusst und erliegen sie der Flut jener von PR-Beratern gezielt gesteuerten Informationen nicht, die täglich die Schreibtische der Journalisten überschwemmen?
Theoretische Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Public Relations und Journalismus finden sich zumindest in drei Forschungskontexten: in der Forschung zur politischen Kommunikation, in der medienrelevanten Forschungstradition des Agenda-Setting-Ansatzes sowie in der Kommunikationswissenschaft als Beziehung zwischen den Tätigkeitsbereichen Journalismus und Öffentlichkeitsarbeit.
Diese drei Forschungskontexte können hier nicht im Einzelnen erörtert werden (vgl. u.). Nur so viel sei zu den beiden ersten angemerkt: Im Forschungskontext Politische Kommunikation stellt sich die Frage, ob das politische System mit seinen öffentlichkeitswirksamen Akteuren das Mediensystem nach eigenen Bedürfnissen steuert (Konzept der ohnmächtigen Medien) oder ob das Mediensystem durch die eigene Medienlogik Voraussetzungen und Formen der Kommunikation politischer Akteure bestimmt (Konzept der mächtigen Medien)? Als zwischen diesen beiden Auffassungen vermittelnde Position ist jene zu sehen, die das Verhältnis zwischen politischem System und Mediensystem als »Symbiose« (vgl. Sarcinelli 1987, S. 213) bzw. als »komplexe Interaktion zwischen zwei Gruppen von wechselseitig abhängigen und daher anpassungsbereiten Akteuren (vgl. Schmidt-Beck/Pfetsch 1994, S. 215) sieht. Diese Position kommt der kommunikationswissenschaftlichen Theorie der Intereffikation von Public Relations und Journalismus nahe.
In der Forschungstradition des medienbezogenen Agenda-Setting-Ansatzes stellt sich die Frage nach dem Entstehungsprozess öffentlicher Themen: Bezogen auf Public Relations meint dies, ob Public Relations Themen in die Öffentlichkeit streuen, die von den Medien aufgegriffen und thematisiert werden oder ob umgekehrt Themen in der Gesellschaft vorhanden sind, die durch Public Relations und Medien öffentliche Bedeutung erfahren (vgl. u. a. Brosius/Weimann 1995).
In der kommunikationswissenschaftlichen Forschungstradition wird das Verhältnis zwischen Journalismus und PR als Verhältnis von Berufsfeldern gesehen. Es konkurrieren in diesem Forschungsfeld im Wesentlichen zwei theoretische Zugänge: die These von der Determination des Journalismus durch Public Relations sowie die These von der Intereffikation von Public Relations und Journalismus. Was ist damit gemeint?
Die Determinationsthese geht auf eine empirische Studie von Barbara Baerns (1985) zurück, wurde von ihr selbst aber nicht so genannt (vgl. Raupp 2005). In ihrer Studie untersuchte Baerns die Verwendung von Pressemitteilungen bei Landespressekonferenzen Nordrhein-Westfalens durch die Medien. Sie fand heraus, dass Öffentlichkeitsarbeit die Informationsleistung tagesbezogener Medienberichterstattung wesentlich bestimme: Öffentlichkeitsarbeit, so Baerns damals, habe die Themen der Medienberichterstattung und das Timing unter Kontrolle (vgl. Baerns 1985 und 1991). Beide Systeme, Public Relations und Journalismus, werden von Baerns als um Macht konkurrierende Systeme verstanden (wobei sie nur den Einfluss vonseiten der PR auf den Journalismus untersuchte). Unter Bezugnahme auf die Feststellung (Bestimmen von Themen und Timing) wurde in der Rezeption der Studie von Baerns »der Begriff ›Determinationsthese‹ geprägt« (Raupp 2005, S. 192), wobei es sich jedoch nicht um eine verifizierbare oder falsifizierbare These handelt, sondern eher um den »Status eines ›heuristischen Paradigmas‹«, das die kommunikationswissenschaftliche Forschung »nachhaltig beeinflusst« hat (ebd.). Zur Determinationsthese liegt auch eine empirische Studie von Claudia Riesmeyer (2007) vor.
[143]Etwas anders formulierte es René Grossenbacher, der Öffentlichkeitsarbeit als »Hilfssystem« der Medien bezeichnet und feststellt, dass Medien sich »offensichtlich auf Leistungen von Öffentlichkeitsarbeit verlassen« (Grossenbacher 1989, S. 90). Informationen würden zunehmend weniger durch Journalismus produziert als vielmehr durch PR, beide Systeme seien aber im Sinne von Komplementarität voneinander abhängig. Journalismus sei um Objektivität bemüht und diene der Allgemeinheit; Aufgabe der Public Relations sei es, Informationen in die Öffentlichkeit zu bringen, die den Interessen bestimmter Institutionen nützen. Es gibt auch Studien, die die These von der Determination des Journalismus durch PR dahingehend modifizieren, dass als intervenierende Variablen Nachrichtenwert und Krisensituation eingeführt werden. Dabei zeigte sich mehrfach, dass der Einfluss von PR auf Medieninhalte dann relativ groß ist, wenn PR für die Medien ein Ereignis inszeniert, das nicht aus einer Krisensituation resultiert. Hingegen ist der Einfluss von PR auf Medieninhalte dann deutlich geringer, wenn PR in einer Krisen- oder Konfliktsituation an das Mediensystem herantritt (vgl. Barth/Donsbach 1992, S. 163).
Auf Grund der Erfahrungen aus dem praktischen Journalismus und der praktischen PR kann übrigens angenommen werden, dass es auch Einflüsse des Mediensystems in Richtung PR gibt. So sind PR-Praktiker gezwungen, sich an zeitliche Abläufe und Routinen des Journalismus anzupassen oder sich bei der Selektionsentscheidung der dem Mediensystem zu präsentierenden Themen an Nachrichtenfaktoren (Aktualität, Relevanz, Prominenz etc.) zu orientieren, wenn sie erfolgreich agieren wollen.
Aus dieser Überlegung heraus kann nach Günter Bentele u. a. festgehalten werden, dass ein differenziertes Modell notwendig erscheint, um die gegenseitigen Einflussbeziehungen zwischen Journalismus und Public Relations zu untersuchen. Bentele und seine Mitarbeiter entwickelten daher das Intereffikationsmodell (efficare = ermöglichen), das »aus einem empirischen Projekt heraus erwachsen« ist (Bentele 2005, S. 209). Bentele spricht ausdrücklich von einem Modell, nicht von einer Theorie (siehe Bentele 2005, S. 210). Das Modell beschreibt das Verhältnis zwischen PR-System und journalistischem System als »komplexes Verhältnis eines gegenseitig vorhandenen Einflusses, einer gegenseitigen Orientierung und einer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen zwei relativ autonomen Systeme[n] […] Die Kommunikationsleistungen jeder Seite sind nur möglich, weil die jeweils andere Seite existiert und mehr oder weniger bereitwillig ›mitspielt‹« (Bentele et al. 1997, S. 240). Das PR-System mit seinen Akteuren kann die jeweiligen Kommunikationsziele i. d. R. nur mithilfe des Mediensystems und dessen Akteuren erreichen. Umgekehrt ist die Existenz des Mediensystems von der Zuliefer- und Kommunikationsbereitschaft des PR-Systems abhängig. Weil die Kommunikationsleistungen jeder Seite nur dadurch möglich werden, dass die Leistungen der anderen Seite vorhanden sind, ergibt sich die Feststellung, dass jede Seite so die Leistungen der anderen Seite erst ermöglicht – daher der Begriff Intereffikation (vgl. Bentele et al. 1997, S. 240).
Innerhalb der Intereffikationsbeziehungen kann man zwischen kommunikativen Induktionen und Adaptionen unterscheiden (vgl. Bentele et al. 1997, S. 241 ff). Induktionen sind intendierte, gerichtete Kommunikationsanregungen oder -einflüsse, die beobachtbare Wirkungen im jeweils anderen System haben. Adaptionen lassen sich als kommunikatives und organisatorisches Anpassungshandeln definieren, das sich bewusst an verschiedenen sozialen Gegebenheiten (wie organisatorischen oder zeitlichen Routinen) der jeweils anderen Seite orientiert, um den Kommunikationserfolg der eigenen Seite zu optimieren. Gegenseitige Adaption ist die Voraussetzung für gelingende Interaktion.
Zu den Induktionsleistungen des PR-Systems (in Richtung auf das journalistische System) gehört die Themensetzung bzw. Themengenerierung (Issue Building, Agenda Building), die Bestimmung über den Zeitpunkt der Information (Timing), aber auch die Bewertung von Sachverhalten, Personen, Ereignissen etc. Zu den Adaptionen des PR-Systems gehören Anpassungen an zeitliche, sachliche [144]und soziale (z. B. redaktionelle) Regeln und Routinen des Journalismus (wie Anpassungen an die Zeiten des Redaktionsschlusses). Vonseiten des Journalismus sind Induktionsleistungen v. a. durch die Selektion der Informationsangebote, in der Entscheidung über Platzierung und Gewichtung der Information, in der journalistischen Bewertung der Information, in der Veränderung sowie in der journalistischen Informationsgenerierung vorhanden. Journalistische Adaptionsprozesse finden statt durch die Orientierung an organisatorischen, sachlich-thematischen und zeitlichen Vorgaben des PR-Systems. Das Intereffikationsmodell will also v. a. einen Beitrag zum Verständnis des komplexen Prozesses der Themengenerierung und Themengestaltung auf Kommunikatorseite leisten (vgl. Bentele et al., ebd.). Beide Systeme, das der Public Relations und das des Journalismus, können sich weder dem Einfluss noch der Abhängigkeit vom jeweils anderen entziehen. Auch muss es nicht zu einem »Nullsummenspiel« zwischen beiden kommen; vielmehr sind auch »Win-Win-Situationen« (vgl. Szyszka 1997, S. 222) denkbar. So ist Journalismus (nicht zuletzt unter ökonomischen Zwängen) darauf angewiesen, Öffentlichkeitsarbeit als leicht zugängliche Quelle zu nutzen. Die Public Relations wieder müssen daran interessiert sein, dass ihre Informationen von funktionierenden journalistischen Medien geprüft und einer Weitervermittlung für wert befunden werden, denn: Journalistische Information gilt in den Augen des Publikums als glaubwürdiger als erkennbar partikulare Organisationsmeinung einer PR-Abteilung (vgl. Szyszka 1997, S. 223). Das Beziehungsgeflecht zwischen Journalismus und Public Relations wird auch von Merten (vgl. Merten 1999, S. 256–292) dargestellt.
Allgemeine Theorieansätze sowie spezielle Ansätze mittlerer Reichweite zu Public Relations, dies sei hier ergänzt, sind dem »Handbuch der Public Relations« zu entnehmen (Bentele et al. 2005), darunter u. a. systemtheoretisch-gesellschaftsorientierte, konstruktivistische, kritische Ansätze oder etwa über verständigungsorientierte Öffentlichkeitsarbeit. Das Handbuch enthält weiters disziplinäre Perspektiven (u. a. kommunikationswissenschaftliche, organisationssoziologische, sozialpsychgologische, wirtschaftswissenschaftliche und politikwissenschaftliche), Definitionen und Praktikertheorien, Schlüsselbegriffe und Bezugsgrößen, Ausführungen über Öffentlichkeitsarbeit und berufliches Handeln, Beiträge über Berufsrollen in und Berufsfelder der PR, über Kommunikationshandeln in den PR sowie nicht zuletzt auch über normative Grundlagen rechtlicher und ethischer Natur. Ein Band über »Journalismus und Public Relations: ein Theorieentwurf der Intersystembeziehungen in sozialen Konflikten« stammt von Olaf Hoffjann (2007). Mit »strategischem Framing« als PR-Strategie, also mit der Platzierung von »Situationsdeutungen bzw. Frames in den Medien, um darüber Sichtweisen der Rezipienten zu beeinflussen«, befasste sich Tabea Böcking (2009, hier S. 92). Am Beispiel der Diskussion über embryonale Stammzellforschung in Deutschland untersuchte sie den Einfluss gesellschaftlicher Akteure (wie DFG, BMBF, Wissenschaftler, Ärzteorganisationen und gemeinwohlorientierte Gruppen wie die beiden christlichen Kirchen) auf die mediale Debatte mittels PR-Materialien in den beiden überregional verbreiteten, weltanschaulich unterschiedlich positionierten Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung. Einschlägige empirische Studien zum Beruf Public Relations liegen vor von Romy Fröhlich et al. (2005) sowie Peter Szyszka et al. (2009). »Das Bild der Public Relations in der Qualitätspresse« (so der Titel) haben Romy Fröhlich und Katharina Kerl (2012) ermittelt.
4.1.3 Weitere Themen der Kommunikator-/Journalismusforschung
Wie in anderen Feldern der Kommunikationswissenschaft auch, gibt es ebenso in der Kommunikator- bzw. Journalismusforschung Themenkontinuität und Themenwandel. Der Wandel in den Forschungsperspektiven ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass auch das Mediensystem permanent einem [145]Wandel unterliegt. Besonders deutlich wird dies z. B. an jenen Veränderungen, denen weite Bereiche des Journalismus durch Multimedia und Onlinekommunikation unterliegen. Es ist dies eines jener Themen, die nachfolgend neben anderen abgehandelt werden sollen wie etwa die Thematik Qualität im Journalismus, Ethik im Journalismus, redaktionelles Marketing sowie Boulevardjournalismus, also das, was man im Fach auch »Populären Journalismus« nennt.
4.1.3.1 Qualität im Journalismus
Das Thema Qualität in Journalismus und Massenmedien ist, wie ein Blick in die kommunikationswissenschaftlichen Forschungstraditionen zeigt, nicht neu, verliert sich dann jedoch immer wieder (vgl. Arnold 2009, S. 24–79). Angesichts der Tatsache, dass beträchtliche Teile des Journalismus und der Massenmedien in immer noch zunehmendem Maße ökonomischen Zwängen unterliegen, stellt sich sowohl für kritisch reflektierende Medienpraktiker wie auch für die Kommunikationswissenschaft mehr denn je die Frage, was journalistische Qualität ist und wie Qualität im Journalismus gesichert werden kann. Dabei ist wichtig zu erkennen, »dass das Bemühen um Qualität und Qualitätssicherung im Journalismus nicht nur als eine Frage der individuellen Verantwortung (des Journalisten – Ergänzung H. P.) zu betrachten ist, sondern die vielfältigen Einflüsse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, des Mediensystems, der Medienunternehmen etc. jeweils zu berücksichtigen sind« (Fabris 1997, S. 71). So wird denn auch die Diskussion über journalistische Qualität »von ganz unterschiedlichen Akteurskategorien mit unterschiedlichen Interessen am Journalismus und aus unterschiedlichen Perspektiven bestritten« (Bonfadelli/Wyss 1998, S. 39).
Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei journalistischen Produkten – abgesehen von deren technisch-materieller Qualität – vorwiegend um geistig-kulturelle Güter handelt. Deren Qualität ist bekanntlich schwerer zu bestimmen als etwa jene rein materieller Güter. Auch hängt das Qualitätsurteil vielfach vom subjektiven Gesichtspunkt des Betrachters bzw. der Anspruchsträger ab: So wird ein leidenschaftlicher und ausschließlicher Leser der Bild-Zeitung etwas anderes unter journalistischer Qualität verstehen als etwa ein langjähriger Abonnent der Süddeutschen Zeitung oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. (Deren Wirtschaftsteile sind z. B. für Geschäftsleute und Manager äußerst wichtig und qualitativ gehaltvoll, können aber wegen ihrer oftmals sehr speziellen Themen und ihrer relativ unverständlichen Fachsprache für den Normalverbraucher möglicherweise irrelevant und wertlos sein). Und auch der Werbekunde, der auf das redaktionelle Umfeld seiner Anzeige sowie v. a. auch auf deren Druckqualität achtet, wird mit Qualität anderes verbinden als etwa ein Linguist, für den die gute Verständlichkeit der Texte einer Zeitung ein besonderes Qualitätsmerkmal darstellt – vom Juristen ganz zu schweigen, für den Qualität im Journalismus nicht zuletzt darin besteht, dass er inhaltlich nicht gegen Gesetze verstößt. Die Zahl der Beispiele ließe sich fortsetzen, und der Berliner Journalismusforscher Stephan Ruß-Mohl meinte Anfang der 1990er-Jahre nicht ganz zu Unrecht, Qualität im Journalismus definieren zu wollen gleiche »dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln« (Ruß-Mohl 1992, S. 85).
Gleichwohl ist es Ruß-Mohl im deutschen Sprachraum als einem der Ersten gelungen, Mehrdimensionalität und Multiperspektivität von Qualität im Journalismus aufgezeigt zu haben. Er definierte Qualität als abhängige Variable und machte deutlich, dass Qualitätsmaßstäbe abhängig sind vom jeweiligen Medium, seiner Periodizität, dem einzelnen journalistischen Genre, der angestrebten Zielgruppe und der erwarteten Funktion des Mediums sowie vom Selbstverständnis der Medienschaffenden (vgl Ruß-Mohl 1992, S. 85). Weiter verweist Ruß-Mohl auf innerredaktionelle und außerredaktionelle Infrastrukturen (sog. »I-Faktor«), die für Qualität im Journalismus relevant sind (Ruß-Mohl 1994a). An anderen Versuchen, journalistische Qualität zu bestimmen, hat es [146]nicht gefehlt (vgl. z. B. Rosengren et al. 1991; McQuail 1992; Göpfert 1993; Wallisch 1995; Meier/Bonfadelli 1994; Ruß-Mohl 1994a, Ruß-Mohl 1994b; Hagen 1995; Themenheft »Qualitätssicherung im Mediensystem« der Zeitschrift Medienjournal 23:1999). Aus ihnen geht in je unterschiedlicher Weise hervor, dass sich Beschreibungsversuche von Qualität im Journalismus orientieren an 1) verschiedenen Anspruchsträgern (Leser, Hörer, Zuschauer, Werbewirtschaft, Rechtsgrundlagen, journalistische Berufskultur etc.); 2) sozialen Bezugssystemen (Gesellschaft, Interessengruppen, Publikum etc.) sowie 3) worauf die Qualitätsbeurteilung jeweils fokussiert: auf das Gesamtsystem, auf das journalistische Handeln, auf bestimmte Produktionsprozesse (Auswahl, Recherche etc.) sowie auf das Produkt, z. B. einen einzelnen Beitrag oder die Gesamtausgabe (vgl. Bonfadelli/Wyss 1998, S. 40). Von Siegfried Weischenberg stammt ein Kreismodell (Weischenberg 2006, S. 13), welches mit Blick auf Einflussfaktoren bezüglich Qualität im Journalismus unterscheidet zwischen Mediensystemen (Qualitätsnormen wie Rechtmäßigkeit, Vielfalt etc.), Medieninstitutionen (Qualitätsmanagement innerhalb der Medienbetriebe wie Ausbildung, Total Quality Management), Medienaussagen (Qualitätsmaßstäbe, wie Aktualität, ›Objektivität‹, Vielfalt) und Medienakteuren (Qualitätsbewusstsein, Standards, Arbeitsmethoden). Mit Total Quality Management ist ein Qualitätsmanagement gemeint, das alle Unternehmensbereiche (einschließlich ihrer Mitarbeiter) umfasst bzw. betrifft, um mit optimalen Produkten – im Medienbereich also möglichst mit allen dargebotenen Inhalten – am Medienmarkt konkurrieren zu können.
Nach diesen allgemein gehaltenen Ausführungen sollen im Folgenden konkrete Kriterien genannt werden, die für Forschungszwecke mehr oder weniger pragmatisch und als Postulate an den Journalismus mehr oder weniger normativ entwickelt wurden. Sie beziehen sich nicht ausschließlich, aber weitgehend auf (empirisch zu messende oder zu beurteilende) journalistische Produkte.
Der Dortmunder Journalistikprofessor Günther Rager z. B. nennt für Printmedien die vier Qualitätsdimensionen Aktualität, Relevanz, Richtigkeit und Vermittlung (vgl. Rager 1994a und 1994b). Stefan Schirmer fügte mit Bezugnahme auf den Deutschen Pressekodex den Faktor ethische Angemessenheit hinzu (vgl. Schirmer 2001). Die Kommunikationswissenschaftler Heribert Schatz (Duisburg) und Winfried Schulz (Nürnberg) ziehen zur Bestimmung von Qualitätskriterien für Fernsehprogramme das deutsche Rundfunkrecht heran und benennen fünf Anforderungen: das Gebot der inhaltlichen Vielfalt, das Gebot der Relevanz, das Gebot der Professionalität, das Gebot der Rechtmäßigkeit sowie Publikumsakzeptanz. (vgl. Schatz/Schulz 1992; Schulz 1996). Ein weiteres Konzept zur Qualitätsbewertung von Rundfunkangeboten stammt von den Medienforschern Michael Buß und Harald Gumbl (vgl. Buß/Gumbl 2000). Ein Versuch, Qualitätskontrolle im Rundfunk zu realisieren, ist von Marianne Blumers erarbeitet worden (vgl. Blumers 2000); mit Qualitätssteuerung im Fernsehen haben sich auch Jan Metzger und Ekkehardt Oehmichen befasst (vgl. Metzger/Oehmichen 2000). Der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Horst Pöttker sieht 1) vier auf Journalismus und Medien bezogene Qualitäten in den Kriterien Richtigkeit, Vollständigkeit, Wahrhaftigkeit und Verschiedenartigkeit; 2) vier mehr zum Publikum hin gewandte Qualitäten in den Kriterien Unabhängigkeit, Zeitigkeit bzw. Aktualität, Verständlichkeit und Unterhaltsamkeit; sowie 3) zwei kommunikatorbezogene Kriterien in Wechselseitigkeit und Sorgfalt beim Abwägen (Pöttker 2000, S. 382f). Klaus Arnold (2009) entwickelte ein integratives Qualitätskonzept, wobei er zwischen drei Ebenen unterscheidet, nämlich: zwischen 1) funktional-systemorientierter Ebene mit den Kriterien Vielfalt, Aktualität, Relevanz, Glaubwürdigkeit, Unabhängigkeit, Recherche, Kritik, Zugänglichkeit, Hintergrundberichterstattung und regionaler/lokaler Bezug; 2) normativ-demokratieorientierter Ebene mit den Kriterien Ausgewogenheit, Neutralität/Trennung von Nachricht und Meinung, Achtung der Persönlichkeit; sowie 3) nutzerbezogen-handlungsorientierter Ebene mit den Kriterien Anwendbarkeit, Unterhaltsamkeit und Gestaltung (Arnold 2009, S. 134–241; siehe auch Zusammenfassung bei Arnold 2009, S. 229–238).
[147]Für die Qualität von Nachrichtenagenturen hat Lutz M. Hagen die folgenden Kriterien theoretisch erarbeitet und empirisch überprüft: Menge der Information, Relevanz, Richtigkeit, Transparenz, Sachgerechtigkeit, Ausgewogenheit, Vielfalt, Aktualität und Verständlichkeit (Hagen 1995). Eine kleine Studie über die Qualität von Nachrichtenagenturen aus der Sicht von Kunden in Deutschland hat Felix Grüll vorgelegt (Grüll 2009). Bewerten konnten die befragten Nachrichtenjournalisten in leitenden Funktionen aus Printmedien, Radio, TV und Onlinemedien die Kriterien Objektivität, Zuverlässigkeit, Schnelligkeit, Sprache und Textaufbau (auf Textebene); Selektion, Übersichtlichkeit und Feature-Anteil (auf Dienstebene) sowie Kooperationsbereitschaft und Korrespondentennetz (auf Unternehmensebene).
Versucht man die in den hier vorgestellten (aber auch noch anderen) Katalogen vorhandenen Kriterien zu vergleichen, so sind die meistgenannten Kriterien Aktualität (bzw. Zeitigkeit), Vielfalt (bzw. Verschiedenartigkeit), Relevanz (Bedeutung) sowie Richtigkeit (bzw. Verlässlichkeit) (vgl. dazu auch Beck et al. 2010, S. 24–25); den einen Maßstab zur Beurteilung von Medienqualität gibt es freilich nicht. (Selbstverständlich haben die hier genannten Autoren ihre Kriterien jeweils auch definiert und entsprechend operationalisiert; aus Platzgründen muss hier jedoch auf deren nähere Erläuterung verzichtet werden.)
Über die Beurteilung von Medienqualität aus Nutzersicht liegen u. a. Studien von Günther Rager (1993) und Klaus Arnold (2009) für die Zeitung, von Jens Wolling für Fernsehnachrichten (2002), von Gerhard Vowe und Jens Wolling für den Hörfunk (2004), von Patrick Rössler (2004) und Urs Dahinden et al. (2004) für Onlinemedien vor. Es ist hier – u. a. wegen ihrer unterschiedlichen und teils komplexen Designs – nicht möglich, auf sie einzugehen. Nur so viel zu Print: Was Zeitungsleser betrifft, so beurteilen diese Günter Rager (1993) zufolge die Qualität nach Themen, die sie interessieren und legen u. a. Wert auf Aktualität, Vollständigkeit, Kürze und sprachliche Verständlichkeit (Rager 1993). Klaus Arnold (2009) fand u. a. heraus, dass allgemeine wichtige Kriterien für Zeitungsqualität »klassische« Kriterien wie Vielfalt, Glaubwürdigkeit, Zugänglichkeit/Verständlichkeit, Neutralität und Ausgewogenheit sind (Arnold 2009, S. 382). Zeitungen sollen respektvoll im Umgang mit Menschen, unabhängig und mutig sein sowie ausgewogen und neutral berichten. Ein Kriterium, das als sehr wichtig eingeschätzt wurde, ist »neben der Aktualität die Zugänglichkeit: Eine Zeitung soll viele kurze Berichte enthalten, übersichtlich und angenehm zu lesen sein« […] und »über wichtige Themen aber auch ausführlich berichten« (ebd.).
Im Zusammenhang mit Medienqualität kommt man nicht umhin, wenigsten kurz auch Möglichkeiten der Qualitätssicherung anzusprechen. Stephan Ruß-Mohl nennt redaktionelle und infrastrukturelle Bedingungen (i-Faktor) der Medienbetriebe (Ruß-Mohl 1994a sowie 2003, S. 341), Vinzenz Wyss setzt auf das »Total Quality Management – TQM« (2002 sowie 2003). Von Michael Haller wieder stammt der Benchmarking-Ansatz (Haller 2003; siehe auch Rau 2007, S. 205–248). Es lohnt sich, diese Ansätze, die hier aus Platzgründen nicht erörtert werden können, im Einzelnen in der erwähnten Literatur nachzulesen. Zahlreiche Beiträge, v. a. empirische Studien und deren Ergebnisse zum Thema Medienqualität in Print, Radio, Fernsehen und Internet, sowie zahlreiche weitere Literaturhinweise sind dem Sammelband »Medien-Qualitäten. Öffentliche Kommunikation zwischen ökonomischem Kalkül und Sozialverantwortung« zu entnehmen (Weischenberg et al. 2006). Überblicke über Qualitätsdebatte und Qualitätsforschung vermitteln auch Stephan Ruß-Mohl (2005), Klaus Arnold (2009) sowie Klaus Beck et al. (2010). Zur Qualität von Fernsehnachrichten liegen u. a. (Fall-)Studien von Andreas Fahr (2001) und Bernd Vehlow (2006) vor. Zur »Definition und Messung publizistischer Qualität im Internet« hat Christoph Neuberger im Zusammenhang mit dem Drei-Stufen-Test eine Studie erarbeitet (Neuberger 2011). Mit Vergangenheit und Zukunft der Qualitätsmedien und deren Unentbehrlichkeit für die öffentliche Kommunikation befasst sich der von Roger Blum et al. 2011 herausgegebene Sammelband »Krise der Leuchttürme öffentlicher Kommunikation« [148](Blum et al. 2011). So schwierig es auch sein mag, Qualität in Journalismus und Massenmedien zu ergründen, zu begründen und – vielleicht – auch durchzusetzen: Eine ständige Auseinandersetzung mit dem Thema in Wissenschaft und Praxis erscheint schon deshalb wichtig, als in einer nachweislich und zunehmend von den Massenmedien geprägten Zeit die Qualität des politischen Diskurses u. a. auch von der Qualität des Mediendiskurses abhängt (vgl. Fabris 1997, S. 74).
4.1.3.2 Redaktionelles Marketing
Nicht nur, aber auch im Zusammenhang mit journalistischer Qualität wird seit geraumer Zeit das Thema »Redaktionelles Marketing« angesprochen. Gemeint sind damit – im weitesten Sinne des Wortes – systematische Bemühungen von Medienredaktionen, Wünsche, Interessen und Bedürfnisse von Zeitungslesern, Radiohörern und TV-Zuschauer zu ergründen und die publizistischen Produkte daran zu orientieren (nicht aber bedingungslos anzupassen). Marketing als Maßnahme der Markterschließung kommt ursprünglich aus der Nationalökonomie. Der Begriff gilt als Bezeichnung für einen bedarfsorientierten Denk- und Führungsstil von Unternehmen, der gedanklich bereits vor dem Produktionsprozess ansetzt und Planung, Durchführung und Kontrolle aller Maßnahmen umfasst, also Marktschaffung, Marktausweitung und Markterhaltung eines Unternehmens. Der Marketinggedanke impliziert folglich eine stark kundenorientierte Sichtweise, und Marketing gilt als bewusst marktorientierte Führung von Unternehmen (vgl. Meffert 1986).
Marketing ist für alle Mediengattungen wichtig. Es gilt besonders im Zeitungswesen bereits seit längerem als Ansatz für die Zukunftssicherung der von den anderen Medien bedrängten Tageszeitung. Für lange Zeit wurde im Marketing eine genuin verlegerische Aufgabe gesehen – v. a. als Anzeigen- und Vertriebsmarketing. Da die Zeitung jedoch auf einem »interdependenten Doppelmarkt« (Möllmann 1998) auftritt, mit einer publizistischen Dienstleistung (Mediennutzer) und einer Werbedienstleistung (Anzeigenkunden), wird Zeitungsmarketing in zunehmendem Maße auch als Aufgabe der Redaktionen gesehen. Zeitungsmarketing allgemein umfasst daher eine differenzierte Ausrichtung des Verlages am Markt (Leser, Inserenten), an der Branche (intra- und intermediäre Konkurrenz bzw. Wettbewerber) sowie an der Umwelt (soziopolitische Rahmenbedingungen) (vgl. Wolf/Wehrli 1990).
Unter redaktionellem Marketing im Besonderen versteht man einerseits die konsequente Ausrichtung der redaktionellen Arbeit auf die Bedürfnisse und Interessen der Leserschaft (vgl. Schaefer-Dieterle 1993, S. 30). Es stellt »ein Instrument dar, redaktionellen Anspruch und Marktnotwendigkeiten zu vereinbaren« (Möllmann 1998, S. 51) oder, wie der Dortmunder Journalistikprofessor Günther Rager meint, einen wichtigen Beitrag »im Ensemble aller Anstrengungen des Verlags, mit der Zeitung die Leserschaft besser zu bedienen, sie konsequent an Bedürfnissen, Interessen und Erwartungen der Leserinnen und Leser auszurichten« (Rager 1994c, S. 8). Andererseits herrscht aber auch Übereinstimmung darüber, dass Zeitungsmarketing nicht nur ein auf kommerzielle Erwägungen abgestelltes, strategisches Handeln sein darf (vgl. Möllmann 1998, S. 51). Auch bedeutet redaktionelles Marketing nicht, den journalistischen Anspruch einer Zeitungsredaktion und ihre gesellschaftliche Verantwortung aufzugeben. »Es bleibt der Spagat zwischen publizistischem Anspruch, journalistischer Qualitätssicherung und redaktioneller Eigenständigkeit auf der einen Seite, Sicherung der Ertragskraft und Rentabilitätsdenken auf der anderen Seite« (Schaefer-Dieterle 1994, S. 53).
An diesem Spagat setzt immer wieder journalistische Kritik ein. Die Forderung nach der Einbindung der Redaktionen in die Marketingaktivitäten stieß (und stößt) nicht selten auf den Widerstand der Journalisten: »Sie fürchten um ihre Autonomie und um ihre Rolle als ›Watchdogs‹, vermuten hinter redaktionellem Marketing eine drohende Kommerzialisierung des Mediums und bezichtigen [149]redaktionelles Marketing allzu rasch der einseitigen Ausrichtung an möglichen Auflagensteigerungen und dabei der eilfertigen Anpassung an den Massengeschmack« (Pürer/Raabe 1996a, S. 520). Gleichwohl ist aber unbestritten, dass in Zeiten der Ausdifferenzierung des Medienangebotes und der ständigen Veränderungen der Leserinteressen in forciertem Zeitungsmarketing eine unabdingbare Möglichkeit gesehen wird, den Leser als Kunden zu verstehen und das Produkt »Zeitung« an den Leserbedürfnissen zu orientieren. Keineswegs ist damit die kritiklose Anpassung am Durchschnittsleser zu verstehen. Vielmehr ist ein problem- und prozessorientiertes Denken und Handeln gemeint, »das auf ein situatives Eingehen auf Publikumswünsche und die Berücksichtigung der Veränderung von Umweltbedingungen angelegt ist« (Pürer/Raabe 1996a, S. 520). Modernes Zeitungsmarketing ist von ganzheitlichen Strategien gekennzeichnet, in das die wichtigsten Abteilungen des Zeitungsverlagshauses, bzw. Anzeigen- und Vertriebsabteilung, Werbeabteilung und Leserservice sowie auch die Redaktion eingebunden sein müssen. Es erfordert nicht zuletzt eine wissenschaftlich abgesicherte Leserschaftsforschung, deren Ergebnisse auch die Redaktion erreichen müssen. Bernhard Möllmann hat empirisch nachgewiesen, dass – ungeachtet einer nach wie vor beobachtbaren, gesunden Skepsis – redaktionelles Marketing in weiten Teilen des bundesdeutschen Zeitungswesens Fuß gefasst hat. Es erfordert nicht zuletzt auch geeignete redaktionelle Strukturen und ein besonders qualifiziertes Redaktionsmanagement (vgl. Möllmann 1998). Harald Rau schlägt in einer 2000 erschienenen Publikation »Redaktionsmarketing. Journalismus als Planungsfaktor in der Positionierung regionaler Tageszeitungen« die Brücke von den Wirtschaftswissenschaften hin zur Publizistik (Rau 2000, S.VII). In einer Folgepublikation verbindet er eine Ökonomie der Publizistik mit Überlegungen zu Qualität, Marketing und Benchmarking (Rau 2007).
4.1.3.3 Ethik und Journalismus
Ähnlich wie dem Thema Qualität wird seit geraumer Zeit auch dem Thema Ethik und Journalismus zunehmend Aufmerksamkeit zuteil (vgl. Boventer 1988 und 1989; Erbring/Ruß-Mohl 1988; Pürer 1991/1992; Haller/Holzhey 1992; Holderegger 1999; Wilke 1996; Wunden 1989 und 1994; Wiegerling 1998; Debatin 1997; Stapf 2006; Pohla 2006; Funiok 2007; Schweiger/Beck 2010 u. a. m.). Es sind nicht nur die Aufsehen erregenden, großen Fehlleistungen des Journalismus, die die Thematik in den Vordergrund journalismuspraktischer wie medienwissenschaftlicher Reflexion rücken (Beispiele: Hitler-Tagebücher, Barschel-Engholm-Affäre, Geiseldrama Gladbeck/Köln, Grubenunglücke Borken und Lassing, Paparazzi-Fotojagden, Schmuddel-Talkshows, Fälschungen von Michael Born und Tom Kummer, Prominentenprozesse wie der Fall Kachelmann etc.). Auch die beinahe täglich erfolgenden Verletzungen des Persönlichkeitsschutzes und der Unschuldsvermutung in der lokalen Kriminal- und Unfallberichterstattung lassen Fragen aufkommen, z. B.: Wie steht es um Moral, Ethik und Verantwortung im Journalismus? Sind Journalisten persönlich und alleine verantwortlich dafür, was sich im Mediensystem tut oder gibt es noch eine Reihe anderer Verantwortlichkeiten? Liegt – nicht zuletzt im Sinne einer Medienökologie – nicht auch Verantwortung beim Publikum, bei den Zeitungslesern, Radiohörern, Fernsehzuschauern und Internetsurfern? Diese und ähnliche Fragen sollen im Folgenden angesprochen und erörtert werden.
Zunächst kurz zur Klärung von Begriffen: Mit Moral (lat. mos = Gewohnheit, Sitte, Brauch) ist jenes uns anerzogene Werte-, Sitten- und Normengeflecht gemeint, auf dessen Basis wir täglich bewusst oder unbewusst unsere Handlungen vollziehen. Unter Ethik versteht man die Lehre von den sittlichen Werten und Forderungen, eine Morallehre, die einer »praktischen Philosophie« vergleichbar ist. Ethik meint also das Nachdenken über unsere (moralisch bedingten und moralisch zu bewertenden) Handlungen. Und ethische Prinzipien sollen, auch und insbesondere im Journalismus, [150]»den Spielraum des rechtlich nicht Verbotenen auf das moralisch Verantwortbare eingrenzen«. (Wilke 1998, S. 292; Hervorhebung H. P.). Das Gewissen wieder ist das Mitwissen um die von uns getätigten Handlungen. Medienethik befasst sich folglich mit moralischen Prinzipien des Journalismus, nicht zuletzt also damit, wie Journalisten auf der Basis demokratischer Werte und anderer allgemeiner gesellschaftlicher Übereinkünfte handeln sollen. In einer wertepluralen Gesellschaft, deren gemeinsame Wertebasis immer schmäler wird, ist dies eine nicht einfach zu beantwortende Frage.
Auch die Begriffe Recht bzw. Gesetz sollen hier noch kurz erwähnt werden. Sie sind Sammelbegriffe für Ordnungssysteme mit dem Ziel, das Zusammenleben in einer Gesellschaft verbindlich für alle Gesellschaftsmitglieder zu regeln, um Konflikte möglichst zu vermeiden – ein denkbar schwieriges Unterfangen. Beide – Moral/Ethik sowie Recht/Gesetz – stellen gesellschaftliche Steuerungssysteme dar, und dies ist auch in Journalismus und Massenmedien der Fall.
Bei Verstößen gegen Normen, seien dies nun verbindliche Gesetze oder auf freiwilliger Basis eingehaltene Berufskodizes, stellt sich in aller Regel auch die Frage nach der Verantwortung. Daher sei hier auch der Schlüsselbegriff Verantwortung angesprochen. »Verantwortung bedeutet, dass wir für etwas eintreten und die Folgen tragen, dass wir unser Handeln vor anderen rechtfertigen müssen. Die anderen, das können Justiz, die Gesellschaft oder einzelne Mitmenschen sein – und auch wir selbst. Erweist sich bei unserer Rechtfertigung das Handeln als nicht korrekt, können wir dafür belangt werden« (Hömberg/Klenk 2010, S. 41f). Verantwortliches Handeln schließt 1) Freiwilligkeit ein, meint 2) dass es Handlungsalternativen gab bzw. gibt und postuliert 3), dass die Folgen einer Handlung absehbar sind. Dies ist im Journalismus nicht immer der Fall und tangiert, was v. a. gesellschaftliche Folgen journalistischen Handelns betrifft, komplexe Fragen der Medienwirkungen (vgl. Kap. 4.4.3, 5.2 sowie 5.3). Mit dem Thema Verantwortung im Journalismus haben sich u. a. Bernhard Debatin (1998a) und Rüdiger Funiok (2007) befasst.
In der Kommunikationswissenschaft gibt es unterschiedliche theoretische Denkmodelle darüber, wer im Journalismus Verantwortung trägt. Erste Synopsen individualethischer, mediensystemethischer und publikumsethischer Überlegungen legte Anfang der 1990er-Jahre Heinz Pürer vor (Pürer 1991, 1992). Im medienethischen Diskurs der zurückliegenden Jahre haben sich neben mehreren anderen (vgl. Schicha/Brosda 2010) Perspektiven herausgebildet, die hier erörtert werden: die individualethische, die professionsethische, die institutionenethische sowie die publikumsethische.
Die journalistische Individualethik weist, wie ihr Name sagt, die Verantwortung für journalistisches Handeln dem einzelnen Journalisten persönlich zu und fordert von ihm ein hohes Maß an Moral, Ethik und Verantwortungsbewusstsein. Der Publizistikwissenschaftler Emil Dovifat z. B. sprach von der begabten publizistischen Persönlichkeit, die durch Studium und Erfahrung zur Entfaltung gebracht werden könne (Dovifat 1967, S. 33). Der Journalist und Wissenschaftler Otto Groth forderte Charaktereigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Einsatzbereitschaft, Takt und Ton (Groth 1962, S. 387ff). Für den langjährigen Journalisten und bekennenden Ethiker Hermann Boventer hat im Journalismus Wahrhaftigkeit besondere Bedeutung. Er postuliert darunter folgende Maximen: Ehrlichkeit im Beobachten, Sorgfalt beim Recherchieren sowie Unabhängigkeit im Urteil, Fähigkeit zur Kritik und v. a. auch zur Selbstkritik (Boventer 1989, S. 131ff). Orientierung für ethisches Handeln findet der einzelne Journalist (wie erwähnt) neben gesetzlichen Bestimmungen insbesondere auch in journalistischen Berufskodizes wie etwa dem Kodex des Deutschen Presserates, also der Professionsethik (s. u.).
Im Zusammenhang mit dem Aspekt Verantwortung sei hier – in Anlehnung an Max Weber – auf die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik hingewiesen (siehe dazu Möller 1983, Wilke 1987, Wilke 1996; Kunczik/Zipfel 2001, Kepplinger/Knirsch 2000). Der gesinnungsethisch Handelnde fühlt sich der Wahrheit verpflichtet und achtet nicht auf die Folgen seines Handelns. Der verantwortungsethisch Agierende hat auch die Folgen seines Handelns im Auge. Journalisten [151]handeln stets im Spannungsfeld zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Sie sollten daher stets auf die Verhältnismäßigkeit der angewendeten Mittel achten (d. h. z. B., auf den kleinen Ladendieb nicht mit ›journalistischen Kanonen‹ schießen). Für Hermann Boventer spielt das Prinzip Verantwortung eine wichtige Rolle. Sie sei »eine Funktion von Macht und Wissen« und begründe die »Vorbildfunktion des Journalisten« (Stapf 2006, S. 120 mit Bezugnahme auf Boventer).). Stapf ordnet die Thematik Gesinnungs-/Verantwortungsethik der Professionsethik zu (Stapf 2006, S. 138).
Der individualethische Ansatz enthält zweifellos wichtige ethische Anhaltspunkte für das Wirken im Journalismus, »vernachlässigt allerdings die praktischen Gegebenheiten auf politischer, institutioneller und mediensystemischer Ebene« (Stapf 2006, S. 123), denen der einzelne Journalist bei seiner Arbeit unterliegt. Der Wiener Kommunikationswissenschaftler Maximilian Gottschlich wendete bereits 1980 ein, dass eine verbindliche Beurteilungsgrundlage journalistischen Handelns die Berufswirklichkeit idealisiere, berufliche Abhängigkeitsverhältnisse verschleiere und auch das Problem ethischer Divergenz in einer pluralistischen Gesellschaft aufwerfe. Außerdem seien ethische Normierungen schwer zu operationalisieren. Dies gelte v. a. auch für die Pressekodizes, die die Berufswirklichkeit idealisierten. Solche Kodizes (vgl. w. u.) würden Werte absolut setzen, die für moderne, bzw. pluralistische Gesellschaften nur relative Wertigkeit besitzen (vgl. Gottschlich 1980, S. 146ff; siehe dazu auch Weischenberg 2004, S. 219f).
Die journalistische Professionsethik verfolgt im Wesentlichen folgende Ziele: die Erstellung von Richtlinien für die journalistische Arbeit sowie »die Vermeidung von Fremdkontrolle« durch Selbstkontrolle (vgl. Stapf 2006, S. 138). Dazu im Einzelnen: Richtlinien für die journalistische Arbeit sind in nationalen und internationalen Pressekodizes zu sehen, die in aller Regel von der Profession, also von Berufsverbänden (Journalistengewerkschaften, oft in Zusammenarbeit mit Verlegerverbänden) und Presseräten erarbeitet werden. Solche Kodizes sollen dem Berufsstand der Journalisten Orientierungsmöglichkeiten für ethisch möglichst nicht konfligierendes journalistisches Handeln liefern; sie sollen Berechenbarkeit stiften und Standards sowie Regeln für die tägliche Arbeit in einem Medienunternehmen vermitteln (vgl. Pörksen 2005, S. 217). Solche Regeln sind:
• allgemeine Appelle an das Verantwortungsbewusstsein des Journalisten bei der Erfüllung seiner öffentlichen und dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe;
• Achtung vor der Wahrheit und Streben nach Wahrhaftigkeit;
• Appelle zur Wahrung journalistischer Unabhängigkeit;
• korrekte Beschaffung und Wiedergabe von Information;
• Richtigstellung unzutreffender Mitteilungen;
• Wahrung der Vertraulichkeit, des journalistischen Berufsgeheimnisses und des Zeugnisverweigerungsrechts;
• Respektierung des Privatlebens und der Intimsphäre von Betroffenen der Berichterstattung;
• Eintreten für Menschenrechte und Frieden;
• keine Verherrlichung von Gewalt, Brutalität und Unmoral;
• keine Veröffentlichungen in Wort und Bild, die das sittliche Empfinden (v. a. Jugendlicher) verletzen könnten;
• keine Diskriminierung rassischer, religiöser und nationaler Gruppen;
• Zurückhaltung in ermittelnden und schwebenden Gerichtsverfahren;
• die Unvereinbarkeit des journalistischen Berufs mit Geschenkannahme oder Gewährung von Vorteilen;
• u. a. m.
Der Kodex des Deutschen Presserates beispielsweise, der für Print- und Onlinezeitungen gleichermaßen gilt, ist dessen Onlineauftritt www.presserat.de zu entnehmen. Das Selbstkontrollorgan Deutscher [152]Presserat dokumentiert sein Wirken und seine Spruchpraxis sowohl online wie auch in den von ihm publizierten Jahrbüchern genau und entwickelt seine Richtlinien auch ständig weiter. Es lohnt sich, darin Einsicht zu nehmen.Solche Berufskodizes sind unter Medienpraktikern in aller Regel kaum umstritten, und Journalisten können sich bei ihrer Arbeit im Prinzip gut an ihnen orientieren. Allerdings unterliegen sie aufgrund ihrer doch recht allgemeinen Formulierungen in starkem Ausmaß der persönlichen Interpretation durch die Journalisten und greifen im Berufsalltag daher oft nur in eingeschränkter Weise.
Für die Professionsethik zentral ist aber auch – und damit ist ihr zweites Ziel angesprochen – die Idee der Selbstkontrolle, die nur durch die Profession selbst erfolgen soll. »Freiwillige Medien-Selbstkontrolle gilt als die Gesamtheit der Regeln und Verfahrensweisen, die sich die Presse freiwillig auferlegt und anerkennt, um den Machtmissbrauch einzelner Presseorgane zu verhindern und der Verantwortung einer freien Presse gegenüber dem Gemeinwohl gerecht zu werden« (Stapf 2006, S. 139). Daher sind es auch die Presseräte, die für behauptete Verletzungen von Berufsgrundsätzen zuständig sind. Ihre Sanktionsmöglichkeiten sind in aller Regel aber eher gering: der Deutsche Presserat z. B. kann Hinweise, Missbilligungen, öffentliche und nichtöffentliche Rügen an betroffene Medien aussprechen. In den Pressekodizes kommt auch zum Ausdruck, dass die Profession (der Journalisten) »zwischen der Ideal- und Praxisebene vermittelt« (Stapf 2006, S. 142; Hervorhebung i. Orig.). Nicht zuletzt sei erwähnt, dass Selbstkontrolle im Journalismus staatlicher Kontrolle zuvorkommen soll.
Die für Journalismus und Medien (an-)gedachte Konzeption der Institutionen-, Organisationsund Unternehmensethik basiert auf systemtheorethischen Überlegungen. Deren prominente Vertreter, Manfred Rühl und Ulrich Saxer, lehnen eine individualethische Betrachtung von Verantwortung im System Journalismus ab (Rühl/Saxer 1981). In der Annahme, Journalismus sei allein an Personen festzumachen, wird eine Verkürzung der Diskussion über Ethik und Verantwortung im Journalismus gesehen. Sittliche Prinzipien, wie sie u. a. in journalistischen Berufskodizes festgeschrieben sind, stellen nur ein Steuerungssystem unter vielen anderen dar. Der Journalist wird aus mediensystembzw. institutionenethischer Perspektive als Person mit zugewiesenen Berufs- und Arbeitsrollen gesehen, der in eine (Medien-)Institution eingebunden ist, von der er abhängig ist. Drei (ethik-)relevante Strukturen sind es, die Ulrich Saxer zufolge journalistisches Handeln in Medieninstitutionen beeinflussen, nämlich:
1) | institutionelle Rahmenbedingungen wie Recht (als verbindliche Regelungssysteme), Markt (ökonomische Zwänge und Konkurrenzdruck, die journalistische Zielsetzungen mitprägen) sowie Politik (die allgemeine Rahmenbedingungen schafft) (vgl. Saxer 1992, S. 109–113); |
2) | die Medien-Organisationsrationalität des Medienunternehmens selbst, d. h. »maximal leistungsfähige Strukturen für das Überleben und möglicherweise Prosperieren in publizistischer und wirtschaftlicher Hinsicht«: u. a. taugliches Personal, genügend Stoff für Sendungen und Artikel, bedürfnisdeckende Finanzmittel, ausreichender Absatz, zweckdienliche Arbeitsabläufe, Handlungsbedingungen der Mitarbeiter, Unternehmenskultur und Anpassung der Mitarbeiter (Saxer 1992, S. 113–117); sowie |
3) | journalistische Routinen als »zentrale Strukturen der journalistischen Berufskultur«: Rechercheroutinen, Selektionsroutinen, Präsentationsroutinen u. a. m. (Saxer 1992, S. 117–123). |
Heinz Pürer sieht innerhalb der Medieninstitutionen im publizistischen Bereich unterschiedliche, hierarchisch bedingte – und damit gestufte – Funktionsverantwortlichkeiten. Sie beginnen beim Medieninhaber, der die inhaltliche Linie bestimmt und setzen sich fort bei Intendanten und Herausgebern, die auf die Einhaltung dieser Linien achten. Unterschiedliche weitere Verantwortlichkeiten liegen bei Chefredakteuren und Programmdirektoren, Programmabteilungs- und Ressortleitern, Chefs vom Dienst, fest angestellten und freien Journalisten (vgl. Pürer 1992, S. 315).