Читать книгу Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 - Heinz Scholz - Страница 13
Vom Leben in Haus, Familie und Dorf
ОглавлениеHäusler Oskar Scholz, Hartelangenvorwerk, Nr. 81, das war unsere Anschrift. Sie stand auf Karten oder Briefen, die der Poststellenleiter und Briefträger Wolf in unser Haus brachte. Die Bezeichnung „Häusler“ sagte aus, dass der damit genannte Besitzer nur ein kleines Haus besaß, mit ein wenig Garten und Feld. So war unser Haus weder stattlich noch groß, aber räumlich in drei Bereiche gegliedert: Rechts lag der Wohnbereich, in der Mitte Stall und Futtervorbereitung, zur Linken schloß sich die Scheune an. Wir gingen durch die Haustür in den Hausflur. Von dort konnte man hinten, die Kellertreppe hinunter, in den Gewölbekeller gelangen, der in den hinter dem Haus aufsteigenden Berg hineingebaut worden war und in dem Kartoffeln und Rüben lagerten, unsere Gurken- und Sauerkrauttöpfe standen und wo sich auf Regalen die Einkochgläser aneinander reihten. Vom Hausflur links gesehen, hinter einer einfachen Holztür, befand sich der Stall mit Kuh und Ziegen. Man konnte sie hören, zuweilen auch riechen. Rechts durch eine stabilere Tür gelangte man in die Wohnstube. Hier spielte sich insgesamt der Alltag ab. Da war links ein hoher Kachelofen, der mit einer Herdplatte über dem Feuerloch und einer „Röhre“ zum Kochen und Warmhalten diente, zugleich aber auch den Wohnraum heizte. Wir saßen im Winter gern auf der Ofenbank, mit dem Rücken an die warmen Kacheln gelehnt. Mutter, die in unseren frühen Kindheitstagen gern sang, saß dann strickend am Ofen und animierte uns zum Mitsingen, hauptsächlich in der Dämmerstunde, wenn die Hauptarbeit des Tages getan war. Wir Jungen sangen auch gern, und mein Bruder Helmut hatte eine ausgesprochen „schöne Stimme“, von meiner Mutter „geerbt“, wie wir alle meinten. Manchmal im Winter, wenn es draußen schneite, saßen wir zwei auch im Fenster, auf dem überbreiten Fensterbrett. Und das war bei uns möglich, da die Mauern gewiß 40 bis 50 cm dick waren. – Innen waren die Wände der Wohnstube mit Holz vertäfelt, auch der Fußboden mit Holz gedielt. Rechts in der Ecke stand der Esstisch, von zwei festen Eckbänken im Winkel umgeben. Darauf saßen wir Jungen beim Essen, mittags mit der Mutter, abends, wenn die Pfanne mit Bratkartoffeln auf dem Tisch stand, zu viert. In einer anderen Ecke stand unser altes Sofa, daneben Mutters Nähmaschine, und schließlich auf einem extra dafür gefertigten „Tischel“ das Radio. Da gab es natürlich noch den Küchenschrank, zu dem uns Jungen der ganztägige Zugang verwehrt war, weil man sich gefälligst am Morgen, zu Mittag und am Abend richtig satt zu essen hatte; alle Naschereien zwischendurch waren strengstens untersagt. Und Mutter kam uns stets auf die Spur, wenn wir insgeheim versucht hatten eine Scheibe Brot fein säuberlich und unauffällig abzuschneiden. Oder wenn feinste Körnchen von Zucker herabgefallen waren. Was das Essen zu den Mahlzeiten betraf, da galt grundsätzlich: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Ich habe manchmal vor dem halbleeren Teller oder dem Rest einer dickpampig kalt gewordenen Mehlsuppe ewig gesessen, bis mir der Teller weggezogen wurde mit dem Bescheid: „Wenn nicht jetzt, dann isst du es heute abend!“
Ich hatte mir immer vorgenommen: Das wirst du später mal von deinen eigenen Kindern nicht verlangen. Übrigens – und das sei hier an passender Stelle hinzugefügt – den gleichen Vorsatz habe ich einst aus tiefster Überzeugung gefasst, wenn ich als Junge diese furchtbar kratzenden und geradezu schmerzenden selbstgestrickten langen Strümpfe anziehen musste. Grob Gestricktes auf blanker Haut – das gehört mit zu den Leiden meiner Kindheit!
In unserer Wohnstube wurde zu Winterszeiten am Samstagabend auch der große hölzerne Waschzuber aufgestellt. Wir Jungen kamen zuerst dran und wurden von Mutter sehr gründlich „gebadet“ und geschrubbt, dann – nachdem wir ins Bett bugsiert waren – folgten Mutter und Vater. Diese wöchentliche Hauptwaschprozedur wie auch die täglichen Mahlzeiten fanden im Sommer im steingefliesten Hausflur statt. Hier stand in der Ecke auch die „Kochmaschine“, ein offener metallener Herd mit eiserner Herdplatte und Ofenrohr bis zum Schornstein, auf dem zur warmen Jahreszeit nicht nur die „Schweinskartoffeln“, sondern auch das tägliche Essen gekocht wurde.
Vom Hausflur aus führte eine freie, steile Holztreppe nach oben auf den oberen Flur, von dem man rechts in die Schlafkammer ging. Neben Betten für die Eltern wie auch für uns standen hier zwei Kleiderschränke, eine Kommode und ein „Vertiko“. Hatten wir mal ein Schwein geschlachtet, dann hingen hier an einem Gestänge auch die Leber- und Blutwürste, deren verlockender Duft uns Jungen ein weiteres Mal zu Disziplin und Entsagung zwang. Links vom Flur lag die „Rumpelkammer“, die Vater später als Kinderzimmer ausbauen ließ. Weiter hinauf führte eine holzverkleidete Treppe auf den Heuboden, auf dem tatsächlich das Heu bis in alle Winkel hinein vollgestopft, während auf dem Stangenboden über der Scheune hauptsächlich das Korn gelagert war. Von da aus musste es hinuntergereicht werden, wenn es zur Winterszeit auf der Tenne mit dem Flegel gedroschen wurde. Hinter dem Haus hatte Vater einen massiven Schuppen gebaut, in dem neben einem festen Schweinestall getrocknetes Brennholz gestapelt und Kohle und Sonstiges gelagert war.
Die zwei gemästeten Schweine hat Vater vorzugsweise verkauft, um mit dem Ertrag weitere Ab- oder Zinszahlungen für das 1923 gekaufte Haus zu tätigen. 1944 im Dezember hat Vater die letzte Rate von 200 Mark zurückgezahlt; zwei Monate später, im Februar 45, ist unser Haus bei den Kämpfen zwischen den hereinbrechenden sowjetischen Truppen und den verteidigenden Einheiten der Wehrmacht zerstört worden! Wie man erzählte, soll ein T 34 rückwärts, das Scheunentor eindrückend, in das Haus hineingefahren sein, worauf der Scheunenbau über dem Panzer zusammengestürzt sei. (Als ich im Jahre 1967 mit meinem Vater gemeinsam wieder in unserem Dorf vor den überwachsenen Grundmauern unseres alten Hauses stand, hat er geweint. Er sah sich vor den Trümmern seines Lebenswerkes!)
Vor dem Haus, unter den Wohnstubenfenstern, war ein schmaler eingezäunter Blumengarten. Im Sommer wuchsen hier, auffällig und von unsrem Ehrgeiz pfleglich angetrieben, unsere Sonnenblumen hoch hinauf bis zu den Fenstern der Schlafkammer. Zwischen diesem Vorgarten und der Haustür stand unsere „Hausbank“, ein wichtiger und behaglicher Ruheplatz an warmen Sommerabenden. Unter dem Geäst unserer großen Kastanie hindurch hatten wir einen schönen Blick über Wiesen und Felder bis zu „Vogels Pusch“. Wenn wir von hier aus laut rufend das Echo ausprobierten „Wie spät ist es in Magdeburg“, schallte es drüben von Langes Giebel zurück: „Achte durch!“ Oder: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“, dann: „E-sel!“
Auf der Rückseite unseres Hauses konnten wir Jungen über das zu unserem Kellerberg herabhängende Dach hinaufklettern bis zum First. Nur einen knappen Meter, über die breite Holzdachrinne hinweg, brauchten wir hochzusteigen, um auf das nicht sehr steile Hinterdach zu gelangen. Hinter dem Haus, zum Berg hinauf, zog sich ein etwa 30 m breiter und 60 m langer Obstgarten, hinter dem sich das kleine „Gärtel“ für den Gemüseanbau anschloss. Neben zwei Birnbäumen hatten wir diverse Apfelsorten, zwei unbedeutende Pflaumenbäume und einen hohen Süßkirschbaum, den wir Jungen in der Reifezeit mit der Kirschenklapper gegen diebische Stare zu bewachen hatten. Vater verstand auch mannsähnliche, abschreckende Vogelscheuchen herzurichten und oben in der Spitze des Baumes zu befestigen. Der größte Teil „unseres Berges“, des etwa 30 m breiten Ackerstreifens bis über die Höhe hinauf, war bestellt mit Roggen, Kartoffeln und Rüben. Aber auf dem trockenen Sandboden waren Wuchs und Ertrag spärlich. Natürlich mussten wir beim Ernten helfen.
Garten und Berg gehörten mit zu unseren Spielbereichen. Hier bauten wir uns Lagerplätze oder „Höhlen“, manchmal aus alten Decken und Brettern unbestimmbare „Buden“, und ganz oben auf dem Feldrain richteten wir uns Beobachtungsstellen ein, und im Herbst ließen wir von hier aus unsere selbstgebauten Drachen steigen. Im Sommer, beim Spiel im Garten, mussten wir uns öfter aggressiver Bienen erwehren, die vom Bienenstand unseres Nachbarn Gerhard auf einer ihrer Fluglinien durch unser Grundstück flogen. In unserer unberechenbaren Beweglichkeit gerieten wir unwillkürlich in ihre Flugbahn, wurden dadurch prall angeflogen und als vermeintliche Gegner sogleich gestochen. Auch an unserer „Plumpe“ vor dem Haus, an der wir erhitzten Jungen unseren Durst löschten, stießen wir mit den nach Wasser lechzenden Bienen zusammen. Mit der Zeit gewöhnten wir uns an Schmerzen und Schwellungen und suchten Wege nach friedlicher Abwehr der Plagegeister. Zu allem blieben wir versöhnlich, weil die imkernden Nachbarsleute uns ihr Mitgefühl erwiesen, gute Ratschläge erteilten und uns versicherten, Bienenstiche seien gesund! Vor allem aber wurde immer mal wieder ein Glas süßen Honigs zu uns herübergereicht, oder man lud uns Jungen ein, beim Honigschleudern „mitzuhelfen“, was nichts anderes bedeutete, als dass wir naschen durften.
Und da bin ich bei unseren Nachbarn angelangt, die verdienen, dass ich Löbliches sage: Der „Bäcker-Gerhard“ mit seiner Frau Klara und die Kinder Käthe und Hans – sie wohnten in der Nr. 80, im Haus rechts neben uns, das etwas größer und geräumiger war. Deshalb meinten wir, die Schulzes neben uns seien nicht so arm wie wir. Man muss jedoch einräumen, dass der „Bäcker-Gerhard“ (er war ein Sohn des Dorfbäckers) ein tüchtiger Maurer-Polier war und deshalb sein Haus auch besser in Schuss halten und auch selbst ausbauen konnte. Aber ich hatte trotzdem immer das Gefühl: Die sind „reicher“ als wir: Eine Zeit lang stand sogar ein Flügel (ein richtiges Piano) in der Wohnstube! Dann hatten sie eine Zitter im Haus, auf der auch ich manchmal nach einem eingelegten Notenblatt spielen durfte. Im Stall hatte man auch zwei Kühe stehen, also eine mehr als wir. Und die bei uns allen im Dorf üblichen Bratkartoffeln zum Abendbrot glänzten vor Fett viel mehr als bei meiner Mutter! Und die Schulzes hatten Verwandte in Berlin! Standen also mit Stadtleuten in familiärer Verbindung! Und so weiter. Irgendwie – so meinte ich als Kind – stünden sie über uns oder sagen wir höher als wir. In vielem erklärbar, weil die Nachbarskinder Hans wie Käthe 4 – 5 Jahre älter waren als wir und wir auch mit Respekt zu ihnen aufsahen. Zumal sie uns so manches voraushatten und wir von ihnen dies und jenes lernten. Der 14-jährige Hans zeigte uns z. B., wie man aus Sperrholztafeln kleine Doppeldecker-Flieger herstellen konnte. Mir brachte er dann auch das Schachspiel bei. Wir lernten von ihm, wie man Hockey und Fußball spielt – auf der Straße versteht sich. Hans ließ uns in seine Versandhauskataloge von „Stuckenbrock“, „Klepper“ und „Sport-Schuster aus München“ einsehen, so dass wir wahrnehmen konnten, welche wunderbaren Sachen (Zelte, Skier, Skistiefel, Faltbote, Fußballschuhe oder Fahrräder) in der großen Welt draußen zu haben sind, für Leute, die über das nötige Geld verfügten. Und als er ein Akkordeon besaß und darauf spielte, da wußte ich, was mir noch fehlte Auch dass Hans nach der Schulzeit in Löwenberg in der Bufe-Mühle im Büro als „Schreiber“ lernte und schließlich auch eine Freundin aus der Stadt uns zu Gesicht brachte, hat uns imponiert. Und wie er dann als „Flieger“ zur „Luftwaffe“ „ging“, das war natürlich für mich ganz besonders beispielgebend!
Käthe war als Mädchen für uns zwei Jungen, da wir keine Schwester hatten, wie eine ältere schwesterliche Freundin. Wir mochten sie, weil sie freundlich zu uns war, sich natürlich gab und sich gelegentlich um uns kümmerte.
So als unbedarfter Heranwachsender redet man ja manchmal von den „blöden Weibern“, regt sich auf über deren „Schöngetue“. Bei Käthe wären wir nie in derartige Reden verfallen. Später hat uns natürlich interessiert, mit „wem sie geht“. „Käthe ist wie ihre Mutter“, das hörte man sagen. Und es stimmt genau. So überaus gütig, so herzensgut, so voller stiller Nachsicht und natürlicher Freundlichkeit – so habe ich unsere liebe Nachbarin, Frau Schulz, in Erinnerung. Gegen uns Jungen fiel nie ein böses Wort oder eine schroffe Zurechtweisung. Manchmal steckte sie uns was zu. Ein andermal lud sie uns ein, von ihren so wohlschmeckenden Bratkartoffeln zu essen, was wir gern, aber nur zögerlich annahmen, weil bei unseren Eltern galt: Nicht betteln – zu Hause wird gegessen!
Der Vater von Hans und Käthe war uns Jungen auch gut gesonnen, aber von ihm kriegten wir manchmal schon was ab. Eine tadelnde Bemerkung, wenn wir uns ungeschickt verhielten, oder auch eine ironische, wenn ich im unpassendsten Augenblick in Jungvolkuniform daher kam, aber eben auch eine lobende, wenn man deutlich etwas „Vernünftiges“ vorweisen konnte. „Bäcker Gerhard“ war ein kritischer Mensch, selbst am Ende der Dreißiger Jahre noch stand er ziemlich „links“, während mein Vater seine alte sozialdemokratische Haltung schon fast verdrängt hatte. Über diesen Unterschied hinweg verstanden sich die beiden Männer recht gut. Beide tranken gern „an gutten Kurn“, waren sehr gesellig und spielten zur Kirmes oder zum Maskenball bei „Hiebnern“ gemeinsam so manchen Possen. Und nachbarschaftlich half man sich mit aller Selbstverständlichkeit.
Während des Krieges spürte man an seinen vorsichtig skeptischen Anmerkungen, dass bei ihm keine Siegeszuversicht aufkam. Er war auch kein militärischer Typ, der sich wie andere beim „Schissen“(Schützenfest) des „Reichkriegerbundes“ groß ins Zeug gelegt hätte. Nein, man konnte als Junge sich schon vorstellen: Der ist gegen den Krieg. Jahre später, nach 1945 haben wir darüber offen gesprochen.
Überhaupt unterschied er sich grundsätzlich vom Hilger Bruno, unserem anderen Nachbarn zur Linken. Der wohnte also in der Nr. 82 mit seiner Frau Berta. Beide waren „Hofearbeiter“, sie beim „Dunkel-Pauer“, er als Vorarbeiter beim Großbauern Heinrich im Nachbardorf. Hilger Bruno war ein renommierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges. In der Wohnstube hing groß und breit sein Porträt als stolzer Unteroffizier, ehrenbekränzt und mit dem Eisernen Kreuz geschmückt. Wenn die Männer in der Runde vom Krieg erzählten und wir Jungen ganz Ohr waren, dann waren die Kampfberichte von Hilger Bruno am spannendsten. Auch beim „Schissen“ trat er, militärisch ausstaffiert, mit stolzer Brust in Erscheinung. Es war für ihn selbstverständlich, dass seine Söhne nach einer Lehre beim Schmied sich freiwillig zu den Soldaten meldeten. Artur wurde Flieger und der zwei Jahre jüngere Kurt Matrose auf einem U-Boot. Sie avancierten beide und kamen zu Beginn des Krieges in schmucken Uniformen auf Urlaub. Bis dann Anfang 1941 die beiden Alten das Schlimmste traf: Zuerst erhielten sie die Nachricht, dass Artur im Luftkampf abgeschossen worden war, und vier Wochen später, dass Kurt in seinem U-Boot von einem Feindeinsatz nicht zurückgekehrt sei. Beide Söhne tot – innerhalb eines Monats! Das warf die Eltern völlig nieder, und für Bruno brach eine ganze Welt zusammen. Er war von nun an wie verwandelt, kritisierte Hitlers Kriegsführung und prophezeite, als im Sommer der Angriff auf Russland erfolgte, nun sei der Krieg nie mehr zu gewinnen. – Wie sehr doch persönliches Getroffensein, unwiederbringlicher Verlust und tiefstes persönliches Leid, die Blickrichtung ändern kann! So lange es immer nur die Anderen trifft, bleibt man in der eingefahrenen Spur.
Über unsere unmittelbaren Nachbarn hinaus hatten wir auch gute Verhältnisse zu anderen Bewohnern des Hinterdorfes. Walters Jungen, Kurt und Georg, waren mit uns gleichaltrig, also nahe Spielgefährten, selbst wenn sie als Bauernjungen viel mehr als wir in die häusliche Wirtschaft eingebunden waren und weniger Freizeit hatten als wir. Auf Walters Kellerberg sind wir Schlitten gefahren und bei Walters trafen wir uns auch manchmal abends, wenn die Eltern alle im Kretscham bei „Hiebnern“ zum Tanz waren. Und Schellenbergs Jungen, obwohl älter, so waren wir ihnen aus unterschiedlichen Gründen auch nahe. Oskar war im Dorf der Hitlerjugendführer; Richard, dem Ältesten, musste ich eine Zeit lang zur Reinholds Elli in Neuland als „Liebesbote“ dienen, und Hans, der Jüngste, mit mir gleichaltrig, konnte in der Schule etwas besser rechnen als ich.
Natürlich kannten wir gut die Bäckerfamilie, wo wir Brot holten. Und der Bäcker Kurt, ein Onkel von Käthe, war für uns Jungen irgendwie eine markante Person. Er ließ uns auch mal in die Backstube, und ich fand es interessant, wie er mit jungen weiblichen Kundinnen turtelte.
Und „die Rungen“, die war für uns insofern interessant, weil wir bei ihr neben Lebensmitteln Schokoladentafeln im Regal liegen sahen, aber höchstens für einen Pfennig ein dickes Sahnebonbon kaufen konnten. Und der Sohn, „Runge Briedl“, ein Jahr älter als ich, der hat mich auch mal heimlich mit in den Kramladen seiner Mutter hineingenommen. Aber er war vorsichtig, wir begnügten uns jeder mit einem Brathering aus der großen Blechdose.
Im Vorderdorf war ich gern bei Tüllners. Sie waren zugezogen und hatten Anfang der dreißiger Jahre einen Bauernhof übernommen, und der Sohn Lothar wurde mein bester Freund. Es war für mich eine schöne Jungenfreundschaft. Er war ruhiger als ich, aber mir sehr zugetan. Auch seine Mutter war mir auffallend freundlich gesinnt und legte Wert auf unsere Freundschaft. Ich fühlte mich wohl bei Tüllners. Der verhältnismäßig große vierflüglige Bauernhof war für mich eine andere Welt. Mit Lothar stöberte ich überall herum, von den Kellern bis hinauf in die Körnerkammern gab es allerhand zu entdecken, und er als Jüngster neben zwei älteren Schwestern brauchte nicht ernsthaft in der Wirtschaft zu helfen. Wenn wir mal Schweinskartoffeln mit dem großen „Dämpfer“ auf dem Hof vorbereiten sollten, war das eher wie eine Freizeitbeschäftigung mit einer leicht zu bedienenden Maschine. Ein ziemlich großer Hühnerhof nach dem Garten zu war oft im Gespräch. Ein Fuchs aus dem nahen Wald ging seiner Raubgier nach. Wir spürten ihn auf und machten uns dran, den Fuchsbau auszugraben, kamen wohl aber zu spät. Gänge und Nest waren leer, wahrscheinlich hatte er sich anderswo einen sicheren Bau eingerichtet. Als Lothar ernsthaft an Diphtherie erkrankt war und in Löwenberg im Quarantänehaus lag, habe ich gebangt und gelitten. Wir hatten später, auch im Krieg, während er an der West- und ich an der Ostfront war, noch brieflichen Kontakt miteinander, und sogar nach dem Krieg hatten wir uns wieder ausfindig gemacht, er in Sachsen und ich in Thüringen. Aber Lothar hat dann die Freundschaft abgebrochen, und ich glaube, ich bin schuld daran. Noch heute leide ich darunter.
Vom Dunkel-Bauer, vom einzigen Gutsbesitzer in unserem Dorf, war bereits die Rede. Er war schon ein alter Mann; der kränklich aussehende Sohn leitete die Gutswirtschaft, und mit zur Familie gehörte die verwitwete Tochter mit ihren drei Kindern Ingrid, Manfred und Reinhard. Die drei gingen nach dem 4. Schuljahr auf das Gymnasium in Löwenberg. Nur mit Manfred, so alt wie ich, blieb ich weiter in Verbindung, und zwar im Jungvolk. – Unweit von Dunkels Hof befindet sich heute noch die Ruine einer alten Wasserburg, umgeben von einer verfallenen Wallanlage mit ehemals breiten Wassergräben. Als Jungen haben wir die Ruinenmauern erstiegen und im Winter auf den zugefrorenen „Burgteichen“ „geschindert“, was heißt, dass wir mit Holzpantoffeln, auf deren Sohlen wir je zwei Kupferdrähte als Gleitschienen befestigt hatten, auf dem Eis geschlittert sind.
Diese Ringwallanlage oder Sumpfburg soll ehemals den slawischen Bewohnern der Bober-Aue als Fliehburg gedient haben. Sie könnte also 800 bis 1000 Jahre alt sein.
Die Tüllners wie auch die anderen Bauern des Dorfes waren nicht ausgesprochen reiche Bauern. Die Weltwirtschaftskrise 1929 – 32 und mit ihr die erlahmende Kaufkraft hatte die Preise ihrer Produkte sinken lassen. Mit der nazistischen Ausrichtung der Wirtschaft auf Rüstung und Kriegsvorbereitung ging es Mitte der dreißiger Jahre auch den Bauern wieder besser. Vor allem die Wehrmacht, der „Arbeitsdienst“ und die Füllung der Staatsreserven verlangten nach mehr Lebensmitteln. Wir Arbeiterjungen im Dorf waren bei den Bauern auch gefragte Arbeitskräfte, besonders in den „Kartoffelferien“. Doch wir zogen vor, uns bei den Gutsbesitzern im benachbarten Rackwitz zu verdingen. Dort bekamen wir 1,20 Mark pro Tag einschließlich Frühstück, Mittagessen und Vesper. Am liebsten arbeiteten Helmut und ich beim Sauer-Pauer. Dort konnten wir auch in der Knechtstube übernachten, bekamen zuzüglich noch das Abendbrot und gewannen nach Feierabend interessante Einblicke in das Hof- und Gesindeleben! Und die Bauersfrau nahm sich unser an, kam abends zu uns an den Tisch, drängte uns zu ordentlichem Waschen und schmierte uns die vom Kartoffellesen rauhen, aufgesprungenen Hände mit Schweineschmalz ein. Es war für uns 12- und 13-Jährige eine harte und auch qualvolle Arbeit. Von 7 Uhr an bis 18 Uhr, abzüglich der Pausen, waren wir auf den Beinen. Das heißt, meist in gebückter Haltung oder auf den Knien rutschend hatten wir hinter der Schleuder auf einem abgemessenen Streifen die Kartoffeln in Körbe zu lesen und diese in den bereitstehenden Kastenwagen zu entleeren. Der Rücken, der Rücken … ich spüre ihn heut noch, wenn ich daran denke. Und wenn wir erlahmten, wurden wir unerbittlich angetrieben! Eine Woche, höchstens 10 Tage, das konnte man gerade noch durchhalten. Aber es hat uns niemand zu solch einem Einsatz gezwungen! Weder die Eltern noch die Schule. Wir wollten das, denn es war für uns Jungen eine Möglichkeit, durch selbst verdientes Geld sich einen Sonderwunsch zu erfüllen. „Wenn du eine Fahrradbeleuchtung brauchst, dann musst du sie dir verdienen. Wir können sie nicht kaufen!“ Was will man da machen? Das gebrauchte Fahrrad für mich hatte Vater mit 18 Mark bezahlt. Also wenn ich nun in der Dunkelheit nicht mit Karbidlampe fahren wollte, musste ich eine Woche lang hart arbeiten. Dynamo und Lampe mit Kabel kosteten 7,50 Mark bei unserem Hoffmann Fritz.
An dieser Stelle muss ich endlich erklären, dass es bei uns in der schlesischen Umgangssprache üblich war, den Nachnamen vor den Vornamen zu stellen. Ich war also für die anderen, wenn sie von mir redeten, der Scholz Heinz oder der Bahner-Scholz-Heinz, und Hoffmann Fritz, das war unser Fahrradmechaniker Fritz Hoffmann, der im Hinterdorf nicht weit von uns eine Werkstatt und einen Verkaufsladen eingerichtet hatte. Eigentlich war er ein Universalmechaniker. Er reparierte und verkaufte nicht nur Fahrräder, auch Grammophone und zunehmend Radios und dann noch Nähmaschinen. Natürlich lötete er auch Töpfe, legte eine „elektrische Leitung“ oder reparierte irgend einen anderen defekten Mechanismus. Und – er hatte eine hübsche, blondzöpfige Tochter! Aber darauf komme ich noch zurück.
So als Dreizehnjähriger kannte ich so gut wie alle Leute im Dorf. Ich nahm fast jeden zur Kenntnis, wollte auch wissen, wer ist wer. Und bei 480 Einwohnern ist das kein großes Problem, wenn man im Dorf unterwegs ist, sich für andere Leute interessiert und auch hinhört, was da oder dort über diesen oder jenen erzählt wird. Manchmal erfuhr man auch durch direkte Begegnungen, durch bekannt gewordene auffällige Verhaltensweisen oder Leistungen Näheres über eine bestimmte Person, so dass man sich dann aus seiner kindlich jungenhaften Perspektive ein eigenes Bild machte. So lernten wir auch unter den verheirateten Männern einige als „Schürzenjäger“ einzuschätzen, oder wir hörten von Frauen, die es „sehr schwer hätten“ und natürlich auch von schlimmen Krankheiten, die verhältnismäßig junge Frauen oder Männer nach „schwerem Siechtum hinwegrafften“. – Einmal im Sommer hatte mich Vater in ein Haus im Vorderdorf geschickt, um dem darin wohnenden dorfbekannten Manne eine bestimmte Nachricht auszurichten. Da ich barfuß und ungehört durch offene Türen Hausflur und Wohnung erreichte, stand ich ganz plötzlich in der Wohnküche, zuckte aber ganz schnell zurück, dieweil der Hausherr eben in diesem Augenblicke am Sofa auf für mich eigenartige Weise mit seiner Frau hantierte und umging. „Das hätte ich von dem nicht gedacht!“ So meine gedankliche Reaktion aus der Sicht eines unwissenden, unaufgeklärten Jungen. Da geschah auch manches im Dorf oder in Familien, das uns, wenn wir zusammenhanglos davon erfuhren, zu einer recht bedenklichen oder zweifelhaften moralischen Wertung verleitete.
Ich denke hier an die spektakuläre Geschichte mit der Opitz Marie, aus der Erwachsenensicht: ein klassischer Fall von Kindestötung. Nun, diese Marie, eine sitzengebliebene alte Jungfer zwischen 35 und 40, hatte ihr heimlich zur Welt gebrachtes Kind im sumpfigen „Errlicht“ verscharrt. Das wurde nun auf dem Schulweg mit sensationellen Enthüllungen weitergesagt und phantasievoll bis ins Kleinste durchgesprochen. Ein richtiges Kriminalstück, an dessen Erklärung wir spekulativ mitarbeiteten. In der Scheune habe sie am Vortage noch mit Flegeln das Korn mitgedroschen! Keiner habe etwas gemerkt, keiner hat den dicken Bauch gesehen! Wie das? Darüber mussten wir nachdenken! Und wer hat sie geschwängert? Das war ja die wichtigste Frage! Und warum hat sie alles „mitgemacht“? Dass sie das Kind aus Scham verschwiegen hatte – das glaubten wir zu verstehen, denn die ganze Sache war ja wirklich „schämenswert“! – Bald wurde auch unter vorgehaltener Hand der „Schürzenjäger“ benannt. Und die Marie, sie war längst „abgeholt“ worden, aber von dem Gerichtsprozeß war nichts Genaues zu erfahren. Nur dass sie dann nach Plagwitz in die „Verrücktenanstalt“ eingewiesen worden sei, das fanden wir so ungefähr in Ordnung. „Das arme Luder“, so meine Mutter, die viel besser als wir Jungen einzuschätzen verstand, was da vorgefallen war.
Bald wurden wir wieder abgelenkt durch andere Vorkommnisse. Da waren doch noch einmal die Zigeuner ins Dorf gekommen und hatten auch am Errlicht mit ihrem Planwagen ihr Lager aufgeschlagen, und deren Frauen zogen bettelnd von Haus zu Haus. Oder das Manöver hatte wieder mal unser Dorf berührt, was uns sofort in Bewegung setzte, Kontakte zu den Soldaten zu knüpfen und Neues über Waffentechnik und Kampftaktik zu erkunden. Vielleicht war auch das „Lautsprecherauto“ von der Puddingfirma „Dr. Oetker“ mit lauter Musik durchs Dorf gefahren, um uns alle einzuladen zu einer Pudding-Filmvorführung im Saal von Hübners Gasthaus. Oder der Theaterwagen einer Puppenbühne war eingetroffen und kündigte lautstark die Aufführung eines Märchens am folgenden Tag an. Auch das „Kornfrank-Auto“ brachte Abwechslung; in einer Werbeveranstaltung verteilten die Reklameleute an uns Jungen leicht auffaltbare Pappflieger, die wir mit einem Spanngummi zum Gleitflug in die Luft schießen konnten. Alles dafür, dass unsere Mutter künftig nur noch von „Kathreiner“ und „Kornfrank“ Malzkaffe kaufen sollte, denn die Zeit, wo man die Körner selbst in einer drehbaren Trommel über einem Feuer zu Malzkaffee röstete, war mittlerweile auch im Dorf zu Ende gegangen. Nun kamen solche Spektakel nicht zuhauf über uns. Umso mehr zogen sie uns an als willkommene Abwechslungen … .
Darüber hinaus ergaben sich für uns Kinder auch besondere Höhepunkte durch Feste oder Veranstaltungen, die dem jahreszeitlichen oder dörflichen Brauchtum entsprachen, immer mehr jedoch von der „neuen Zeit“, von der „NS-Bewegung“, vereinnahmt wurden. Nur die Kirmes in der ersten Novemberwoche blieb immer noch das, was sie gewesen war, mehrtägig und mit großem Tanzfest für die Erwachsenen, wo wir höchstens mal durch die erleuchteten großen Saalfenster hineinschauen durften. Für uns war „der Bernern ihr Paschtisch“ das Wichtigste. An ihrem Verkaufsstand wurde gewürfelt, mit einem Einsatz von 5 oder 10 Pfennigen, um eine Tüte „Mehlweisen“ oder um eine Schokolade oder ähnliche begehrenswerte Süßigkeiten. Wer sicher gehen wollte oder höchstens 30 Pfennige von zu Hause mitbekam, musste genau überlegen, wie er seine Groschen anlegte. Wenn unsere Onkels oder Tanten aus Neuland zu unserer „Langvurbcher Kirms“ kamen, dann konnten wir mit deren Beigabe auf ein Kirmesgeld von 50 Pfennig kommen. Am spendabelsten war unser Großvater Albert Liebig. Zum „Blücherfest“ schenkte er jedem von uns, meinem Bruder und mir, sogar einen Fünfziger.
Interessanter für mich war das „Schissen“ im Frühsommer, das jährliche Schützenfest, das von Jahr zu Jahr militärischer und eben auch schon hakenkreuzgeschmückt vonstatten ging. Auf dem Schießplatz das große Festzelt interessierte uns weniger. Da saßen die biertrinkenden Erwachsenen, vor allem die uniformierten Schützen, die sich über ihre guten Treffer freuten oder ihren Ärger wegen schlechter Ergebnisse mit einem deftigen Korn hinunterspülten. Vor dem langen Hohlweg zum Wald hin, war der Schießstand aufgebaut. Da standen wir, wenn Vater dran war oder der Hilger Bruno. Und weit hinten, aus dem Unterstand vor den Schießscheiben, reichte man nach jedem Schuss eine gut sichtbare Tafel hoch hinaus, die über die Entfernung (von vielleicht 80 m) die Zahl des getroffenen Ringes bekannt gab. Vater meinte ja auch, es sei gar nicht so verwunderlich, dass die wohlhabenden Bauern bzw. die spendabelsten Vereinsmitglieder stets besser schossen als die armen Luder im Dorf. Die „besten Schützen“ wurden zum Schützenkönig und zum Marschall ausgerufen, entsprechend feuchtfröhlich gefeiert und mit je einer großartig bemalten Scheibe geehrt, die Tage danach sichtbar für jedermann an einer Außenwand des „königlichen“ Wohngebäudes aufgehängt wurde.
Und wir „jungen Schützen“ kamen auch auf unsere Kosten. Seitwärts und durch Absperrseile gesichert, war ein kleiner Schießstand mit Scheibe an einer 12 m entfernten Eiche eingerichtet. Hier wurde nur mit Bolzen geschossen. Man konnte das Luftgewehr auflegen beim Schießen. Das fand ich gut, denn so brachte ich es auf der 12-er-Scheibe mit 3 Schuss auf passable 30 Ringe. Irgendwann hatte ich auch einen der auf einem Tisch ausgestellten Preise zweiter Garnitur gewonnen. Neben der Schießscheibe, hinter einer hölzernen Schutzwand, verbarg sich der „Bolzenzieher“, wenn geschossen wurde. Diese Aufgabe übernahm ich gern. Ich musste nach dem Schuss den Bolzen mit einer Bolzenzange herausziehen und die Zahl des angeschossenen Ringes nach vorn laut und deutlich durchrufen. Mir war natürlich bewusst, dass nicht jeder, der wollte, als Bolzenzieher „genommen“ wurde! – Unter den Verkaufsbuden reizte mich die vom „Wehner-Flescher“ aus Kunzendorf am meisten. Weil hier unser Vater, wenn alles klappte oder wenn er gut geschossen hatte, für jeden von uns beiden ein „Viertel Warme“ für 20 Pf kaufte, mit Semmel und Senf. Hm, das schätzten wir mehr als die üblichen Süßigkeiten bei der „Bernern“ oder bei der „Rungen“ an deren Verkaufsständen unter der großen Linde. Bei denen mussten wir selber bezahlen, und mit den wenigen Groschen, die wir hatten, konnten wir keine großen Sprünge machen.
Das Beste beim Schissen war der große Umzug durchs Dorf am Sonnabend Nachmittag, mit Blaskapelle und Spielmannzug. Hinter der Kerntruppe, den marschierenden und mit Gewehren bewaffneten Uniformierten des Kriegervereins, zog alles mögliche Volk hinterher. Manche Frauen oder Kinder wollten sich mit altherkömmlichen Kleidungs- oder Uniformstücken ein undefinierbares historisches Aussehen geben. Einmal trug mein Bruder Helmut Vaters Soldatenhelm aus dem Weltkrieg, eine sogenannte Pickelhaube, unter deren Spitze wir wichtigtuerisch den Einschuß eines Schrapnellgeschosses nachweisen konnten. Und im Inneren des abgenommenen Helmes zeigten wir ebenso stolz auf das durch die Verwundung vom Blut dunkel gefärbte Leder, was wiederum bei den Staunenden weitere Fragen auslöste. So bot sich gleich die Gelegenheit, die uns geläufige Kampfszene von Vaters Kopfverwundung im Jahre 1915, zwischen Dnjestr und Pruth in der Nähe von Chernowitz und Kolomea, erzählen zu können … Doch viel Zeit zum Erzählen gab es wiederum nicht, der geblasene Militärmarsch war schon verstummt, der ganze Zug war am Kriegerdenkmal angelangt: „Abteilung halt!“ „Links um … “, und dann begann das übliche Zeremoniell mit kurzer Ansprache zu Ehren der im Krieg gefallenen Helden des Dorfes; danach ertönten die Kommandos zum Ehrensalut, worauf sechs herausgetretene Kriegsveteranen ihre Gewehre durchluden und drei Salven in die Luft schossen. Ohne viel Aufhebens ging es weiter durch das Vorderdorf, wo der König aus dem vergangenen Jahr abgeholt, nein, sagen wir besser freigekämpft werden mußte. Und das ging so vor sich: Der ganze Zug hielt – wie in diesem Fall – bei Jäckels an, sofort schwärmten angreifende Schützen aus, die den Hof von Jenke Karl umzingelten und nach heftigem Kampf erstürmten, in das Wohnhaus eindrangen und den gefundenen oder gefangenen König mit großem Siegesgeschrei herausführten. Und es wurde natürlich geschossen und geballert – mit Platzpatronen, wie wir wussten, die aber, aus der Nähe abgefeuert, auch empfindliche Verletzungen hervorrufen konnten. Deshalb hielten wir uns trotz großer Begeisterung in respektvollem Abstand zum Kampfgeschehen. Bevor der Zug sich neu formierte, gab es für die Kämpfer einen tüchtigen Zug aus der Flasche und auch einen kräftigen Bissen zu essen. Welcher Sinn hinter jenem militärischen Kampfspiel der „Kameraden vom Kriegerverein“ steckte, weiß ich nicht zu sagen. Als Jungen haben wir auch nicht danach gefragt. Wir fanden das Ganze interessant und spannend.
Auch das jährliche Erntedankfest war gekrönt von einem Umzug durch das ganze Dorf und endete dann, wenn ich mich recht erinnere, im Gasthof Mai im Ortsteil Stamnitzdorf. Festwagen mit schön dekorierten Früchten aus Feld und Garten fuhren im Mittelpunkt des Zuges, gefolgt oder begleitet von fröhlichen Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise aufgeputzt und maskiert hatten. Es gibt noch ein Foto, auf dem mein Vater mit dem Nachbar und uns Kindern in einer Gruppe abgebildet ist. Vater, als Frau verkleidet, schiebt einen uralten Kinderwagen, darin ein unartig plärrendes Kind, und um sich herum eine große Schar von lustig gekleideten Mädchen und Buben. Unser Vater spielte sich gern in eine solche komische und lustige Rolle hinein. Im Erntedankfest mussten zunehmend die nazistischen Ideen der „Blut und Boden Politik“ sichtbar gemacht werden. Abzeichen, Fahnen und Uniformen der NS-Organisationen färbten mehr und mehr solche dörflichen Veranstaltungen.
Die ausgesprochen christliche Sinngebung zum Fest von Christi Himmelfahrt blieb erhalten, nur die Teilnahme an dem Gottesdienst im Freien ließ nach. Es war üblich, des Mittags über die Harte bis zur Goldenen Aussicht zu wandern und dort dem Waldgottesdienst beizuwohnen. Bei schönem Himmelfahrtswetter versammelten sich auf der Waldwiese ein paar Hundert Leute aus den umliegenden Dörfern. Nach dem gemeinsamen Gottesdienst wurden Spiele veranstaltet, vor allem für Kinder. – Wir zwei Jungen genossen an diesem Tag die gemeinsame Wanderung mit Mutter und Vater. So gab es unter den großen Fichten interessante Ameisenhaufen zu bestaunen, im nahen Sandsteinbruch die Herstellung von Mühlsteinen zu erklären oder den Verlauf des geheimnisvollen unterirdischen Ganges zu untersuchen. Meist gingen wir auch weiter bis zum „Simonishaus“ nahe dem Neuländer Kloster, wo wir durch die an diesem Tag geöffnete Tür die figürlich gestaltete Szene der Abendmahlgesellschaft mit Jesus und seinen Jüngern an langem Tisch betrachten konnten.
Wenn uns damals jemand gesagt hätte, dass 10 Jahre später, im März 1945 hier oben auf der Harte und im Klosterbereich die Russen ihre Schützengräben und Artilleriestellungen ausbauen und in Richtung Neuland/Kunzendorf die Deutschen unter Feuer nehmen würden, dann wäre dieser Jemand für verrückt erklärt worden. Vielleicht hätte man ihn sogar wegen Volksverhetzung oder Zweifel am Sieg der „Nationalsozialistischen Revolution“ ins KZ gesperrt.
Dann gab es im Frühjahr noch ein christliches Fest, das „Neuländer Bergfest“. Unterhalb des schon besagten Klosters, auf einer Bergwiese beim Gasthof Flegel, versammelte sich Jung und Alt aus der ganzen Umgebung. Ursprünglich war man hingepilgert, ich nehme an, um die Bergpredigt zu hören. Jetzt beließ man es bei einem katholischen Gottesdienst in der nahen Klosterkirche, und anschließend vergnügte man sich auf dem Rummelplatz der Bergfestwiese.
Wie weit das Vergnügen bei uns Kindern ging, hing auch hier von den von Eltern und Verwandten gestifteten Pfennigbeträgen ab. Mein Bruder und ich, wir meldeten uns ein–zweimal schon am Vortag bei dem Betreiber eines Kettenkarussells an. Er merkte uns vor zum Karussellschieben, oben auf dem Bretterboden, wo wir zu sechst in die Achsstreben greifen und in starkem Drücken und Laufen rundum das Karussell zum Drehen und natürlich auf entsprechende Touren und nach dem Klingeln wieder zum Stehen bringen mussten. Als Lohn bekamen wir zwei oder drei Freifahrten!
Das größte und bedeutendste Volksfest war das Löwenberger „Blücherfest“ in der letzten Augustwoche, draußen auf dem Festplatz im Buchholz. Die Leute kamen von weit her; und der Rummelplatz, sogar mit Rutschbahn, Berg- und Talbahn, Autoskooter, Riesenrad und Gruselkabinett ausgestattet, war für uns Kinder der größte und attraktivste seiner Art. Er wirkte auf uns wie ein grandioses Prater-Gastspiel aus ferner Welt, das für kurze Zeit in unsere kleine Provinzstadt gekommen war. Dieses ungewöhnlich umfangreiche, vielfältige und hochkarätige Angebot, das lustvolle Treiben und laute Vergnügen so vieler Menschen zog uns mächtig an. Als Auftakt zu dem großen Jubiläumsfest wurde in der Stadt ein großartiger historischer Festumzug veranstaltet. Da zogen die preußischen Soldaten der Blücherschen Armee (wie nach der siegreichen Schlacht an Katzbach und Bober im August 1813) mit ihren russischen Verbündeten an uns vorüber. Natürlich fehlten nicht der legendäre Marschall Blücher auf seinem Schimmel, sein Stabschef Gneisenau, die Lützowschen Jäger und sonstige Helden und historischen Größen aus den Befreiungskriegen. Und da ich mich in preußischer Kriegsgeschichte einigermaßen gut auskannte, vermochte ich die uniformierten vorbeiziehenden Gruppen sowie die voranreitenden Offiziere und Einzelpersonen ziemlich sicher zu identifizieren und daher stolz meine Erklärungen zum besten zu geben. So war für mich der große Festumzug ebenso wichtig wie der Rummelplatz. Hier, auf der obersten Stufe am Straßenrand des Marktes, brauchte ich nichts zu bezahlen für das „schöne“ Geschichtserlebnis; oben auf dem Rummelplatz musste ich meine Groschen dreimal in der Tasche rumdrehen. Na ja, aber das Achterbahnfahren und die große Rutschbahn, das wollten wir uns schon leisten.
Nun bin ich durch das Blücherfest etwas abgekommen von meiner Dorfbeschreibung, doch unsere Beziehung zur nahegelegenen Kreisstadt Löwenberg ist auch Teil unseres dörflichen Lebens. Nicht nur auf dortige Behörden und Einkaufsstätten, auf Kirche und Friedhof waren die Dorfbewohner angewiesen, da richtete sich unser Interesse auch auf das städtische kulturelle Leben, auf die Geschichte und Geographie unserer heimatlichen Kreisstadt. Was in Löwenberg passierte, nur 3 km entfernt, war für mich genauso wichtig wie das Geschehen in unserem Dorf.
In der Stadt erfuhr ich meine ersten Kinoerlebnisse, dort besuchten wir die Jahrmärkte, dorthin fuhren oder liefen wir über den Berg, wenn der Bober Hochwasser hatte, da nahmen wir an den Aufmärschen des Jungvolks und am Ersten Mai teil, dort kannten wir uns gut aus auf dem Hospitalberg, in der Löwenberger Schweiz, auf dem Popelberg (wo wir den Segelfliegern zusahen), auf dem Luftenberg und auf der Kuhwiese, wo wir den Wanderzirkus erlebten oder das erstemal aus der Nähe ein herbeigeschafftes aufgestelltes altes metallenes Junkersflugzeug besichtigen durften. Und nicht zu vergessen: In der Löwenberger „Badeanstalt“ habe ich mich mit 11 Jahren beim Schwimmmeister Hoffmann angemeldet, für 3 Mark am Schwimmunterricht teilgenommen und mich nach zwei Wochen „freigeschwommen“. Mein Bruder Helmut wie ich, wir meinten beide, einen heißen Sommer ohne „baden gehen“ nicht aushalten zu können. Das wollte unsere Mutter nie einsehen, vor allem deshalb, weil es ja jedesmal 10 Pf Eintritt kostete. So bettelten wir auch vergebens um die preisgünstigere Monatskarte. Da wir der Ertrunkenen wegen nicht im Bober baden durften, fuhren wir dann, wenn wir unbedingt ins Wasser mussten, mit dem Rad entweder nach Neuland in den Spittlerteich oder an eine Lache in Rackwitz. Wir lechzten nach Wasser, es war wie eine Leidenschaft. –
Später, mit 15 – 16 Jahren, während meiner Lehrzeit, sind wir „Stifter“ manchmal in der Mittagszeit doch flugs im Bober baden gewesen, aber immer mit entsprechendem Abstand zu den berüchtigten, gefährlichen Strudeln in tiefer Strömung.
Wenn wir Alten heute auf besondere Ereignisse in unserem Dorf zu sprechen kommen, dann vergessen wir nicht die „Feuer“, die Reihe von Bränden, zu erwähnen, die während meiner Kindheit um sich griffen und die wir teils an Ort und Stelle miterlebten. Ich weiß noch, wie es bei Altmanns brannte, eines Sonntags bei der Bernern im Hinterdorf und einmal auch in Neuland, als wir gerade bei meinen Großeltern zu Besuch weilten. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre hatte es mehrmals in unserem Dorf gebrannt, auch in Nachbardörfern. Meistens traf es sehr alte oder noch strohgedeckte Häuser, manchmal durch Blitzschlag. In einem der Fälle munkelte man von Brandstiftung. Man meinte, der verschuldete Besitzer habe sich durch eigenhändige Brandlegung die rettende Versicherungszahlung erschleichen wollen. Eine ganze Serie von Bränden innerhalb kurzer Zeit in unserem Dorf sowie in Neuland/Kunzendorf war auf aufsehenerregende Weise aufgeklärt worden, indem man den Brandstifter, einen bekannten SA-Truppführer aus Kunzendorf, ergriffen und seiner Taten überführt hatte. Sein Geständnis, er habe durch das Abbrennen alter Häuser in der „neuen Zeit des nationalsozialistischen Aufbruchs zur Dorfverschönerung“ beitragen wollen, ging von Mund zu Mund, aber nicht durch die Zeitungen. Die an die Macht gekommenen Nazis übergingen diese fatale Wahrheit.
Apropos Gewitter: Wenn in der Nacht ein schweres Gewitter heranzog oder sich ausbreitete, drängten uns die Eltern eiligst aufzustehen. Wir zogen uns an, stiegen unter krachenden Donnerschlägen ängstlich hinab in die Stube, Vater mit Geld und Aktenmappe inklusive Versicherungspolice, und harrten dort aus bis zum Ende des Gewitters. (Ich meine, wir hätten damals furchtbar heftige Gewitter erlebt.)
Und wenn es eingeschlagen hatte oder aus anderen Gründen ein Feuer ausgebrochen war, dann tutete auch laut der Nachtwächter in sein Horn. Wobei ich beim Gruhn Gustav angelangt wäre, bei unserem Nachtwächter, der nachts mit der Lampe oder auch ohne Lampe durch das Dorf strich. Manchmal unauffällig, manchmal bei ausgedehnten Festlichkeiten, sich selbstverständlich den erleuchteten Fenstern sichtbar näherte, um einen guten Schluck und Bissen abzubekommen. Wir Kinder haben den ruhigen, etwas mürrisch wirkenden Gruhn Gustav für dümmlich gehalten und nicht ernst genommen. Sicher zu Unrecht, oder weil wir uns unter einem Nachtwächter einen treuen, starken, auffallend umsichtigen und tapfer auftretenden Hüter nächtlicher Ordnung vorstellten. Vielleicht maß man ihm unter den Erwachsenen mehr Respekt bei, als wir meinten, denn er muss ja neben detaillierten Ortskenntnissen auch eine ganze Menge über das dörfliche Nachtleben gewusst haben! Jedenfalls achtete unser Vater darauf, dass der Gruhn Gustav, wenn er bei uns auf eine fröhliche Nachtrunde stieß, stets ein reichliches Stück Kuchen in seine Tasche stecken und sich auch mindestens ein Glas Schnaps hinuntergießen durfte.
Selbstverständlich hatten wir nicht zu allen Zeiten immer reichlich Kuchen im Haus gehabt. So soll hier noch etwas über das Kuchenbacken gesagt sein: Generell wurde Kuchen in größerem Umfang nur zu den großen Feiertagen gebacken. Also zu Ostern, Pfingsten, zur Kirmes und zu Weihnachten. Das heißt, die Blechkuchen unterschiedlicher Art wurden zu Hause von unserer Mutter hergerichtet und dann zu vereinbarter Zeit zum Backen zum Bäcker getragen. Nie fehlte der schlesische Streuselkuchen mit den schönen, großen schmackhaften Butterstreuseln, wie es ihn anderswo nie gibt! Aber auch Apfelkuchen, Pflaumenkuchen und Mohnkuchen waren oberhalb mit einer Streuseldecke veredelt! Und es war für uns Jungen, wenn wir mit unserer „Raber“, der hölzernen Schubkarre, den frisch duftenden Kuchen nach Hause holen mussten, unerträglich schwer, uns nicht an den verlockenden Streuseln zu vergreifen. Nun dauerte so eine Raber-Fahrt mit den drei, vier Kuchen schon eine ganze Weile. Und das durchzuhalten bis nach Hause – ohne Versuchung, das gelang nie. Also klaubten wir da und dort doch einige der größten und schönsten Streusel herunter, möglichst geschickt bemüht, die betroffene Stelle unkenntlich zu machen. Aber Mutters sicherem Auge entging die Vertuschung der leeren Streuselstelle nicht. Beim Abendessen dann wurde unser Vergehen zum Thema gemacht.
Ich glaube, ich habe schon gesagt, dass wochentags jeden Abend Bratkartoffeln in der Pfanne auf den Tisch kamen. Dazu gab es Buttermilch, oder saure Gurken, irgendeinen Salat oder „Eingemachtes“, dann und wann einen halben Bückling. Freitags aber, an Vaters Lohntag, wenn Vater gewöhnlich einen Ring „Warme“ mitgebracht hatte, bekam jeder ein Viertel warme Wurst dazu.
Fleisch gab es nur Sonntag mittag, und Wurst-Aufschnitt am Abend. Was übrig blieb, bekam Vater am Montag auf seine Butterbrote. Manchmal wir auch. Aber ansonsten bestand unser Brotbelag für die Schule aus Butter, selbstgemachtem Quark oder Käse und vor allem aus Schmalz mit Grieben, was ich am liebsten aß.
Mittags kochte Mutter einfache Gerichte mit Kartoffeln und Gemüse oder von Milch und Eiern, alles mit Speck oder Butter zubereitet. Nudeln und Reis waren selten. Mindestens zweimal in der Woche gab es Eintopfessen., wovon mir Kartoffelsuppe und „Großkraut“ am besten schmeckten. Zeitweilig aßen wir auch unter der Woche etwas Fleisch, z. B. wenn wir ein Zickel, ein Huhn oder ein Karnickel geschlachtet hatten. Es kam auch vor, dass Vater einen billig gekauften Schweinskopf in seinem Rucksack heimbrachte. Daran war mir nicht gelegen. Das heraus gelöste Knorpelfleisch war mir ein Graus, und die daraus gefertigte Sülze nahm kein Ende. Ich aß dagegen viel lieber Hering, den Mutter sehr schmackhaft zu marinieren wusste, oder einfach nur Bratheringe, die wir im Henkeltopf beim Bäcker oder bei der „Rungen“ holten und zu Pellkartoffeln aßen. Insgesamt war unser Essen, wie unser gesamtes dörfliches Leben, einfach und anspruchslos. Natürlich hatten wir Jungen auch Hunger, aber wir hungerten nicht. Mutter und Vater sorgten für uns, so gut sie konnten, und wir kamen nicht auf den Gedanken, mehr zu wollen, als möglich war. Ringsum, bei den einfachen Leuten des Dorfes, war es nicht anders, fast überall schwere körperliche Arbeit und ein dürftiges Leben mit sparsamen Freuden.
Das Rathaus von Löwenberg. Foto: Herm. Rehnert, Sammlung Heinz Scholz (aus dem Heimatbuch des Kreises Löwenberg in Schlesien)
Blick auf Löwenberg um 1930, heute polnisch: Lwowek