Читать книгу Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950 - Heinz Scholz - Страница 8
Bahnerfamilie mit Kuh
Оглавление1933 war ich 8 Jahre alt. Was weiß man da schon von der großen Politik! In solch einem Kindesalter folgt man den Ansichten der Eltern. Was die für richtig halten, hält man auch selber für richtig.
Unser Vater war arbeitslos, von der Bahn, der „ … Reichsbahn“, entlassen, mit anderen seiner Kollegen. Man ging „stempeln“, das heißt, einmal in der Woche musste er in der Kreisstadt beim Arbeitsamt vorsprechen, sich dort melden. Dabei wurde ihm das „Stempelgeld“ ausgezahlt: 5,00 Reichsmark, seine Arbeitslosenunterstützung. Das musste eine Woche lang für unsere vierköpfige Familie reichen. Nur gut, dass wir Hühner, Ziegen, ein Schwein und eine Kuh im Stall hatten, und im Garten Obst und Gemüse.
Normalerweise hatte Vater als Gleisbauarbeiter etwa 25 Reichsmark in der Woche verdient. Nicht viel für die körperlich schwere Arbeit, die er bei einer 48-Std.-Woche täglich zu leisten hatte.
Wenn seine Kolonne in einem Streckenabschnitt in der Nähe unseres Dorfes arbeitete, musste ich ihm, wenn es sich mit meinen Schulstunden vereinbaren ließ, manchmal im Essgeschirr das Mittagessen bringen. Dann blieb ich gern auch eine Weile, ließ mir dies und jenes erklären, sah wie die Männer mit ihren schweren Stopfhacken den Schotter unter Schwellen und Schienen hineinschlugen. „Stopfen“ nannten sie das. Von mal zu mal wurde die Messlatte angelegt, die Waagerechte zu prüfen oder in der Kurve die erforderliche Neigung des Gleises.
Aufregend war es, wenn der hinter dem Ende der Baustelle stehende Sicherheitsposten in sein Signalhorn blies. Er „tutete“, und es ertönten hintereinander laut krächzende Trompetenstöße, die einen herannahenden Zug ankündigten. Die gewarnten Männer hielten inne in ihrer Arbeit, griffen nach Hacken und Geräten und traten heraus aus dem Gleis, um an der Bahndammseite stehend, den herankommenden Zug an sich vorbeibrausen zu lassen. Mir schien oft, sie stünden zu nahe dran, ihre Hosen und Jackenärmel flatterten im Fahrwind des Zuges. Ich wusste: 80 km pro Stunde auf freier Strecke! Auch die Kurven ausgebaut für diese Geschwindigkeit! Am schnellsten die „86“, eine Tenderlokomotive der Baureihe 86, für mich die schönste Lokomotive auf unserer Nebenstrecke Hirschberg – Sagan, meine Lieblingslokomotive! Einmal, mein Vater arbeitete gerade auf der Bahnstation des Nachbardorfes, bot sich für mich die Gelegenheit! Ich durfte hinaufsteigen und hineinklettern in „meine 86“. Der Lokführer – mit Schlips und Kragen – ließ mich seinen Führerstand bestaunen. Der freundliche kohlegeschwärzte Heizer öffnete für mich die schwere gusseiserne Klappe zum Feuerkessel. Ich starrte hinein in die grell heißen Flammen des brodelnden Feuers und konnte dann zusehen, wie er etliche Schaufeln großstückiger Steinkohle in den Feuerschlund hineinwarf und wie da drinnen das Fauchen und Rumoren zunahm.
Ich war stolz auf dieses Erlebnis, und ich weiß, es hat mein durch meinen Vater gewecktes Interesse für die Eisenbahn noch mehr bestärkt. Ich liebte die Eisenbahn, sie hatte etwas Dämonisches an sich, und sie war für mich wie ein technisches Wunder. Und: Keiner meiner Schulkameraden kannte sich mit ihr besser aus als ich.
„Bahner“ nannte mich unser Lehrer in der Schule. Ich war ja der Sohn des „Bahners“, des Bahnarbeiters. Mich störte dieser Spitzname nicht. Im Gegenteil, es gefiel mir, so genannt und hervorgehoben zu werden. Mein Bruder Helmut und ich, wir waren die einzigen Jungen, die einen Vater als Eisenbahner und dadurch auch entsprechende Kenntnisse in Sachen „Eisenbahn“ vorzuweisen wussten.
Die meisten unserer Mitschüler waren Bauernkinder. Einige Väter waren Gutsarbeiter. Andere arbeiteten als Zimmerer oder Maurer in der nahen Kreisstadt. Eisenbahner gab es nur vier im Dorf. Und unser Vater war ja – was wir Jungen sehr genau nahmen – nicht nur Gleisbauarbeiter, sondern zugleich „Hilfsrottenführer“. Das heißt, er vertrat gelegentlich den „Rottenführer“, den Leiter der Gleisbaukolonne.
Einmal sogar – ich erinnere mich – hatte unser Lehrer bei irgendeiner Personalbefragung meinen Vater unter der Rubrik „Angestellter“ eingeordnet, was ich als nicht zutreffend richtigzustellen versuchte. Aber er meinte, so ähnlich wie Angestellter, denn er sei ja im festen Arbeitsverhältnis. Doch das hatte sich in den Jahren zuvor, wie schon gesagt, als unwahr erwiesen, als unser Vater gleich den anderen Arbeitern im Dorf arbeitslos geworden war. Das war 1931 – 32 … 33, die Zeit mit 6 Millionen Arbeitslosen in ganz Deutschland.
Man „saß zu Hause“ jetzt, und mancher überlegte, mit welcher einträglichen Nebenbeschäftigung er seine „freie Zeit“ ausfüllen könne. Mein Vater ging zeitweise mit seinen Kollegen in den Wald, wo sie auf Kahlschlägen Baumstöcke rodeten, die zu Hause dann zu Brennholz zersägt und zerhackt wurden. In einem Winterhalbjahr hatte er auch aus herbeigeschafftem Birkenreisig in unserer Wohnstube Kehrbesen hergestellt, um sie in der Stadt zu verkaufen. Und es lag auch in der Arbeitslosenzeit, als mein Vater mit Hilfe unseres Nachbarn begann, hinter dem Haus einen massiven Schuppen zu bauen.
Unsere Mutter war Hausfrau. So hieß das, wenn die Ehefrau nicht einer beruflichen Tätigkeit nachging, sondern zu Hause die Kinder betreute und Küche und Hauswirtschaft bestellte. Wie bei anderen Arbeiterfamilien in unserem Dorf, zählte zur Hauswirtschaft meist ein kleinbäuerlicher Erwerbszweig mit Kleinvieh, Obst- und Gemüsegarten und einem Morgen Land hinterm Haus. Wir Jungen hatten die Kaninchen zu füttern und mussten wochentags das Futter für die Kuh vorbereiten. Letzeres war eine uninteressante, langweilige Arbeit, die wir möglichst aufschoben oder um die wir uns herumdrücken wollten, der wir aber nie entgehen konnten. Mutter, die uns zu diesem täglichen Pflichtpensum anhielt, hatte manchmal Ärger mit uns. Da gab es gelegentlich Streit um die gerechte Teilung der Arbeiten zwischen meinem Bruder und mir. Oder wir hatten viel interessantere Freizeitbeschäftigungen im Sinn als „Rieben schorben“ für unsere Kuh.
Und damit bin ich bei unserer Kuh. Wir nannten sie Muschka, aber nur in friedlichen Stunden. Meist bereitete sie uns Aufregung und zusätzliche Anstrengung. Sie war nicht etwa eine friedliche Milchkuh und schon gar nicht träge. Eher wie ein Dragoner zog sie im Geschirr an der Deichsel unseren leichten Futterwagen die Dorfstraße hinunter. Und wir mussten jeden Augenblick damit rechnen, wenn ein Schwarm Hühner aufgeschreckt wurde oder wenn am Bahndamm entlang ein Zug herandampfte, dass sie plötzlich lossprang wie ein Rennpferd und den Wagen mit Schwung in eine ungewollte Richtung versetzte. Manchmal scherte sie unberechenbar nach links oder rechts aus, das ging dann über Stock und Stein. Einmal, dieweil ich hinten auf dem Wagen saß und die Bremskurbel zu betätigen hatte, setzte sie bei ruhiger Fahrt plötzlich so schnell und ruckartig an, dass sie mir den Wagen unter meinem Hintern wegzog und ich mit einem schwungvollen Fall auf der Straße landete. Mein Vater vermochte sie auch nur mit großer Mühe im Zaum zu halten. Einmal, wieder bei so einer Attacke in die Quere, riss sie Vater zu Boden. Aber, indem sie doch zum Stehen kam, spreizte sie ihre vier Beine so aus, als wenn sie den unter sich Liegenden nicht treten wolle. Und wenn wir mit Mutter tagsüber allein mit unserem Kuhwagen aufs Feld fuhren, war das für sie oft ein angstvolles Unternehmen. – Es hieß: Unsere Kuh „scheut“. Sie konnte also durch jedwede unvorhergesehene Störung in Raserei versetzt werden. Das war im Dorf bekannt. So erregte unser sonderliches Gespann auf der Dorfstraße oft besondere Aufmerksamkeit. Mancher rief uns dann eine spöttische oder ermunternde Bemerkung nach.
Und Milch gab sie auch wenig. „Das ist eben eine Zugkuh“, sagte der Viehhändler Rübesam, der unseren Vater immer drängte, nun doch endlich das „wilde Luder“ zu verkaufen.
Außerhalb des Dorfes hatten wir noch einen Morgen Pachtland, eine Wiese und den billigen etwa 1 km langen Bahndamm, dessen Gras Vater für 2 Mark im Jahr beidseitig „abhauen“ durfte. Das brachte, wie er sagte, der Kräuter wegen gutes Heu. Nur beim Mähen gab es Grund zum Fluchen, wenn er mit seiner Sense wieder in einen heruntergerutschten Schotterstein hineingehauen hatte. – Im Sommer mussten wir beiden Jungen zweimal in der Woche mit Vater in der Feierabendzeit Grünfutter holen, mit unserem Kuhwagen, versteht sich. Es ging also hinaus auf unsere Wiese oder an den Bahndamm. Vater mähte, wir mussten das Gras zusammenrechen und aufladen und die Kuh im Zaum halten. Doch wenn die Eisenbahn herankam, übernahm dann Vater die Kuh an der Leine.
Ich konnte all diesen bäuerlichen Arbeiten nichts abgewinnen. Ich tat alles nur pflichtgemäß. Natürlich sah ich ein, dass wir auf verlangte Weise mithelfen sollten, Ernährung und Leben der Familie auf einem einfachen oder sicheren Stand zu halten. Aber dass ich mich mitverantwortlich gefühlt hätte, das kann ich nicht sagen.
Das einzige, was ich als schön empfunden habe, war die Heimfahrt vom „Grünfutterholen“ oder beim Einbringen der Getreideernte. Wir Jungen durften dann oben liegen auf dem Fuder, kuschelten uns in ein bequemes Liegenest und schauten in den Himmel. Seitlich, an den oberen Enden von Bäumen und Telegrafenmasten konnten wir während des Fahrens unseren jeweiligen Standort ablesen oder erraten. Und dann beobachtete ich gern die Wolken, ihre Formen, ihre Struktur, ihre Farben und die Richtung ihres Zuges. Manchmal sangen wir beide irgendein Lied, Helmut lieber und besser als ich. Es war ein Träumen nach oben und wohl auch in die Ferne.
Später, im Erwachsenenalter, als ich Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“ las, musste ich an solch einen kleinen Glücksmoment in meiner Kindheit denken. Oder wenn ich mit meiner 6. Klasse die Lesebuchgeschichten aus „Pelle der Eroberer“ von Andersen-Nexö gelesen hatte, auch dann habe ich zurückgedacht und davon gesprochen, wie wir Jungen in unserer kleinen dörflichen Welt gelebt haben.
Nur in punkto Eisenbahn war ich dem „Taugenichts“ und auch „Pelle“ etwas voraus. „Hört ihr das Knacken in den Schienen!“ so erinnerte uns Vater dann am Sommerabend, wenn wir am Bahndamm das Heu oder Gras aufluden. Und wir wussten natürlich als „Bahner“ durch ihn: Jetzt ziehen sich mit der abendlichen Abkühlung die Stahlschienen wieder zusammen. Daher auch die kleinen Abstände zwischen den Schienen, die „Stöße“, die beim Bau oder Umbau der Gleise berücksichtigt werden mußten!