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Heinz Suessenbach
Ein planloses Leben – Teil 1
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Impressum
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4 Unser Heim Unser Haus stand in der Schweidnitzer Strasse 34 in einem grossen Hof. Auf einer Seite stand die prächtige Villa vom Herr Major; ein zweistöckiger Bau mit einer großen, breiten Treppe, und dahinter war ein wunderbarer Park mit einem trockenen Springbrunnen, worin aber trotzdem manchmal Frösche waren. Die Frau Major sah ich meistens nur von Weitem. Sie schwebte immer mit schönen, langen Kleidern herum. Auf unserer Seite waren fünf Häuser, also unseres und dann noch vier hintereinander. Im Letzten wohnte der Schweinebauer gleich neben dem Tor zum Schweinefeld. Die anderen Familien waren die Kornetzkis, Zeunerts, Kilians und Hofs und deren Kinder; die Männer waren ja im Krieg. Unter den ganzen Kindern waren nur zwei Jungs, ein älterer und ich, und neun Mädels im Alter von 6 bis 13 Jahren. Der ältere Junge ist aber tödlich verunglückt. Am Ende des Hofs stand immer ein Jauchentank mit großen Stahlrädern, und wie der Junge da reingefallen ist, weiß keiner. Ob er reingeguckt hat in den Jauchentank und ist ohnmächtig geworden von dem Gestank? Da gab’s Zeter und Mordio von den Frauen. Dann kam die Feuerwehr. Mann, die sahen klasse aus. Sie hatten solche dunklen Anzüge und glänzende Messinghelme und ein riesengroßes, rotes Auto, und die holten den Knaben raus. Dann wurde uns aber feste eingehämmert, niemals zu dem Jauchenwagen zu gehen. Und so war ich nun der einzige Mann im Hof. Meine etwas klareren Erinnerungen beginnen, als Annelies schon ins Gymnasium geht. Renate ist in der Grundschule. Annelies gehörte zum BDM, dem Bund Deutscher Mädel. Mann, sie sah so hübsch aus: lange schwarze Haare, die sie oft in Zöpfe geflochten hat, weiße Bluse, schwarzer Rock und einen Schlips aus geflochtenen Leder. Ich habe immer meinen Kopf gegen den Eisenzaun gedrückt, wenn die beiden zur Schule gingen und fühlte mich dann so einsam und verlassen, denn die anderen Mädels waren nicht scharf auf meine Gesellschaft. Vielleicht war ich ihnen zu langsam oder zu deppert. Wenn meine Mädels nach Hause kamen, durfte ich meistens mitspielen, ob’s den anderen gepaßt hat oder nicht. Leider glaube ich, daß ich vielleicht bissel gepetzt habe, wenn ich auf die Schippe genommen wurde. Ich war ein Muttersöhnchen. Aber eins konnte ich, was die Weibleins nicht konnten: Direkt vor unserem Haus stand ein Lindenbaum. Ich weiß nicht genau, ob’s ein Lindenbaum war, aber jedenfalls in drei Meter Höhe hat der sich gegabelt – ein Riesenstamm ging nach rechts und der andere nach links. Und in der Mulde, da hab ich gern gesessen und mir die Welt angeguckt. Die Mädls kamen da nie hoch. An unser Haus kann ich mich nur spärlich erinnern, und manchmal vermute ich, daß meine Erinnerungen sich mit den Schilderungen meiner Mädels vermischen. Ins Wohnzimmer zu gehen wurde uns kaum erlaubt, obwohl ich weiß, daß da ein großes, rötliches Sofa stand mit zwei Polstersesseln und ein großes Radio, auf dem eine braune Holzfigur stand. Es war Jesus, der Schäfer, der ein kleines Schaf auf dem Arm trug, und in der anderen Hand hielt er einen großen Stab. Ich konnte gerade so da hochreichen, denn wenn man Jesus einen kleinen Stups gab, dann nickte er ganz freundlich für ’ne Weile. In Mutters Schlafzimmer war ein großes Bett und ein Schrank, und über dem Bett hing ein Bild von Jesus, wieder mit einem Lamm im Arm. Die Mädels sagten mir oft, daß Muttls Schlafzimmer und unsere Wohnstube das heilige Sanktum im Haus waren, wo wir kaum reindurften. Meine nächste, feste Erinnerung ist, wo ich mich auf mein Dreirad setzte und in die Stadt bis zum Ring radelte. Am Ring war ein Eiscafe, eine Eisdiele, da bin ich reingegangen, hab mein Dreirad unter der Theke geparkt und habe höflich nach einer Eiscreme gefragt, die ich auch bekam. Das Leben war doch so wunderbar, wenn man etwas unternahm. Ich fühlte mich so erwachsen und fragte flugs nach ’ner zweiten Portion, die ich auch bekam, und die schmeckte noch besser als die erste. Und während ich an die dritte dachte, kam Muttl rein: Also, aus der dritten Eiscreme wurde nichts. Es folgte eine laute Predigt. Die Eisfrau hatte Muttl angerufen. Wir hatten kein Telefon, aber die Frau Major hatte eins. Ja, und das war der erste und letzte Ausflug, den ich allein unternommen habe, denn das wurde mir streng untersagt für die Zukunft. Ich durfte nicht mehr allein aus dem eisernen Tor raus. Wenn man bei uns aus dem Küchenfenster rausgeguckt hat – wir hatten keinen Hinterhof –, da war gleich eine Landstrasse und darüber war ein großes, umzäuntes Gelände. Große Baracken standen in der Mitte, und auf den Feldern waren oft viele Leute in blauen Schlosseranzügen. Die Mädl’s sagten, daß das tschechische, polnische und russische Kriegsgefangene sind, die dort trainiert und ausgebildet wurden. Uns wurde befohlen, nicht groß rüberzugucken, aber wir haben das oft vom Fenster aus getan. Diese Mannschaften zogen oft in Arbeitskolonnen an uns vorbei, um in der Stadt nach dem Rechten zu schauen. Wenn die Leute was verkehrt gemacht hatten, haben sie oft Prügel gekriegt mit der Peitsche, und ich habe auch einmal gesehen, wie ein Mann auf dem Boden lag und da noch getreten wurde. Ich hab mich dann bei Muttl beschwert, und sie bat mich, da nicht mehr hinzuschauen, sondern die Gardinen zuzulassen. Einmal hörte Muttl, dass die Leute, wenn sie unsere Abfalltonnen leerten, nach was Essbarem suchten. Da wurde mit den anderen Frauen diskutiert, und von da an ließ man eingewickelte Essensreste oben in den Trommeln. Eines Tages gingen wir zu Fuß in die Stadt, aber Annelies blieb daheim. Als wir zurückkehrten, fanden wir mein großes Schwesterlein unheimlich aufgeregt und verheult vor, und Frau Zeunert saß bei ihr und hat sie an sich gehalten. Unter Tränen und Schluchzen stammelte sie, daß sie beim Haarekämmen im Spiegel sah, wie eine Hand hinter ihr zum Türspalt reinkam, worauf sie sich mit aller Gewalt gegen die Tür warf. Die Hand ließ etwas fallen und versuchte sich zu entziehen, was ihr nach ’ner Weile auch gelang. Der Gegenstand war ’ne Art Spielzeug; eine runde Holzplatte, worauf vier Küken standen, und wenn man einen Faden zupfte, fingen die Küken an zu picken. Das muß einer von den armen Kerlen nebenan gewesen sein, der bestimmt das Ding tauschen wollte für was Essbares. Nun haben die Frauen geheult und beschlossen, dann mehr Esszeug in den Trommeln zu lassen, bis dann eines Tages ein Offizier kam und Mutter unheimlich laut verwarnte. Wenn das noch einmal vorkäme, würde sie eingesperrt werden. Aber da hat Muttl ihre Geduld verloren und hat dem Mann ordentlich ihre Meinung gegeben von wegen „Bestrafen“. Und ob er sich nicht schäme, die Leute nebenan verhungern zu lassen und warum er nicht wie unser Vatl an der Front kämpft. Die gute Frau Major kam hinzu und hat die Sache beschwichtigt. Sie hatte des Mannes Auto und den Fahrer vor unserem Haus gesehen und schon gedacht, daß unserem Vatl was zugestoßen war. Schliesslich machte sich der Offizier von dannen, aber die Frau Major sagte dann zu Muttl: „Frau Suessenbach, das dürfen Sie nicht wieder tun, so gut Sie es auch meinen, denn diese Leute, die nehmen keine Rücksicht, und letzten Endes werden Sie noch als Feind des Vaterlandes hingestellt. Das sind eben keine Männer wie Ihr Mann und mein Mann, sondern das sind Feiglinge.” Traurige Zeiten, wenn Frauen die verhassten Mitteilungen bekamen, daß das Kommando der Wehrmacht bedauert, daß ihr Mann gefallen oder vermisst ist. Im Hof war Frau Kilian die Erste, die solch ein Telegramm erhielt, und da gab es Tränen und Trauer und noch mehr Tränen. Das „vermisst“ verstand ich nicht, denn ich wußte, was Mist war; da hatte ja der Schweinebauer einen Riesenhaufen davon. Ich dachte, daß ein Soldat vielleicht in ’ne Mistgrube gefallen war, und warum das tragisch ist, kapierte ich nicht. Ich glaubte, daß ich sogar aus ’ner Mistgrube rausklettern konnte. Das war aber so die Zeit, wo ich meine Mädels nicht nach allem fragte, denn da gab es zu oft Gelächter. Wir hörten, daß die Front immer näher kam. Die Front? Da hatte ich auch wieder keine Ahnung, wie das war mit der Front. Ich wußte, daß es Krieg gab mit Schießerei und Verwundung und Sterben, aber wie kann das alles auf uns zukommen, näher kommen? Ich war aber bereit für die Front. Wenn das Ding zu uns nach Reichenbach kommt, dann zeige ich meinen Mädels, wie man am Lindenbaum hochklettert und es sich dann in der großen Gabelung bequem macht, wie ich es so oft schon getan hatte. Na, und dann können wir das Frontding von da oben betrachten. Dann kamen die ersten Militär- und Flüchtlingskolonnen an unserem Hof vorbeigezogen. Wir haben da stundenlang am Zaun gesessen und geguckt und gestaunt. Truppen marschierten; manche lagen auf Lastautos oder Pferdewagen; manche kamen auf Motorrädern, und dann wieder mehr Marschkolonnen, aber die sahen müde aus. Manche waren auch verbunden. Die Frauen wußten, daß es nicht sehr gut aussah mit dem Krieg, obwohl Goebbels von früh bis abends – wurde mir gesagt – gepredigt hat, wie sicher wir waren, denn der Führer hatte einen Meisterplan, die zweite Front – und das bedeutet das siegreiche Ende. Was der geheime Plan und die geheime Waffe waren, darüber wurde viel gemunkelt. Das Radio wurde heimlich die Goebbelsschnauze genannt, denn der hatte eben eine endlos große Klappe. Endlich erzählte ich meinen Mädls von meinem Rettungsplan auf dem Baum. Sie guckten sich zwar an, lachten aber nicht, und darüber war ich ganz schön stolz. Die Roten Horden konnte ich mir nicht vorstellen. Warum sich rot anmalen? Aber wie gesagt, ich hatte meinen Plan, und das gefiel mir recht. Wenn immer ich Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“ höre, sehe ich ihn immer noch vor mir, unseren treuen Baum im Hofe. Wer weiß, ob er noch steht. Eines Tages sind wir alle zum Ring gelaufen zu ’ner großen Militärparade. Das war klasse, mit lauter Blaskapelle und Parademarsch. Dann kam eine kleine Gruppe vorbei, wo ein Soldat nicht mithalten konnte. Er war hinterhergehumpelt und fiel immer weiter zurück, und die Soldaten in der letzten Reihe, die haben sich umgedreht nach ihm, haben ihm zugewunken, aber der kam nicht mit, und das hat mich so traurig gestimmt, daß ich anfing zu heulen. Muttl hat mich an sich gedrückt und getröstet, daß am Ende seine Kameraden schon auf ihn warten werden. Da stand eine Bühne, worauf ein Offizier in schwarzer Uniform predigte, daß der Krieg bald zu Ende ist, denn die zweite Front ist beinahe fertig, und daraufhin wurde geklatscht und gejubelt. Aber plötzlich wurde ich weggerissen von meinen Mädels, und wir rannten wie die Hasen, so daß mir bange wurde. Hinterher erfuhr ich, dass drei junge Soldaten erhängt wurden, weil sie Deserteure waren, Feiglinge.
Ja, da kamen meine Mäedels nicht hoch, denn das war eben Männersache Ich verstand das überhaupt nicht, aber Renate hat mir so was immer bissel deutlicher erklärt als die anderen. Ich konnte nicht glauben, daß Deutsche ihre eigenen Soldaten töten können, weil die keine Lust mehr hatten zu kämpfen. Dann kamen die ersten Bomben. Kaum heulten die Sirenen, rannten wir in den Keller und saßen still. Die Frauen beteten. Aber auf einmal fing’s an, lautlos in meinen Ohren zu drücken, aber wie. Junge, Junge, das war gruselig. Am Ende hörte ich gar nichts mehr. Immer nur Wellen von Druck in den Ohren, und den fühlte ich, obwohl Muttel mich in ihrem Schoß vergrub. Endlich sind wir alle die Treppe raufgestiegen, und im Hof war die Luft richtig neblig und gelb und hatte sauren Geschmack. Gegenüber hat’s einen Direkttreffer gegeben. Es war eine dreistöckige Villa, die als Lazarett diente. Die erlitt einen Volltreffer mitten ins Dach. Die Frauen wurden zu Hilfe befohlen, aber Renate und ich mussten im Haus in der Küche bleiben. Draussen gab’s Geschrei und Befehle und lauter Stimmengewirr. Als Muttl mit Annelies zurückkam – mein Gott, die sahen aus. Muttl war grau und alt. Ihre Haare hingen in Strähnen, und ihre Lippen waren weiß und so zusammengepresst. Renate hat mir dann zugeflüstert, dass es viele Tote und Verwundete gegeben hat, und viele Verwundete waren auf unserem Hof aufgebahrt. Als wir am nächsten Tag raus durften, hatte man die Toten schon weggeschafft, und die Frauen weinten über sie. Die armen Kerle waren an der Front verwundet, wurden dann Gott sei Dank in die Heimat transportiert und dankten dem Lieben Gott dafür, und dann wurden sie doch noch getötet. Ich dachte, daß Gott ein böser Kerl war, aber Renate sagte sofort „pssssst!“ Wir durften im Hof zwischen den Bahren der Verwundeten umherwandern und haben mit manchen gesprochen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite standen viele stolze Villen, die reichen Juden gehörten. Diese Juden waren alle reich, wurde uns immer erzählt, aber die Juden, die ich gesehen hatte, sahen nie reich aus, eher sehr verarmt und zottelig. Sie wanderten umher in schwarzen Mänteln, Hüten und langen Haaren und rochen immer nach Zwiebeln. Ihre Kinder taten uns immer leid, denn die sahen zerlumpt aus und hatten große, hübsche, fragende, dunkle und traurige Augen. Diese Juden gingen von Tür zu Tür und wollten Sachen tauschen – keipeln. „Haben Sie was zu keipeln?” Muttl wollte die Mädls von der Schule zurückhalten, aber das war streng verboten. Sie mussten zur Schule gehen, „denn der Krieg wäre bald zu Ende!“ Außerdem war in der Schule ein großer Keller, also keine Ausrede. Manche Esswaren sind schon ’ne ganze Weile rationiert. Jeder Erwachsene bekam 200 g Brot am Tag, 200 g Kartoffeln, 10 g Zucker, 5 g Malzkaffee (also Ersatzkaffee), 2 g Salz und 25 g Fleisch. Das waren die täglichen Rationen für Erwachsene. Die Kindermarken hatten andere Farben. Wieso ich das alles weiß? Die Mädels hatten mir es immer wieder eingetrichtert und aufgeschrieben, dabei musste ich Zahlen lernen und auch, wie man addiert. Ich konnte addieren, bevor ich zur Schule kam, aber buchstabieren und lesen konnte ich nicht richtig. Es gab auch rationsfreie Kost, z. B. verschiedene Arten von Rüben und Kartoffelmehl. Zuckerrüben waren sehr begehrt, denn da bekam man einen ganzen Berg. Die Rüben musste man schälen, in Stücke schneiden und dann in der Waschküche in dem großen Kessel kochen. Dabei durfte ich rühren, so wie ich das auch beim Wäschekochen durfte. Wie aus diesem Rübenbrei aber Sirup gemacht wurde, das weiß ich nicht, aber daß der prima schmeckte, weiß ich genau. Nach ’ner Weile wurde einem der Sirup-Geschmack aber zuwider. Uns im Hof ging’s wirklich nicht schlecht, denn der Schweinebauer hat uns oft Schweinefleisch gegeben, und für jedes übrige Pfund Schweinefleisch konnte man Butter, Brot und Mehl eintauschen. Also uns ging’s wirklich gut. Dann begannen die Nachtbombardierungen. Es war so wundervoll für mich.
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6 Auf der Landstraße nach Mittelsteine Meine Erinnerungen aus diesen Zeiten verwundern mich manchmal. Ich spürte kaum Angst, denn ich war ja immer mit meinen Mädels. Ich spielte kaum ’ne praktische Rolle in dem Drama; war mehr ein unbedeutender Mitspieler und leider oft ein Handicap. Wir waren oft inmitten von Kolonnen und wurden auch oft überholt. Andere Flüchtlinge sahen meistens ärmlicher und müder aus. Zweimal wurden wir von den motorisierten „Bluthunden“ angehalten. Die trugen Ledermäntel und Helm und ’ne Kette mit einem Schild auf der Brust und fragten nach unseren Papieren. Die guckten uns unfreundlich an, und der im Seitenwagen hielt auch ein Gewehr. Man hatte sofort das Gefühl, daß wir irgendwie Feinde waren. Das Gerumpel – das Donnern in der Ferne – hat uns praktisch dauernd begleitet, denn nach ner Weile hat man das gar nicht mehr wahrgenommen. Wenn wir von Militärfahrzeugen überholt wurden, winkten die uns oft freundlich zu. Einmal rief einer, ob jemand unser Pferd gestohlen hat, und Frau Kornetzki rief zurück, dass wir es gefressen haben. Später erfuhren wir, daß wir eigentlich Glück hatten, denn Flüchtlinge waren auf der Hauptstrasse gar nicht erlaubt. Die Leute, die wir überholen konnten, sahen traurig aus, und wer weiß, wie lange die schon auf der Tour waren. Die Gesichter der Kinder, die bedrücken mich heute noch, vor allem, wenn sie uns anbettelten. Einmal fragten uns zwei Frauen, ob wir nicht ihren gelähmten Vater mit seinem Rollstuhl an unseren Wagen dranhängen könnten. Mit schwerem Herzen haben unsere Frauen zugesagt, und als sie dabei waren, den armen Greis hinten anzubinden, hielt ein Militärlaster an. Nach kurzer Debatte haben die den armen Kerl mitsamt Rollstuhl hinten reingehoben, obwohl da Soldaten saßen und sagten, daß sie den Greis in Mittelsteine abladen werden beim Bürgermeister. Seine Angehörigen haben laut geweint vor Freude und konnten sich nicht genug bedanken. Unter ihnen waren zwei Mädel, ungefähr 10 Jahre alt, die sehr müde aussahen, und die haben die Soldaten auch noch hinten reingepackt und machten sich dann aber flugs auf die Weiterfahrt. Irgendwie hat uns diese Unterbrechung gut getan, und weiter ging’s mit Schieben und Ziehen und Pusten. Das Wetter war zwar kühl und nach und nach kam eine nach der anderen unserer Hüllen ab und wurde auf den Wagen geklemmt. Plötzlich hielt ein Jeep an. Zwei Offiziere und eine uniformierte Frau kamen raus und haben die Frauen was gefragt, und dann nahmen sie einen Strick, den sie an unsere Deichsel und an ihr Fahrzeug knoteten. Uns rieten alle, auf unser Gefährt zu klettern. Drei Kinder sollten auch hinten in den Jeep, wo wir zwischen Soldaten gequetscht wurden. Wie haben wir uns da gefreut. Ich hörte Muttl sagen, daß der liebe Gott uns, wie immer, diese braven Leute geschickt hat. Die Soldaten sagten, daß unter den ganzen Kolonnen wir die einzigen sind, die ’nen Pferdewagen ohne Pferd schoben. Mann, waren wir glücklich. Wirklich: Da war der liebe Gott dabei. Ich weiß nicht, wie weit wir gefahren sind, aber so weit kann’s gar nicht gewesen sein, denn es ging ja alles ziemlich langsam vorwärts ob des Verkehrs. Auf einmal war die Fahrt zu Ende. Plötzlich wurden wir ganz schnell wieder abgebunden, und unsere Retter haben sich ganz kurz verabschiedet, und wir standen wieder allein da. Die Mädels meinten, daß Befehle übers Radio gerufen waren. Und weiter ging’s zu Fuß. Mir hat das Marschieren eigentlich gefallen, denn schnell ging es ja nicht voran, und man sah da so viel Zeug im Graben liegen, und ich konnte es auch kurz anfassen. Gewehre, Stahlhelme, Stiefel, Fahrzeuge und hier und da ’ne Panzerfaust. Einmal hab ich mit Freuden ’ne Panzerfaust aufgehoben und sie triumphierend den anderen vorgeführt, aber die Frauen wurden fuchtig und bestanden darauf, daß Muttl mir den Hintern versohlen sollte. Muttl befahl mir, nichts mehr anzufassen, ohne Ausnahme. Das unheimliche Brüllen der Kühe hat bestimmt auch keiner vergessen. Die rasten wie sinnlos auf den Feldern herum. Sie schrien vor Schmerzen, weil ihre Euter zum Platzen voll waren. Es waren nicht nur Menschen, die im Krieg litten. Die Uniformierten, die uns da eine Strecke lang mit dem Jeep gezogen hatten, sagten, daß wir ja weit weg von der Strasse gehen sollen, wenn wir abends Pause machten. Ja nicht in der Nähe der Strasse bleiben und kein Feuer machen, denn die Russen sind nicht weit hinter uns. Wenn wir fragten, wie weit, bekamen wir keine Antwort. Wie haben die Frauen geächzt und gestöhnt, wenn’s bergauf ging! Ich durfte nun auch an den Rädern mitschieben. Manchmal mussten wir mitten auf ’ner Erhöhung anhalten zum Luftholen. Da musste die Bremse flugs angekurbelt und ein Klotz hinter ein Rad geklemmt werden. damit der Wagen ja nicht zurückrollte. Bei solchen Manövern wurden wir oft von den Leuten hinter uns beschimpft. Beim späteren Geplauder mit meinen Mädels sagten sie, daß da keine Berge waren, aber die kleinste Erhöhung machte sich schmerzlich bemerkbar für uns. Nach ’ner Pause ging’s dann wieder los. Auf ’ner Höhe angelangt, hielten wir an. Eine Frau kletterte auf die Kutscherbank (nach ’ner Weile lernten die Frauen, daß man die Bremskurbel auch von der Strasse her anleiern konnte), und als unser Atem beruhigt war, gingen die Frauen vorn zur Deichsel. Als die Bremse bissel gelockert wurde, ging’s abwärts. Die Deichsel musste aber festgehalten werden, denn wenn ein Rad in ein Schlagloch geriet, schlenkerte die Zugstange, und das musste scharf kontrolliert werden, damit wir nicht im Strassengraben landeten. Flott gelaufen wurde, wenn’s abwärts ging, damit wir bissel Anlauf für den nächsten Hügel bekamen, und dabei wurde immer gelacht. Die Hauptangst war, daß jemand unter die Räder kam. Ich war der einzige der kleinen Kinder, der helfen durfte, und das gefiel mir sehr. Esserei hatten wir mit uns, Brot und Butter, auch Wurst, aber meistens wurde das beim Laufen gekaut. Auf einmal, aus blauem Himmel, gab’s einen Krach, und Flugzeuge donnerten über uns. Die Frauen haben sofort den Wagen gestoppt, die Bremse angezogen, und alle waren wir im Graben. Mann, das war ein Krach. Die flogen so niedrig. Man konnte es kaum glauben, daß ein Flugzeug so einen Krach macht, und dann dröhnte das „Ratatatatatata“ von Schüssen. Auf einmal hat Annelies gebrüllt. Sie hat geschrien und gekreischt, und wir wussten, daß sie verwundet war. Sie schrie immer wieder, daß sie das Gesicht eines Piloten erblicken konnte, und das wiederholte sie dauernd. Der hat mich angeguckt, angeguckt! Und trotzdem hat der auf mich geschossen! Wie kann ein Mann auf uns arme Zivilisten schießen? Und immer wieder schluchzte meine große Schwester, daß der Russe sie angeguckt hat und trotzdem auf sie schoss. Andere Leute kamen auch angerannt, um uns zu helfen. Endlich fand man, daß Annelies gar nicht verwundet war, und wir heulten alle wie verrückt vor Freude. Auch fanden die Frauen keine Schussspuren auf unserem Gepäck. Und dann war Totenstille, außer dem entfernten Grollen. Gezittert haben wir alle und uns umarmt und geheult, aber dann ging’s wieder los auf die Reise. Bis dahin hatten die Frauen oft gesungen, denn das half immer beim Schieben, aber nach dem Vorfall mit den Fliegern dauerte es lange, bis jemand wieder ein Lied anstimmte. Langsam ging die Sonne unter, und die Frauen hielten Ausschau nach einem Seitenweg. Zu nahe neben der Strasse zu übernachten, war zu riskant, obwohl andere es taten. Ich weiß gar nicht, wo wir die erste Nacht kampierten. Ich weiß nur, daß ich am Morgen wach wurde, als wir schon wieder unterwegs waren. Ich hatte gut geschlafen. Immer wieder, wenn ich mich an die Zeit erinnere, ist es mir klar, wie schwer es doch für die Frauen war. Heute ist es mir sonnenklar, daß ich leider keine Hilfe bei den Strapazen war. Auf kaputte Autos musste ich ja klettern und jubeln. Einmal kam ich mit einem Stahlhelm angerannt, bin gestolpert und in den Bach gefallen, und das eiskalte Wasser hat mir die Luft weggenommen. Muttl musste mich natürlich rausziehen, und Annelies erzählte mir hinterher, daß die Frau Hof meinte, es wäre besser, mich ersaufen zu lassen. Dann kam wieder ein Motorrad mit den „Bluthunden“; diese aber kamen uns entgegen und guckten uns an, sind aber langsam vorbeigefahren. Die Frauen haben natürlich freundlich gewunken und gedacht, daß die uns vielleicht ein bissel abschleppen mit dem Motorrad. Kurz danach, wir waren gerade an einem Hügel hochgekommen, wurde Rast gemacht. Ich lief durch eine kleine Öffnung zum Feld, und da sah ich ihn liegen! Er lag auf dem Rücken und war bestimmt auch kaputt. Er hatte ein Plakat auf dem Gesicht – scheinbar als Schatten, und ich sagte ihm, wer ich bin. Ich habe aber leise gesprochen. Dann hob ich ganz sachte das Plakat ein bissel und bin so erschrocken. Das war das erste Mal, daß ich richtig Angst gekriegt habe, denn der Soldat hatte ein rotes Loch direkt zwischen den Augen. Muttl kam angerannt und dann die Frauen, und dann gab’s Geschrei: Diese schamlosen Schweine, diese furchtbaren Feiglinge! Auf dem Plakat stand (das wusste ich damals aber nicht), daß er ein Feigling sei, der sein Vaterland verraten hat. Ich musste ein ganzes Stück weggehen und konnte nur von Weitem zugucken, wie die Frauen unter Tränen ein kleines Grab gruben. Es war eine kleine Schaufel mit einem langen Stiel, und die Frauen wechselten sich dauernd ab, als sie fieberhaft gruben. Annelies berichtete mir später, daß es kein tiefes Grab war, und sie mussten den armen Kerl mit Reisig bedecken und ein Kreuz drauflegen. Sie sahen so verbissen aus, als es weiterging. Sie beklagten, daß irgendwo in der Heimat jemand auf Nachricht von Sohn, Geliebten oder Bruder wartete. Das vergisst man oft mit dem Krieg: Wenn ein Soldat stirbt, wie viele Leute da betroffen werden und leiden oder vergeblich hoffen. Dann stelle man sich vor, wie viele millionenmal das passiert ist, wenn ganze Nationen leiden. Während ich das schreibe, sind wieder australische Soldaten am Sterben in Afghanistan oder Irak. Genau derselbe Blödsinn, dieselben Lügen von schamlosen, feigen Politikern, die da krähen, daß wir das so machen müssen, d. h. den Amerikanern gehorsam hinterhermarschieren. Wie treffend Pete Seegers Lied doch ist, das Marlene Dietrich sang: Where have all the flowers gone …? When will they ever learn, when will they ever learn? Wir lernen es nie! Es gibt so viele intelligente Menschen auf Erden, aber Menschenmassen sind zu oft dümmer als Schafe. Der andere Verkehr ist immer weniger geworden, wir waren beinah allein auf der Strasse. Bedeutet das, daß die Russen ziemlich dicht hinter uns sind? Paarmal, wenn’s bergauf ging und Soldaten fuhren vorbei, haben die angehalten und mitgeschoben und ermunterten uns, daß wir es gut schaffen werden, aber dann fuhren sie schnell wieder weiter. Manchmal klang es, als wenn das Gedonnere von Geschützen näherkam. Ich weiß nicht mehr, wie es in der ersten Nacht war, aber vor der zweiten Nacht, da fiel es den Frauen ein, daß sie überhaupt kein Licht hatten, keine Taschenlampen, keine Öllampe. Ich weiß gar nicht, ob wir überhaupt Streichhölzer gehabt haben, und die Frauen waren total aufgeregt darüber, bis eine anfing zu lachen über unsere Dummheit, und dann lachten alle mit, und ich fand das komisch. Nun folgten rege Diskussionen, was nun zu tun sei. Frau Zeunert sagte lachend, daß unser lieber Gott es so gewollt hatte, damit wir kein Licht von uns geben für den Fall, daß die Russen kommen. Sobald das Wort „Russen“ aufkam, ging die Debatte wieder los, wie man sich zu verhalten habe, wenn die rote Horde uns schnappt. Das Wort Vergewaltigung kam immer wieder vor, und dann wurde von Mord und Qualen gemurmelt, wie wir es von anderen Flüchtlingen gehört hatten. Renate hatte mal versucht, mir Vergewaltigung zu erklären, aber ich verstand es nicht, und irgendwie kam es mir so vor, als wenn sie es auch nicht so richtig verstand. Immer wieder wurde gebeten, dass wir es zu Mittelsteine schaffen und auch alle zusammen auf einen Zug kommen. Eine Frau meinte, das Züge aber auch beschossen wurden. Frau Kilian schlug vor, ob wir nicht doch paar Gewehre vom Strassengraben mitnehmen sollten, aber sie wurde ausgelacht. Mir tat die Frau leid, denn ihr Vorschlag war doch praktisch. Frau Hof fügte aber hinzu, daß es vielleicht doch besser wäre, bewaffnet zu sein: Dann würden wir von den Russen erschossen, was doch besser wäre als Vergewaltigung von diesen Unmenschen. Keiner antwortete. Manchmal kamen mir Bedenken, daß wir vielleicht doch lieber hätten zu Hause bleiben sollen auf meinem Lindenbaum. Flüchtlinge erzählten, daß die Russen unheimliche Angst hatten vor Pocken und anderen Krankheiten, und deshalb sollten Frauen sich gräßlich bemalen, das würde die Russen abschrecken. Plötzlich sahen wir ein Licht zwischen den Bäumen und hielten darauf zu. Es war ein Bauernhof. Daß der Bauer Licht angelassen hatte, erstaunte uns, wo doch alles verdunkelt bleiben sollte. Der Mann und seine Frau waren sehr freundlich. Seine Mutter saß in einem Rollstuhl. Die guten Leute haben es uns ganz komfortabel gemacht in der Scheune. Der Bauer erzählte uns, daß wir großes Glück gehabt hatten, denn sein Außenlicht war nur aus Versehen kurz angemacht worden. Das Stroh – ach, das weiß ich noch genau – war absolute klasse. Es roch himmlisch, und sofort trugen mich die Englein fort. Mann, was haben wir gefuttert beim Frühstück, und einige Mädel haben laut weinend gebettelt, daß wir hierbleiben sollten. Der gute Bauer bot uns sogar eine Kuh an, die wir einspannen könnten, aber das liebe Tier war nicht zu überreden, sich einspannen zu lassen, und so zogen wir wieder los im alten Stil. Bis zur Strasse half uns der gute Mann noch, und dann ging’s weiter. Manchmal sagten die Frauen auch: „Stellt euch mal vor, was wir jetzt durchmachen, das haben die anderen Leute, wo unsere Wehrmacht eingezogen ist, bestimmt auch erlitten, egal ob das nun in Polen, Russland, Ungarn oder in der Tschechei war. Und diese armen Menschen haben genau so Angst gehabt vor unseren Soldaten.“ Das war uns vorher nie in den Sinn gekommen. Man dachte immer, daß Soldaten nur gegen Soldaten kämpfen, aber daß die Bevölkerung dauernd dazwischen war, hatten wir kaum bedacht. Was oft Stress verursachte waren die ‘Mutti-ich-muss-mal-Pausen’, wenn die erklangen kurz nachdem wir eben losfuhren. Da wurde gestöhnt. Ich war ganz stolz, dass ich mein ‘Geschäftchen’ alleine ausführen konnte. Muttl hatte mir sorgfältig gezeigt wie man Klopapier sorgsam faltet und hantiert.Händewaschen wurde mit nassen Grass erledigt wenn kein Bach da war. Am ersten Tag hatten wir oft paar Lieder gesungen, aber dieses Mal, als eine Frau das Schlesierlied anhub, kam sie nicht weit, weil die Stimmen versagten. Immer wieder das Grollen der fernen Geschütze, aber es schien nicht näherzukommen, Gott sei Dank. Flieger haben wir auch oft gehört, aber die waren viel höher, und man wusste nicht, welche es waren, unsere oder feindliche. Ich weiß nicht, wie weit wir von Mittelsteine waren, als auf einmal wieder ein Jeep anhielt mit drei Offizieren und einem Fahrer. Die Offiziere sprangen raus und sprachen mit den Frauen, und ich ging zum Fahrer, der ganz freundlich war, und so erzählte ich ihm gleich, daß Vatl bei den Panzern kämpft in Russland und ob er ihn vielleicht kenne, aber da hat er laut gelacht; versicherte mir aber, daß unsere Panzer sehr tapfer kämpfen im Feindesland. Ich zeigte ihm Vatls Käppi, welches ich in meiner Hosentasche hatte, weil ich schwitzte. Da hat der noch mehr gelacht und sagte, daß ich bald groß genug bin mitzukämpfen. Darauf erklärte ich dem guten Mann, daß Muttl das nie erlauben würde, weil ich ja nun der Mann für meine Mädels bin, und das hat er auch eingesehen. Inzwischen hatte einer von den Offizieren, der Jüngste von ihnen, den Befehl gegeben, unseren Wagen hinter den Jeep zu binden. Später erfuhr ich, daß die anderen zwei davon nicht begeistert waren, sie gehorchten aber. Einer war offenbar ganz mürrisch darüber. Und wieder konnten vier von uns Kindern mit im Jeep hocken. Manche Mädels hatten Angst davor und wollten mit Mutter bleiben. Der junge Offizier sprach Hochdeutsch und sagte uns, daß seine Familie oben in Preußen ist und sich vielleicht in derselben Lage befindet wie wir, und er hofft, dass denen auch jemand zu Hilfe kommt. Renate erzählte mir später, daß eine Frau ihnen Angst machte, indem sie es für möglich hielt, daß wir in den Wald gefahren wurden, vielleicht zum Erschießen, und daß deshalb die anderen zwei Offiziere nicht begeistert waren. Schließlich trugen alle drei Offiziere das SS-Zeichen am Kragen. Kein Wunder, daß die Frauen, auf unserem Wagen sitzend, nicht gerade erleichtert aussahen. Das hat mir Muttl viel später erzählt, und sie hielt das damals schon für übernervösen Unsinn. Sie gab aber zu, daß sie doch immer bissel ängstlich in Fahrtrichtung geguckt hat. Wir Kinder haben aber jubelnd hinten im Jeep gehockt. Was für ein Gefühl, andere Leute mit lautem Hupen zu überholen. An Gegenverkehr kann ich mich dabei gar nicht mehr erinnern. Wir Kinder haben geschrien vor Freude, als wir scheinbar am Ziel waren, obwohl von einer großen Stadt nichts zu sehen war. Unsere lieben Retter haben uns sofort abgebunden und wollten schnell losziehen, aber die Frauen umarmten und drückten sie. Dem jungen Offizier kamen die Tränen, und schon sprangen sie in ihr Fahrzeug und drehten um, was sehr langsam ging, denn der Platz wimmelte von Menschen und Fahrzeugen, und weg waren sie. Die Frauen haben lange gewunken und geweint. Wir waren da! Eine Frau meinte, daß das gar keine SS-Männer gewesen wären, denn die hatten doch normalfarbige Uniformen an, nicht die schwarzen der SS, aber darauf wusste keiner zu antworten. Meine Mädels meinten, daß die Jeep-Fahrt 11 km war, und ob wir das vor Sonnenuntergang geschafft hätten, war sehr fraglich. Die Frauen sind sofort losgerannt, und wir Kinder mussten auf ernsten Befehl hin bei unserem „Geschoss“ verharren und ja nicht einen Meter weggehen. Da war ein Mann, der, durch die Massen marschierend, lauter Befehle brüllte. Er trug ein rotes Armband und rief oft „Heil Hitler“. Es war der Schulmeister. Wir waren nämlich vor einem großen roten Gebäude, die Regionalschule. Aber warum eine große Schule in einer freien Gegend? Von der Stadt habe ich, glaube ich, nichts gesehen. Jetzt merkten wir Kinder auf einmal, wie müde wir alle waren, und nach einer Weile lagen wir auf unseren Gepäck, und ich war wohl der Erste, der einschlief. Muttl schüttelte mich wach und hob mich runter, denn wir mussten in die Schule gehen. Mich umarmend sagte sie, daß wir jetzt zum dritten Stockwerk steigen müssen, denn da haben wir einen Platz bekommen. Renate und ich mussten auch bissel Gepäck tragen, und Annelies blieb bei unserem Wagen auf Wache. Beim Treppensteigen weinten manche der Mädels vor Müdigkeit. Endlich kamen wir in einen großen Raum, wo schon allerhand Leute auf drei Reihen von Stroh saßen oder lagen. Muttel führte uns in eine Ecke, wo wir unser Gepäck unter dem letzten Fenster hinlegten. Renate und ich sollten uns niederlassen, und Muttl ging wieder runter zu Annelies wegen des Rests unserer Habseligkeiten. Muttl und Annelies waren total fertig, als endlich alles Gepäck in der Ecke gestapelt war. Dann lagen wir alle darauf und aalten uns, und auf einmal weinte Muttl. Sie war total fertig. Wir müssen alle geschlafen haben, denn ich träumte von der Landstrasse, als plötzlich Befehle über einen Lautsprecher kamen, daß alle Erwachsenen runterkommen müssen. Wir waren bestimmt nicht die Einzigen, die eingenickt waren, denn es gab ein lautes Stöhnen und Strecken. Renate und ich mussten beim Gepäck bleiben, und es tat uns so leid, Muttl und Annelies lostaumeln zu sehen. Es stellte sich heraus, daß der Schulkeller ein Waffenarsenal war, und alles sollte herausgetragen und ins Feld geschmissen werden. Es wurden zwei lange Schlangen gebildet, durch die dann Waffen und Munition von Hand zu Hand rausgefördert wurden bis weit ins Feld hinein. Wir konnten das alles von unserem Fenster aus sehen. Der Schulmeister rannte hin und her und gab laufend Anweisungen. Sogar wir Kinder verstanden diese mühsame Arbeit nicht, denn man konnte doch die Haufen von Waffen sowieso klar sehen. Später erzählte uns Annelies, was andere Flüchtlinge während dieser Arbeit alles berichteten. Grausamkeiten von Polen und Tschechen an deutschen Zivilisten, als die Wehrmacht weg war. Da wurden Frauen, Kindern und Greisen Augen ausgestochen und Kehlen durchgeschnitten. Mann, was fühlten wir uns da immer glücklich, und wir hatten das alles dem lieben Gott zu verdanken. Wenn Renate fragte, warum die armen Leute nicht gebetet haben zum lieben Gott, hatte Muttle keine Antwort. Ich dachte, dass der liebe Gott die Leute vielleicht nicht verstehen konnte, weil die eben doch ein komisches Deutsch sprachen. Die Sonne ging schon unter am hellroten Horizont als Muttl und Annelies endlich hochkamen. Annelies sagte, dass ihr alle Knochen wehtaten, und beide ließen sich schwer seufzend niederfallen. Meine große Schwester stöhnte, daß sie nicht mehr weiterkonnte, komme da, was wolle, und dann weinte sie. Mensch, das tat mir so leid. In solchen Situationen fühlte ich mich immer so nutzlos. Ich hatte Hunger, aber wie immer sagte Renate leise, daß ich das nicht laut sagen sollte, denn das täte Muttl so weh. Wir hatten ja noch Proviant in zwei Beuteln, aber wir mussten abwarten. Obwohl nun fast alle Familien müde auf ihrem Platz lagen, gingen doch lauter Gespräche hin und her durch den Saal, und die liegenden Frauen sprachen laut zur Decke hoch. Es war wirklich interessant zuzuhören, bis auf einmal eine Frau laut fragte, ob jemand Kanonendonner gehört hat den ganzen Tag. Totenstille! Eine Frau hoffte, daß die Russen vielleicht an Mittelsteine vorbei sind auf dem Weg nach Berlin oder sonst wohin. Oder war der Krieg vielleicht doch schon zu Ende? Plötzlich rochen wir Essen! Meine Renate war die Erste, die das erschnupperte. Und wieder krachte der Lautsprecher: Es gibt genug Essen und die Leute sollen etagenweise runterkommen, d. h. die Landsleute vom dritten Stock sollten zuerst runterkommen usw. Annelies ließ sich nicht überreden aufzustehen, sie drehte sich um und schlief weiter. Jeder hatte sein kleines Töpfel oder eine Pfanne oder was auch immer wir hatten und sind dann mit eifriger Erwartung runtergegangen. Da gab’s ein arges Gedränge, wenn Leute von den unteren Stockwerken reindrängeln wollten vor Hunger. Das tat einem so leid, aber immer wieder sagte der Lautsprecher, daß ja garantiert genug Essen für jedermann da war. Im Hof standen zwei Kessel Gulaschkanonen mit Suppe, wo sogar Fleisch drin war. Mann, haben wir uns gefreut, und jeder bekam eine Kelle voll. Man durfte nicht für eine andere Person mitnehmen, d. h. jeder musste sein sein eigenes Gefäß haben. An einer langen Tafel standen zwei Fässer mit heißen Kartoffeln, und jeder bekam eine. Herrlich. Wieder oben angelangt, kippten wir das alles in unseren großen Topf, woraus wir löffelten. Aber erst mussten wir warten, bis Muttl Annelies geweckt hat, und die musste erst zum Abort, und dann ging’s Löffeln los. Muttl hatte einen runden Laib Brot aus einem Sack und bröckelte den in den Topf, und dann ging’s los. Immer wieder ermahnte uns Muttl, ja schön langsam zu essen, denn das sättigte mehr, aber dem Rat zu folgen war überhaupt nicht leicht. Mann, hat das geschmeckt, und ich bilde mir ein, daß ich das heute noch schnuppern kann. Jetzt konnte ich mich auch mit anderen Kindern unterhalten, und die hatten Geschichten zu erzählen, was denen passiert war auf ihrer Flucht. Da musste ich natürlich auch mithalten und hab erzählt, daß mein Vatl mit seinem Panzer schon in Moskau war und daß der Krieg bald zu Ende ist. Hab auch gleich mein Käppi aufgesetzt, damit ich bissel ernst genommen wurde, aber doch merkte ich, daß ich meinen Zuschauern nicht groß imponierte. Schade, daß ich denen nicht das Bild zeigen konnte, wo mein Vatl an ’nem Strassenschild steht, auf dem stand: 100 km bis Moskau, denn das war ja verpackt. Vom offenen Fenster hörten wir eine Zugpfeife, und wie haben wir uns da wahnsinnig gefreut, daß wir vielleicht morgen schon losdampfen konnten nach Dresden, Frankfurt oder Bayern, denn diese klassischen Namen hatten wir schon dauernd von Leuten gehört. Die Frauen haben oft über den Schulmeister gespottet mit seiner emsigen Waffenzerstreuung aus dem Keller und seinem „Heil Hitler“. Nun gingen wir gemeinsam zur Toilette auf unserem Flur, wo eine ganze Reihe Klos und Waschbecken waren, und da haben wir uns so herrlich geschrubbt. Aber man musste sich beeilen, denn es warteten viele darauf, auch dranzukommen. Zurück in unserer Ecke, war ich bestimmt wieder der Erste, der ins Traumland schwebte. Wie oft haben mir später meine Mädels erzählt, daß ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit hinlegen und schlafen konnte. Ich hörte aber noch eine Frau sagen, daß wir Gott danken sollen, daß der vernarrte Schulmeister uns nicht bewaffnet hat, um uns gegen die Russen zu verteidigen.
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26 Ein neues Leben Ich bin den ganzen Heimweg von der Schule durch den Schnee gerannt. Auf der letzten Treppe roch ich schon Tabakrauch, und ich wollte gerade klopfen, da ging die Tür auf und da stand mein Vatl. Er ging auf die Knie und umarmte mich fest und schluchzte. So verharrten wir eine Weile. In der Wohnstube saßen meine Mädels. Vatl musste in der Mitte sitzen, ich auf seinem Schoß, und er flüsterte leise ein paarmal: danke, lieber Herrgott … Ich sagte ihm, daß ich seine Pfeife immer noch hatte und auch das Käppi. Vatl roch wie ein Mann. Er war mager, aber sah sehnig aus, nicht dürre wie manch andere von den Heimkehrern, wie uns Annelies beschrieben hatte. Ich danke dir, lieber Gott, daß wir wieder eine ganze Familie sind, sagte er leise. Er wiederholte, daß es jetzt bergauf gehen wird mit der Familie Süssenbach, denn er wird sofort auf Arbeitsuche gehen, und Muttl muss wieder die liebe Hausfrau sein, wie sich das gehört. Wir waren uns alle bewusst, daß ein Wunder uns durch den Krieg gebracht hat. Vatl hatte einen Rucksack und einen selbstgebauten, khaki-grünen Holzkoffer mitgebracht. Der Koffer war voll mit Zigarettenschachteln und ganzen Paketen Würfelzucker. Auf unsere Fragen, wie er das alles gesammelt hat, zwinkerte er mit einem Auge und lachte. Dann setzte er mir eine richtige russische Pudelmütze auf, die noch den hellen Fleck hatte an der Stirnklappe, wo der rote Stern gewesen war. Und während die Mädels eifrig kochten, mussten sie berichten, wie wir durchgekommen sind beim Umsturz. Ich glaube, wir alle fühlten uns wie im Traum, und ich brauchte am nächsten Tag nicht zur Schule zu gehen. Mann, war das eine feierliche, lustige Stimmung, und auch beim Essen ging es rege weiter mit Erzählungen. Punkt 9 Uhr abends klopfte Frau Rehork wie gewöhnlich mit ihrer Krücke an ihre Tür hinter unserem Sofa. Das tat sie immer um diese Zeit. Vatl stand auf, und Muttl bat ihn, ruhig zu bleiben, aber er lachte, goss Schnaps in ein Glas und ging nach nebenan. Wir konnten bissl Gemurmel hören, und lachend kehrte unser Vater zurück. Wir hatten doch die arme Seele paarmal aufgeklärt über Vatls Kommen, aber das hat bei ihr nicht gezündet. Vatl lachte, daß sie den Schnaps gerne nahm, und danach würde sie wohl gut schlafen. Zwei von unseren Betten wurden zusammengeschoben, und ich schlief mit Renate. Am nächsten Morgen war ich der Letzte, der aufstand, und hier war meine fröhliche Familie im Wohnzimmer und sie gratulierten mir zum 10. Geburtstag. Und dann gab mir Vatl ein Bündel, und als ich es auspackte, war’s eine Dampfmaschine! Eine richtige Dampfmaschine, und mir kamen die Tränen. Mensch, das Ding war eine Pracht, und Vatl hatte die selber gebaut. Er erzählte, daß er einmal eine gebaut hatte für einen Kommandanten im Lager, und später musste er immer mehr zusammenbasteln für andere Offiziere. Er hatte die letzten zwei Jahre in einer Werkstatt im Lager geschafft, wo sie meistens die Jeeps instandhalten mussten. Ach, war die Maschine herrlich. Da war ein Kessel unter dem man Feuer machen konnte mit Alkohol und wenn genug Hitze erzeugt war, wurde das Schwungrad angetrieben und mir zitterten die Hände als Vatl mir den Vorgang erklärte. Ich sehe immer noch die kleinen blitzenden Messingrohre und Hähne. Wir probierten es gleich aus mit Schnaps und ich konnte nicht glauben, dass das meine Maschine war. Vatl sagte, dass er kleine Maschinen besorgen wird, die von der Schwungscheibe mit Treibriemen angetrieben werden. Ich war sprachlos, wunschlos glücklich. Muttl hatte uns ja immer erzählt daß Vatl alles fabrizieren konnte, aber das hier war unglaublich. Am Nachmittag kam Gerhard, und der brachte mir einen gebrauchten Stabilbaukasten, aber ich konnte nicht mehr sprechen vor Aufregung. Die zwei Männer umarmten sich. Was für eine Stimmung. Von den Unterhaltungen hörte ich nicht viel, bis ich Annelies jodeln hörte. Die zwei Männer waren zusammen spazieren gegangen, und danach sagte Vatl, daß nun die Hochzeit geplant werden muss. Allerdings muss erst eine Wohnung für das Paar gefunden werden, und das kann ’ne Weile dauern. Gerhard hat nie geraucht in unserer Wohnung, aber jetzt qualmten sie beide, und Muttl machte beide Fenster weit auf, obwohl es ordentlich schneite. Muttl drohte ihnen ob der Quarzerei und Vatl stand stramm und sagte: Zu Befehl Frau Süssenbach! Das Rauchen wird sofort eingestellt, wenn sie aufhören zu arbeiten, und lachend umarmte er sie. Das Leben konnte nie schöner werden. Ich finde es schwer, meine Gefühle zu beschreiben mit Vatls Heimkehr. Alles, aber auch alles änderte sich jetzt. Obwohl in Muttls Gebeten seine Heimkehr immer Realität war – als es Wirklichkeit wurde, fühlten wir uns wie neugeboren. Jedem, der mich anschaute, erzählte ich von dem Wunder aber bald musste ich es einschränken in der Schule, weil ich wusste, dass viele meiner Klassenkameraden noch von dem Wunder träumten oder aufgeben mussten. Ich konnte Vatl ewig angucken; beim Rasieren, beim Waschen, beim Pfeiferauchen. Manchmal schnappte er mich und rieb sein Gesicht an meins, und das kratzte ganz schön, obwohl er keinen Bart hatte. Nach dem Wochenende kam Vatl mit mir zur Humboldtschule. Ich hatte gemischte Gefühle. Als wir den Schulhof betraten, sagte Vatl, ich sollte normal weitermachen, denn er würde sich schon zurechtfinden. Unsere Hauptlehrerin war jetzt Frau Hofmann, eine große, stolze Dame. Sie lachte selten, war aber nicht unfreundlich, man musste sie eben ernst nehmen. Als sie in die Klasse kam an dem Morgen, erschrak ich, denn Vatl kam mit ihr, und sie sagte, daß wir heute einen Besucher haben während Vatl nach hinten ging. Flüsternd kam herum, dass das bestimmt unser neuer Russischlehrer sein wird, denn Jaschonek war weg (er kam aber nach zwei Wochen wieder). Ich war bissel aufgeregt über solchen Unsinn; mein Vatl ein Russe? Ja, er hatte hohe Stiefel an und seine Jacke war ’ne Khaki-grüne Steppjacke und obendrein hatte er seine Pudelmütze unterm Arm. Frau Hofmann lehrte uns Deutsch (Literatur und Grammatik), Mathe und Gegenwartskunde. Die anderen Hauptfächer waren Russisch, Physik, Chemie und Geschichte, und Hauptfächer waren alles Doppelstunden mit einer 10-Minuten-Zwischenpause. Nach der Kurzpause kehrte Frau Hofmann alleine zurück, aber in der Zwischenzeit hatte ich meine Klasse aufgeklärt, wer unser Besuch war. Als ich heimkam, lieferte Vatl mir eine Zusammenfassung. Er hatte sich auch mit den anderen Lehrern unterhalten, und ihr Urteil über mich war identisch: begabt, sehr leicht ablenkbar, guter Mitarbeiter, Kaspertalent. Ich danke Gott, dass es zu den Zeiten keine Psychologen gab in den Schulen (psycho-councillors), denn die hätten mich psychisch analysiert und behandelt bis ich total verrückt war. Vatl war ein praktischer Erzieher. Am Abend setzte er sich zu mir ans Bett und erzählte, was ihm geholfen hat, die Gefangenschaft zu überleben. Er musste durchkommen, um seine Familie zu beschützen, zu versorgen und mich als erfolgreichen Ingenieur zu sehen. Er dankte mir, daß ich meinen Mann gestanden habe für meine Mädels, was aber nun seine Rolle war. Meine war es nun, zu lernen, eifrig zu studieren und das Herumalbern anderen zu überlassen. Ich musste ihm mein Versprechen geben, mich danach zu richten. Er erwähnte auch, daß er sehr beeindruckt war von meinen Lehrern, vor allem Frau Hofmann. Ich bewunderte sie auch, denn wenn wir ‘Superschlauen’, dachten wir stellten verzwickte Fragen, antwortete sie immer gelassen und unparteiisch und das war nicht immer einfach. Das politische curriculum muss ja bedrückend gewesen sein für intelligente Lehrer aber wir hatten Glück, denn unsere waren keine ‘Genossen’, die ihre Fahne in den Wind hingen sondern waren waschechte Tutoren. Dass war keine leichte Forderung, wenn sie uns ‘politisches Heu’ vorlegen mussten. Natürlich bestand unser ‘Wissen’ nur vom Hören-Sagen und beim Schlangestehen. Schon als 10-Jährige konnten Viele von uns die endlosen hohlen Losungen und Phrasen der Ideologie durchschauen wo wir unsere Existenz ewig unseren Roten Rettern zu verdanken hatten, denn ohne deren selbstlose Unterstützung wären wir Hilfloses Futter für den faschistischen Westen. Wir mussten alle jeden Früh in Klassenformation beim Fahnenappell im Hof stehen und unsere Nationalhymne singen während ein Pionier die Fahne hochzog. Woran muss dass unsere Lehrer erinnert haben? Es gab gefeiert Festtage wo überzeugte Leute Fahnen und Wimpel, sogar Parolen aus ihren Fenstern hingen. Wir liefen in Klassengruppe zur Stadt, wo wir beim Hauptbahnhof eingereiht wurden und dann zum Karl-Marx-Platz marschierten, wo auf der Riesentribühne unsere Genossen Führer eifrig winkten, umjubelt von den Massen. Wir 3 besser ‘Informierten’ verstanden es vorsichtig zur Seite zu schleichen auf dem Weg dahin, denn unsere Anwesenheit war ja vorher auf der Liste schon notiert worden. Dieses Manöver war möglich, weil Rudi, Lotsche und ich keine Pionieruniform hatten. Ich ‘verstauchte’ mir den Knöchel und meine treuen Kameraden halfen mir zur Seite wo wir uns sehr dünne machten. Die meisten sind deshalb Pionier geworden, weil sie Hemd, Hose und blaues Halstuch bekamen, und das war praktische Ware, denn Kleidung war immer noch nur gegen Marken erhältlich, also knapp. Natürlich gab es auch „Überzeugte“, aber in unserer Klasse war nur einer, und der arme Kerl hatte da keine Wahl, denn sein Vater war bei der Polizei und musste daher damals in der Partei sein; also trauten wir ihm nicht. Der arme Peter Gey. Er war ein harmloser Kerl und wusste, daß wir ihm nicht trauten. Wenn wir Frau Hofmann fragten, ob denn alle deutschen Soldaten Mörder waren, sagte sie, daß sie keinerlei Kriegserfahrung hatte. In wissenschaftlichen Themen wurden uns nur immer die enormen Errungenschaften der sowjetischen Wissenschaftler gelehrt. Der Biologe Mitschurin z. B. war eine Weltsensation, der unbeschreibliche Erfolge mit Pflanzenkreuzungen hatte und wir flüsterten den Spruch: „Mitschurin hat festgestell, dass Marmelade Fett enthält, drum gibt es auf die Fettdekade nur noch Marmelade“. Wie schon erwähnt, musste man alle Hauptfächer erfolgreich bestehen, sonst blieb man sitzen und musste das Jahr wiederholen. Von der fünften Klasse an war Russisch auch ein Hauptfach. Unser Russischlehrer war ein Russe, ein Bär, breit wie ein Schrank. Seine schwarzen Brusthaare quollen aus seinem Kragen heraus. Da er mit Vatl gesprochen hatte, wusste ich, daß er mich „rannehmen“ durfte. Körperliche Strafen waren zwar verboten, aber wenn Jaschonek mich spielend am Hemd schnappte und an sich zog, so daß meine Füsse baumelten, reichte das, um mich zu überzeugen. Einmal fasste er mich unter meine Arme und hob mich auf den Klassenschrank wo Lösche schon hockte. Lösche war länger als ich und musste sich deshalb noch mehr ducken unter der Zimmerdecke. Da mussten wir den Rest der Lektion verweilen zum Gaudi der Klasse, vor allem der Mädel. In dieser unbequemen Haltung musste ich ‘Haus’ auf Russisch deklinieren: Dom, Doma, Domu, Dom, Domom, Domje. Im Russischen sind’s 6 Fälle also zu: nominativ, genetiv, dativ, akkusativ, kommen instrumental und prepostitional dazu. Und dass ist für singulare Gegenstände, dazu kommt dann das Plural. Nicht einfach, schon gar nicht in gebückter Haltung auf nem Schrank, wenn die Klasse laut lacht. Lösche war, glaube ich noch schlimmer dran, denn der musste das Russische Lied: Tschiroka Stranamoja Rodnaja singen und weil ich mein Lachen nicht verbeissen konnte, musste ich zur Strafe mitsingen. Vatl hatte mir mitgeteilt, dass Jaschonek eigentlich ein Weissrusse war und wie er überlebt hat und davon gekommen ist, war ein Rätsel. Noch grösser war das Rätsel warum er dass Vatl anvertraut hat und ich sollte das Niemanden jemals sagen. Vatl konnte mir mit der russischen Aussprache helfen, und lesen konnte er es fließend. Inzwischen hatte Vatl bei der Autoreparatur-Firma Kensing in Schkeuditz angefangen. In Sibirien hatte ein Kommandant nach einem Autospezialisten gefragt. Bei den Russen waren ja alle Deutschen Spezialisten auf allen Gebieten. Von Beruf war Vatl Schmied, und beim Panzertraining hatte er ja auch basische Motoren-Mechanik erlernt. Als Jeepspezialist und Fahrer waren drei Jahre seiner Gefangenschaft durchaus leichter zu ertragen. Er lebte praktisch in dem Fahrzeug, für dessen Instandhaltung er verantwortlich war. Er musste Offiziere meilenweit durch die Schneewüste fahren, und angekommen, schlief er im Fahrzeug Er hatte warme Kleidung und wurde auch mit Essen und Wodka versorgt. Einmal erzählte er Gerhard wie unglaublich offen die Offiziere mit ihm über den Krieg gesprochen haben. Er war verblüfft als sie ihm mitteilten wie sie gefeiert hatten als Hitler kopfüber gen Moskau stürmte, sich dann aber auf Stalingrad konzentrierte. Sie wussten damals schon, dass sie den Krieg zweifelsohne gewinnen werden. Ein Offizier erzählte Vatl einmal, dass seine zwei Brüder in Deutschland in Gefangenschaft gewesen waren und von da aus angeblich zurück nach Russland transportiert wurden; hatte aber nie wieder etwas von ihnen gehört. Die Historie hat uns ja nun bewiesen was ‘Väterchen Stalin’ mit seinen Soldaten machte, die jemals in Feindeshand in Gefangenschaft geraten waren. Firma Kensing war eine emsige Werkstatt, wo man alles Mögliche unternahm, um alte Laster und Zugmaschinen am Laufen zu halten oder zum Laufen zu bringen. Obwohl die Genossen alle Betriebe übernehmen wollten, wussten sie, dass dann der ganze Verkehr stillstehen würde. Alle Autoschlosser mussten damals multi-talentiert sein die alten, treuen Fahrzeuge instand zu setzen. Fahrzeugbesitzer schätzten diesen Aufwand und da sie viel Gut transportierten, konnten sie einige ‘Kostbarkeiten’ abgeben die mehr Wert waren als Geld. Leider kam Vatl selten im Hellen nach Hause, aber oft brachte er Geschenke wie Sauerkraut, Butter, Wurst, Kartoffeln, sogar Seidenstrümpfe und einmal sogar eine Lederhose für mich mit – und ich jubelte. Die war zwar bissel groß für mich, aber wen kümmerte das? Hatte ich doch immer andere Jungs beneidet in ihren „Ledernen“. Sie trugen die auch oft im Winter mit langen Strümpfen. Lederhosen waren doch unzerstörbar, und je älter sie waren, desto prächtiger waren sie. Meine hatte schon ein paar Glanzstellen, und wenn einmal die ganze Hose glänzte, würde sie noch kostbarer sein. Vatl schaute sich auch meine Schularbeiten genau an, und es war kein Wunder, daß sich meine Zensuren besserten. An einem Samstag folgte mir eine Mutter mit ihrem Sohn, mit dem ich eine Auseinandersetzung gehabt hatte: Das war keine Seltenheit. Muttl hat bei solchen Fällen mir oft den Hintern vor Mutter und Kind versohlt. Leider war dieses Mal Vatl zeitig heimgekommen. Ich war im Schlafzimmer, und Vatl ging an die Tür und hörte sich die Klage an und entbot der Frau ein „Auf Wiedersehen“. Als ich freudig rauskam, bekam ich eine ordentliche Tracht auf den Hintern. Mein Trick bei so was war, laut zu brüllen, bis sich die Nachbarn beschwerten und es Muttl peinlich wurde. Hier hielt Vatl kurz inne und erklärte mir, dass er solange weitermacht bis ich still bin. Nach ’ner kurzen Weile gab ich auf. Ich musste ins Bett und Vatl setzte sich daneben. Er mahnte mich, nie jemanden zu verhauen, der kleiner war als ich und nur, wenn eine Auseinandersetzung unvermeidlich war. Der Grund, weil Vatl an dem Tag früher heimgekommen war: es war eine kleine Feier geplant. Gerhard hatte sein Grammophon mitgebracht und bei lieber Musik lag ich da und tat mir selber sehr leid. Bei den lustigen Tönen: Lustig ist das Zigeunerleben, Tanz mit der Dorle, walz mit der Dorle, Im Grunewald ist Holzauktion, Lilli Marlen, Waldeslust. Der Zug nach Kötschenbroda usw. erkannte ich, dass ich irgendwie mein Betragen verbessern muss. Meine treue Renate kam paarmal reingeschlichen mit Schleckereien und natürlich bissel Schnaps, den sie selber aber verabscheute – ich auch, aber ich war ja ein Mann und musste es geniessen. Vatl kam auch rein und bat mich bitte meine Selbstbeherrschung zu stärken. Auch musste ich nun mit dem Ringen aufhören, denn ich bin zu oft des nachts aus dem Bette gefallen. Bevor Vatl heimkam, bin ich auch manchmal im Schlafe herumgewandert und dass war ’ne Nervensache für Annelies und Gerhard. Sie sassen auf dem Sofa und ich kam rein, machte ’ne Runde um den Tisch und wanderte wieder zurück ins Bett. Muttl hatte solche Angst, denn wenn ich mondsüchtig wäre, könnte es passieren, so sagten die Leute, dass ich aus dem Fenster klettere. Vatle erklärte mir, dass meine Nerven zu gespannt sind. Ich biss auch meine Zähne laut zusammen und schlug meine Ellenbogen dauernd an meine Hüfte. Aus war’s mit dem Ringen in der Thonberger Turnhalle. Wenn ich mit Annelies zurückdenke an diese Zeiten, da lachen wir immer wieder. Was muss Vatl gedacht haben als ich, sein Stammhalter, mit dicker Brille, Zähne und Ellenbogen-klappend vor ihm stand und nachts regelmässig aus dem Bett fiel. Hatte er da manchmal gewünscht er wäre in Russland geblieben?
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