Читать книгу Ein planloses Leben – Teil 1 - Heinz Suessenbach - Страница 12
6 Auf der Landstraße nach Mittelsteine Meine Erinnerungen aus diesen Zeiten verwundern mich manchmal. Ich spürte kaum Angst, denn ich war ja immer mit meinen Mädels. Ich spielte kaum ’ne praktische Rolle in dem Drama; war mehr ein unbedeutender Mitspieler und leider oft ein Handicap. Wir waren oft inmitten von Kolonnen und wurden auch oft überholt. Andere Flüchtlinge sahen meistens ärmlicher und müder aus. Zweimal wurden wir von den motorisierten „Bluthunden“ angehalten. Die trugen Ledermäntel und Helm und ’ne Kette mit einem Schild auf der Brust und fragten nach unseren Papieren. Die guckten uns unfreundlich an, und der im Seitenwagen hielt auch ein Gewehr. Man hatte sofort das Gefühl, daß wir irgendwie Feinde waren. Das Gerumpel – das Donnern in der Ferne – hat uns praktisch dauernd begleitet, denn nach ner Weile hat man das gar nicht mehr wahrgenommen. Wenn wir von Militärfahrzeugen überholt wurden, winkten die uns oft freundlich zu. Einmal rief einer, ob jemand unser Pferd gestohlen hat, und Frau Kornetzki rief zurück, dass wir es gefressen haben. Später erfuhren wir, daß wir eigentlich Glück hatten, denn Flüchtlinge waren auf der Hauptstrasse gar nicht erlaubt. Die Leute, die wir überholen konnten, sahen traurig aus, und wer weiß, wie lange die schon auf der Tour waren. Die Gesichter der Kinder, die bedrücken mich heute noch, vor allem, wenn sie uns anbettelten. Einmal fragten uns zwei Frauen, ob wir nicht ihren gelähmten Vater mit seinem Rollstuhl an unseren Wagen dranhängen könnten. Mit schwerem Herzen haben unsere Frauen zugesagt, und als sie dabei waren, den armen Greis hinten anzubinden, hielt ein Militärlaster an. Nach kurzer Debatte haben die den armen Kerl mitsamt Rollstuhl hinten reingehoben, obwohl da Soldaten saßen und sagten, daß sie den Greis in Mittelsteine abladen werden beim Bürgermeister. Seine Angehörigen haben laut geweint vor Freude und konnten sich nicht genug bedanken. Unter ihnen waren zwei Mädel, ungefähr 10 Jahre alt, die sehr müde aussahen, und die haben die Soldaten auch noch hinten reingepackt und machten sich dann aber flugs auf die Weiterfahrt. Irgendwie hat uns diese Unterbrechung gut getan, und weiter ging’s mit Schieben und Ziehen und Pusten. Das Wetter war zwar kühl und nach und nach kam eine nach der anderen unserer Hüllen ab und wurde auf den Wagen geklemmt. Plötzlich hielt ein Jeep an. Zwei Offiziere und eine uniformierte Frau kamen raus und haben die Frauen was gefragt, und dann nahmen sie einen Strick, den sie an unsere Deichsel und an ihr Fahrzeug knoteten. Uns rieten alle, auf unser Gefährt zu klettern. Drei Kinder sollten auch hinten in den Jeep, wo wir zwischen Soldaten gequetscht wurden. Wie haben wir uns da gefreut. Ich hörte Muttl sagen, daß der liebe Gott uns, wie immer, diese braven Leute geschickt hat. Die Soldaten sagten, daß unter den ganzen Kolonnen wir die einzigen sind, die ’nen Pferdewagen ohne Pferd schoben. Mann, waren wir glücklich. Wirklich: Da war der liebe Gott dabei. Ich weiß nicht, wie weit wir gefahren sind, aber so weit kann’s gar nicht gewesen sein, denn es ging ja alles ziemlich langsam vorwärts ob des Verkehrs. Auf einmal war die Fahrt zu Ende. Plötzlich wurden wir ganz schnell wieder abgebunden, und unsere Retter haben sich ganz kurz verabschiedet, und wir standen wieder allein da. Die Mädels meinten, daß Befehle übers Radio gerufen waren. Und weiter ging’s zu Fuß. Mir hat das Marschieren eigentlich gefallen, denn schnell ging es ja nicht voran, und man sah da so viel Zeug im Graben liegen, und ich konnte es auch kurz anfassen. Gewehre, Stahlhelme, Stiefel, Fahrzeuge und hier und da ’ne Panzerfaust. Einmal hab ich mit Freuden ’ne Panzerfaust aufgehoben und sie triumphierend den anderen vorgeführt, aber die Frauen wurden fuchtig und bestanden darauf, daß Muttl mir den Hintern versohlen sollte. Muttl befahl mir, nichts mehr anzufassen, ohne Ausnahme. Das unheimliche Brüllen der Kühe hat bestimmt auch keiner vergessen. Die rasten wie sinnlos auf den Feldern herum. Sie schrien vor Schmerzen, weil ihre Euter zum Platzen voll waren. Es waren nicht nur Menschen, die im Krieg litten. Die Uniformierten, die uns da eine Strecke lang mit dem Jeep gezogen hatten, sagten, daß wir ja weit weg von der Strasse gehen sollen, wenn wir abends Pause machten. Ja nicht in der Nähe der Strasse bleiben und kein Feuer machen, denn die Russen sind nicht weit hinter uns. Wenn wir fragten, wie weit, bekamen wir keine Antwort. Wie haben die Frauen geächzt und gestöhnt, wenn’s bergauf ging! Ich durfte nun auch an den Rädern mitschieben. Manchmal mussten wir mitten auf ’ner Erhöhung anhalten zum Luftholen. Da musste die Bremse flugs angekurbelt und ein Klotz hinter ein Rad geklemmt werden. damit der Wagen ja nicht zurückrollte. Bei solchen Manövern wurden wir oft von den Leuten hinter uns beschimpft. Beim späteren Geplauder mit meinen Mädels sagten sie, daß da keine Berge waren, aber die kleinste Erhöhung machte sich schmerzlich bemerkbar für uns. Nach ’ner Pause ging’s dann wieder los. Auf ’ner Höhe angelangt, hielten wir an. Eine Frau kletterte auf die Kutscherbank (nach ’ner Weile lernten die Frauen, daß man die Bremskurbel auch von der Strasse her anleiern konnte), und als unser Atem beruhigt war, gingen die Frauen vorn zur Deichsel. Als die Bremse bissel gelockert wurde, ging’s abwärts. Die Deichsel musste aber festgehalten werden, denn wenn ein Rad in ein Schlagloch geriet, schlenkerte die Zugstange, und das musste scharf kontrolliert werden, damit wir nicht im Strassengraben landeten. Flott gelaufen wurde, wenn’s abwärts ging, damit wir bissel Anlauf für den nächsten Hügel bekamen, und dabei wurde immer gelacht. Die Hauptangst war, daß jemand unter die Räder kam. Ich war der einzige der kleinen Kinder, der helfen durfte, und das gefiel mir sehr. Esserei hatten wir mit uns, Brot und Butter, auch Wurst, aber meistens wurde das beim Laufen gekaut. Auf einmal, aus blauem Himmel, gab’s einen Krach, und Flugzeuge donnerten über uns. Die Frauen haben sofort den Wagen gestoppt, die Bremse angezogen, und alle waren wir im Graben. Mann, das war ein Krach. Die flogen so niedrig. Man konnte es kaum glauben, daß ein Flugzeug so einen Krach macht, und dann dröhnte das „Ratatatatatata“ von Schüssen. Auf einmal hat Annelies gebrüllt. Sie hat geschrien und gekreischt, und wir wussten, daß sie verwundet war. Sie schrie immer wieder, daß sie das Gesicht eines Piloten erblicken konnte, und das wiederholte sie dauernd. Der hat mich angeguckt, angeguckt! Und trotzdem hat der auf mich geschossen! Wie kann ein Mann auf uns arme Zivilisten schießen? Und immer wieder schluchzte meine große Schwester, daß der Russe sie angeguckt hat und trotzdem auf sie schoss. Andere Leute kamen auch angerannt, um uns zu helfen. Endlich fand man, daß Annelies gar nicht verwundet war, und wir heulten alle wie verrückt vor Freude. Auch fanden die Frauen keine Schussspuren auf unserem Gepäck. Und dann war Totenstille, außer dem entfernten Grollen. Gezittert haben wir alle und uns umarmt und geheult, aber dann ging’s wieder los auf die Reise. Bis dahin hatten die Frauen oft gesungen, denn das half immer beim Schieben, aber nach dem Vorfall mit den Fliegern dauerte es lange, bis jemand wieder ein Lied anstimmte. Langsam ging die Sonne unter, und die Frauen hielten Ausschau nach einem Seitenweg. Zu nahe neben der Strasse zu übernachten, war zu riskant, obwohl andere es taten. Ich weiß gar nicht, wo wir die erste Nacht kampierten. Ich weiß nur, daß ich am Morgen wach wurde, als wir schon wieder unterwegs waren. Ich hatte gut geschlafen. Immer wieder, wenn ich mich an die Zeit erinnere, ist es mir klar, wie schwer es doch für die Frauen war. Heute ist es mir sonnenklar, daß ich leider keine Hilfe bei den Strapazen war. Auf kaputte Autos musste ich ja klettern und jubeln. Einmal kam ich mit einem Stahlhelm angerannt, bin gestolpert und in den Bach gefallen, und das eiskalte Wasser hat mir die Luft weggenommen. Muttl musste mich natürlich rausziehen, und Annelies erzählte mir hinterher, daß die Frau Hof meinte, es wäre besser, mich ersaufen zu lassen. Dann kam wieder ein Motorrad mit den „Bluthunden“; diese aber kamen uns entgegen und guckten uns an, sind aber langsam vorbeigefahren. Die Frauen haben natürlich freundlich gewunken und gedacht, daß die uns vielleicht ein bissel abschleppen mit dem Motorrad. Kurz danach, wir waren gerade an einem Hügel hochgekommen, wurde Rast gemacht. Ich lief durch eine kleine Öffnung zum Feld, und da sah ich ihn liegen! Er lag auf dem Rücken und war bestimmt auch kaputt. Er hatte ein Plakat auf dem Gesicht – scheinbar als Schatten, und ich sagte ihm, wer ich bin. Ich habe aber leise gesprochen. Dann hob ich ganz sachte das Plakat ein bissel und bin so erschrocken. Das war das erste Mal, daß ich richtig Angst gekriegt habe, denn der Soldat hatte ein rotes Loch direkt zwischen den Augen. Muttl kam angerannt und dann die Frauen, und dann gab’s Geschrei: Diese schamlosen Schweine, diese furchtbaren Feiglinge! Auf dem Plakat stand (das wusste ich damals aber nicht), daß er ein Feigling sei, der sein Vaterland verraten hat. Ich musste ein ganzes Stück weggehen und konnte nur von Weitem zugucken, wie die Frauen unter Tränen ein kleines Grab gruben. Es war eine kleine Schaufel mit einem langen Stiel, und die Frauen wechselten sich dauernd ab, als sie fieberhaft gruben. Annelies berichtete mir später, daß es kein tiefes Grab war, und sie mussten den armen Kerl mit Reisig bedecken und ein Kreuz drauflegen. Sie sahen so verbissen aus, als es weiterging. Sie beklagten, daß irgendwo in der Heimat jemand auf Nachricht von Sohn, Geliebten oder Bruder wartete. Das vergisst man oft mit dem Krieg: Wenn ein Soldat stirbt, wie viele Leute da betroffen werden und leiden oder vergeblich hoffen. Dann stelle man sich vor, wie viele millionenmal das passiert ist, wenn ganze Nationen leiden. Während ich das schreibe, sind wieder australische Soldaten am Sterben in Afghanistan oder Irak. Genau derselbe Blödsinn, dieselben Lügen von schamlosen, feigen Politikern, die da krähen, daß wir das so machen müssen, d. h. den Amerikanern gehorsam hinterhermarschieren. Wie treffend Pete Seegers Lied doch ist, das Marlene Dietrich sang: Where have all the flowers gone …? When will they ever learn, when will they ever learn? Wir lernen es nie! Es gibt so viele intelligente Menschen auf Erden, aber Menschenmassen sind zu oft dümmer als Schafe. Der andere Verkehr ist immer weniger geworden, wir waren beinah allein auf der Strasse. Bedeutet das, daß die Russen ziemlich dicht hinter uns sind? Paarmal, wenn’s bergauf ging und Soldaten fuhren vorbei, haben die angehalten und mitgeschoben und ermunterten uns, daß wir es gut schaffen werden, aber dann fuhren sie schnell wieder weiter. Manchmal klang es, als wenn das Gedonnere von Geschützen näherkam. Ich weiß nicht mehr, wie es in der ersten Nacht war, aber vor der zweiten Nacht, da fiel es den Frauen ein, daß sie überhaupt kein Licht hatten, keine Taschenlampen, keine Öllampe. Ich weiß gar nicht, ob wir überhaupt Streichhölzer gehabt haben, und die Frauen waren total aufgeregt darüber, bis eine anfing zu lachen über unsere Dummheit, und dann lachten alle mit, und ich fand das komisch. Nun folgten rege Diskussionen, was nun zu tun sei. Frau Zeunert sagte lachend, daß unser lieber Gott es so gewollt hatte, damit wir kein Licht von uns geben für den Fall, daß die Russen kommen. Sobald das Wort „Russen“ aufkam, ging die Debatte wieder los, wie man sich zu verhalten habe, wenn die rote Horde uns schnappt. Das Wort Vergewaltigung kam immer wieder vor, und dann wurde von Mord und Qualen gemurmelt, wie wir es von anderen Flüchtlingen gehört hatten. Renate hatte mal versucht, mir Vergewaltigung zu erklären, aber ich verstand es nicht, und irgendwie kam es mir so vor, als wenn sie es auch nicht so richtig verstand. Immer wieder wurde gebeten, dass wir es zu Mittelsteine schaffen und auch alle zusammen auf einen Zug kommen. Eine Frau meinte, das Züge aber auch beschossen wurden. Frau Kilian schlug vor, ob wir nicht doch paar Gewehre vom Strassengraben mitnehmen sollten, aber sie wurde ausgelacht. Mir tat die Frau leid, denn ihr Vorschlag war doch praktisch. Frau Hof fügte aber hinzu, daß es vielleicht doch besser wäre, bewaffnet zu sein: Dann würden wir von den Russen erschossen, was doch besser wäre als Vergewaltigung von diesen Unmenschen. Keiner antwortete. Manchmal kamen mir Bedenken, daß wir vielleicht doch lieber hätten zu Hause bleiben sollen auf meinem Lindenbaum. Flüchtlinge erzählten, daß die Russen unheimliche Angst hatten vor Pocken und anderen Krankheiten, und deshalb sollten Frauen sich gräßlich bemalen, das würde die Russen abschrecken. Plötzlich sahen wir ein Licht zwischen den Bäumen und hielten darauf zu. Es war ein Bauernhof. Daß der Bauer Licht angelassen hatte, erstaunte uns, wo doch alles verdunkelt bleiben sollte. Der Mann und seine Frau waren sehr freundlich. Seine Mutter saß in einem Rollstuhl. Die guten Leute haben es uns ganz komfortabel gemacht in der Scheune. Der Bauer erzählte uns, daß wir großes Glück gehabt hatten, denn sein Außenlicht war nur aus Versehen kurz angemacht worden. Das Stroh – ach, das weiß ich noch genau – war absolute klasse. Es roch himmlisch, und sofort trugen mich die Englein fort. Mann, was haben wir gefuttert beim Frühstück, und einige Mädel haben laut weinend gebettelt, daß wir hierbleiben sollten. Der gute Bauer bot uns sogar eine Kuh an, die wir einspannen könnten, aber das liebe Tier war nicht zu überreden, sich einspannen zu lassen, und so zogen wir wieder los im alten Stil. Bis zur Strasse half uns der gute Mann noch, und dann ging’s weiter. Manchmal sagten die Frauen auch: „Stellt euch mal vor, was wir jetzt durchmachen, das haben die anderen Leute, wo unsere Wehrmacht eingezogen ist, bestimmt auch erlitten, egal ob das nun in Polen, Russland, Ungarn oder in der Tschechei war. Und diese armen Menschen haben genau so Angst gehabt vor unseren Soldaten.“ Das war uns vorher nie in den Sinn gekommen. Man dachte immer, daß Soldaten nur gegen Soldaten kämpfen, aber daß die Bevölkerung dauernd dazwischen war, hatten wir kaum bedacht. Was oft Stress verursachte waren die ‘Mutti-ich-muss-mal-Pausen’, wenn die erklangen kurz nachdem wir eben losfuhren. Da wurde gestöhnt. Ich war ganz stolz, dass ich mein ‘Geschäftchen’ alleine ausführen konnte. Muttl hatte mir sorgfältig gezeigt wie man Klopapier sorgsam faltet und hantiert.Händewaschen wurde mit nassen Grass erledigt wenn kein Bach da war. Am ersten Tag hatten wir oft paar Lieder gesungen, aber dieses Mal, als eine Frau das Schlesierlied anhub, kam sie nicht weit, weil die Stimmen versagten. Immer wieder das Grollen der fernen Geschütze, aber es schien nicht näherzukommen, Gott sei Dank. Flieger haben wir auch oft gehört, aber die waren viel höher, und man wusste nicht, welche es waren, unsere oder feindliche. Ich weiß nicht, wie weit wir von Mittelsteine waren, als auf einmal wieder ein Jeep anhielt mit drei Offizieren und einem Fahrer. Die Offiziere sprangen raus und sprachen mit den Frauen, und ich ging zum Fahrer, der ganz freundlich war, und so erzählte ich ihm gleich, daß Vatl bei den Panzern kämpft in Russland und ob er ihn vielleicht kenne, aber da hat er laut gelacht; versicherte mir aber, daß unsere Panzer sehr tapfer kämpfen im Feindesland. Ich zeigte ihm Vatls Käppi, welches ich in meiner Hosentasche hatte, weil ich schwitzte. Da hat der noch mehr gelacht und sagte, daß ich bald groß genug bin mitzukämpfen. Darauf erklärte ich dem guten Mann, daß Muttl das nie erlauben würde, weil ich ja nun der Mann für meine Mädels bin, und das hat er auch eingesehen. Inzwischen hatte einer von den Offizieren, der Jüngste von ihnen, den Befehl gegeben, unseren Wagen hinter den Jeep zu binden. Später erfuhr ich, daß die anderen zwei davon nicht begeistert waren, sie gehorchten aber. Einer war offenbar ganz mürrisch darüber. Und wieder konnten vier von uns Kindern mit im Jeep hocken. Manche Mädels hatten Angst davor und wollten mit Mutter bleiben. Der junge Offizier sprach Hochdeutsch und sagte uns, daß seine Familie oben in Preußen ist und sich vielleicht in derselben Lage befindet wie wir, und er hofft, dass denen auch jemand zu Hilfe kommt. Renate erzählte mir später, daß eine Frau ihnen Angst machte, indem sie es für möglich hielt, daß wir in den Wald gefahren wurden, vielleicht zum Erschießen, und daß deshalb die anderen zwei Offiziere nicht begeistert waren. Schließlich trugen alle drei Offiziere das SS-Zeichen am Kragen. Kein Wunder, daß die Frauen, auf unserem Wagen sitzend, nicht gerade erleichtert aussahen. Das hat mir Muttl viel später erzählt, und sie hielt das damals schon für übernervösen Unsinn. Sie gab aber zu, daß sie doch immer bissel ängstlich in Fahrtrichtung geguckt hat. Wir Kinder haben aber jubelnd hinten im Jeep gehockt. Was für ein Gefühl, andere Leute mit lautem Hupen zu überholen. An Gegenverkehr kann ich mich dabei gar nicht mehr erinnern. Wir Kinder haben geschrien vor Freude, als wir scheinbar am Ziel waren, obwohl von einer großen Stadt nichts zu sehen war. Unsere lieben Retter haben uns sofort abgebunden und wollten schnell losziehen, aber die Frauen umarmten und drückten sie. Dem jungen Offizier kamen die Tränen, und schon sprangen sie in ihr Fahrzeug und drehten um, was sehr langsam ging, denn der Platz wimmelte von Menschen und Fahrzeugen, und weg waren sie. Die Frauen haben lange gewunken und geweint. Wir waren da! Eine Frau meinte, daß das gar keine SS-Männer gewesen wären, denn die hatten doch normalfarbige Uniformen an, nicht die schwarzen der SS, aber darauf wusste keiner zu antworten. Meine Mädels meinten, daß die Jeep-Fahrt 11 km war, und ob wir das vor Sonnenuntergang geschafft hätten, war sehr fraglich. Die Frauen sind sofort losgerannt, und wir Kinder mussten auf ernsten Befehl hin bei unserem „Geschoss“ verharren und ja nicht einen Meter weggehen. Da war ein Mann, der, durch die Massen marschierend, lauter Befehle brüllte. Er trug ein rotes Armband und rief oft „Heil Hitler“. Es war der Schulmeister. Wir waren nämlich vor einem großen roten Gebäude, die Regionalschule. Aber warum eine große Schule in einer freien Gegend? Von der Stadt habe ich, glaube ich, nichts gesehen. Jetzt merkten wir Kinder auf einmal, wie müde wir alle waren, und nach einer Weile lagen wir auf unseren Gepäck, und ich war wohl der Erste, der einschlief. Muttl schüttelte mich wach und hob mich runter, denn wir mussten in die Schule gehen. Mich umarmend sagte sie, daß wir jetzt zum dritten Stockwerk steigen müssen, denn da haben wir einen Platz bekommen. Renate und ich mussten auch bissel Gepäck tragen, und Annelies blieb bei unserem Wagen auf Wache. Beim Treppensteigen weinten manche der Mädels vor Müdigkeit. Endlich kamen wir in einen großen Raum, wo schon allerhand Leute auf drei Reihen von Stroh saßen oder lagen. Muttel führte uns in eine Ecke, wo wir unser Gepäck unter dem letzten Fenster hinlegten. Renate und ich sollten uns niederlassen, und Muttl ging wieder runter zu Annelies wegen des Rests unserer Habseligkeiten. Muttl und Annelies waren total fertig, als endlich alles Gepäck in der Ecke gestapelt war. Dann lagen wir alle darauf und aalten uns, und auf einmal weinte Muttl. Sie war total fertig. Wir müssen alle geschlafen haben, denn ich träumte von der Landstrasse, als plötzlich Befehle über einen Lautsprecher kamen, daß alle Erwachsenen runterkommen müssen. Wir waren bestimmt nicht die Einzigen, die eingenickt waren, denn es gab ein lautes Stöhnen und Strecken. Renate und ich mussten beim Gepäck bleiben, und es tat uns so leid, Muttl und Annelies lostaumeln zu sehen. Es stellte sich heraus, daß der Schulkeller ein Waffenarsenal war, und alles sollte herausgetragen und ins Feld geschmissen werden. Es wurden zwei lange Schlangen gebildet, durch die dann Waffen und Munition von Hand zu Hand rausgefördert wurden bis weit ins Feld hinein. Wir konnten das alles von unserem Fenster aus sehen. Der Schulmeister rannte hin und her und gab laufend Anweisungen. Sogar wir Kinder verstanden diese mühsame Arbeit nicht, denn man konnte doch die Haufen von Waffen sowieso klar sehen. Später erzählte uns Annelies, was andere Flüchtlinge während dieser Arbeit alles berichteten. Grausamkeiten von Polen und Tschechen an deutschen Zivilisten, als die Wehrmacht weg war. Da wurden Frauen, Kindern und Greisen Augen ausgestochen und Kehlen durchgeschnitten. Mann, was fühlten wir uns da immer glücklich, und wir hatten das alles dem lieben Gott zu verdanken. Wenn Renate fragte, warum die armen Leute nicht gebetet haben zum lieben Gott, hatte Muttle keine Antwort. Ich dachte, dass der liebe Gott die Leute vielleicht nicht verstehen konnte, weil die eben doch ein komisches Deutsch sprachen. Die Sonne ging schon unter am hellroten Horizont als Muttl und Annelies endlich hochkamen. Annelies sagte, dass ihr alle Knochen wehtaten, und beide ließen sich schwer seufzend niederfallen. Meine große Schwester stöhnte, daß sie nicht mehr weiterkonnte, komme da, was wolle, und dann weinte sie. Mensch, das tat mir so leid. In solchen Situationen fühlte ich mich immer so nutzlos. Ich hatte Hunger, aber wie immer sagte Renate leise, daß ich das nicht laut sagen sollte, denn das täte Muttl so weh. Wir hatten ja noch Proviant in zwei Beuteln, aber wir mussten abwarten. Obwohl nun fast alle Familien müde auf ihrem Platz lagen, gingen doch lauter Gespräche hin und her durch den Saal, und die liegenden Frauen sprachen laut zur Decke hoch. Es war wirklich interessant zuzuhören, bis auf einmal eine Frau laut fragte, ob jemand Kanonendonner gehört hat den ganzen Tag. Totenstille! Eine Frau hoffte, daß die Russen vielleicht an Mittelsteine vorbei sind auf dem Weg nach Berlin oder sonst wohin. Oder war der Krieg vielleicht doch schon zu Ende? Plötzlich rochen wir Essen! Meine Renate war die Erste, die das erschnupperte. Und wieder krachte der Lautsprecher: Es gibt genug Essen und die Leute sollen etagenweise runterkommen, d. h. die Landsleute vom dritten Stock sollten zuerst runterkommen usw. Annelies ließ sich nicht überreden aufzustehen, sie drehte sich um und schlief weiter. Jeder hatte sein kleines Töpfel oder eine Pfanne oder was auch immer wir hatten und sind dann mit eifriger Erwartung runtergegangen. Da gab’s ein arges Gedränge, wenn Leute von den unteren Stockwerken reindrängeln wollten vor Hunger. Das tat einem so leid, aber immer wieder sagte der Lautsprecher, daß ja garantiert genug Essen für jedermann da war. Im Hof standen zwei Kessel Gulaschkanonen mit Suppe, wo sogar Fleisch drin war. Mann, haben wir uns gefreut, und jeder bekam eine Kelle voll. Man durfte nicht für eine andere Person mitnehmen, d. h. jeder musste sein sein eigenes Gefäß haben. An einer langen Tafel standen zwei Fässer mit heißen Kartoffeln, und jeder bekam eine. Herrlich. Wieder oben angelangt, kippten wir das alles in unseren großen Topf, woraus wir löffelten. Aber erst mussten wir warten, bis Muttl Annelies geweckt hat, und die musste erst zum Abort, und dann ging’s Löffeln los. Muttl hatte einen runden Laib Brot aus einem Sack und bröckelte den in den Topf, und dann ging’s los. Immer wieder ermahnte uns Muttl, ja schön langsam zu essen, denn das sättigte mehr, aber dem Rat zu folgen war überhaupt nicht leicht. Mann, hat das geschmeckt, und ich bilde mir ein, daß ich das heute noch schnuppern kann. Jetzt konnte ich mich auch mit anderen Kindern unterhalten, und die hatten Geschichten zu erzählen, was denen passiert war auf ihrer Flucht. Da musste ich natürlich auch mithalten und hab erzählt, daß mein Vatl mit seinem Panzer schon in Moskau war und daß der Krieg bald zu Ende ist. Hab auch gleich mein Käppi aufgesetzt, damit ich bissel ernst genommen wurde, aber doch merkte ich, daß ich meinen Zuschauern nicht groß imponierte. Schade, daß ich denen nicht das Bild zeigen konnte, wo mein Vatl an ’nem Strassenschild steht, auf dem stand: 100 km bis Moskau, denn das war ja verpackt. Vom offenen Fenster hörten wir eine Zugpfeife, und wie haben wir uns da wahnsinnig gefreut, daß wir vielleicht morgen schon losdampfen konnten nach Dresden, Frankfurt oder Bayern, denn diese klassischen Namen hatten wir schon dauernd von Leuten gehört. Die Frauen haben oft über den Schulmeister gespottet mit seiner emsigen Waffenzerstreuung aus dem Keller und seinem „Heil Hitler“. Nun gingen wir gemeinsam zur Toilette auf unserem Flur, wo eine ganze Reihe Klos und Waschbecken waren, und da haben wir uns so herrlich geschrubbt. Aber man musste sich beeilen, denn es warteten viele darauf, auch dranzukommen. Zurück in unserer Ecke, war ich bestimmt wieder der Erste, der ins Traumland schwebte. Wie oft haben mir später meine Mädels erzählt, daß ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit hinlegen und schlafen konnte. Ich hörte aber noch eine Frau sagen, daß wir Gott danken sollen, daß der vernarrte Schulmeister uns nicht bewaffnet hat, um uns gegen die Russen zu verteidigen.