Читать книгу Chiemseejazz - Heinz von Wilk - Страница 5
ОглавлениеAtzdorf, Freitag im September.
Er ist wieder da, hab ich gehört, und dann bin ich ein paar Tage später rübergefahren zu ihm. Schmaler ist er geworden in den Jahren, die er weg war.
Er hat jetzt eine Kneipe in Atzdorf, das ist in der Nähe von Prien, und man sieht auf den Chiemsee von da. Man sieht die Inseln, die Boote, die Berge, die verschiedenen Farben des Wassers. Und man spürt den Frieden tief in sich selber, den dieses Bild auslöst. Aber es wird lange dauern, bis der blaue Himmel wieder so blau wird und der tiefgrüne See wieder so grün wie er ihn kennt, sagt er.
Seine Kneipe heißt „Endstation“. Weil‘s für ihn die Endstation sein soll.
Nichts großes, ein halbes Dutzend Tische und eine Theke mit vielleicht zehn Sitzplätzen. Das übersichtliche Speisenangebot hat er mit Lippenstift oder sowas auf einen quadratmetergroßen Spiegel geschrieben. Der hängt neben dem Kachelofen, bei der Küchentüre.
„Gibt jeden Tag was anderes, geht nach Laune und Frischeinkauf und Alkoholpegel“, sagt er.
Gekocht hat er schon immer gerne. Sachen, die man sonst nicht so auf den Teller kriegt: verrückte Pilzpestos oder Hecht in Rotwein mit Büffelmozzarella oder Kartoffelgyros mit gerösteten Fleischpflanzerlstücken. Verrücktes Zeug eben, genauso verrückt wie er schon immer gewesen ist.
Dann ist da noch seine Bedienung, die einarmige Nellie. Bürgerlich: Anneliese Eutermoser. Sie ist natürlich nicht einarmig, sondern weigert sich nur, mit der linken Hand was Schwereres als ihren Gin-Tonic zu tragen. Hat sie dem Stocker beim Einstellungsgespräch aber ausdrücklich gesagt.
Darauf er: „Ja, okay, aber wer abends trinkt, kann morgens auch arbeiten, oder?“
Sagt sie: „So ein Schmarrn, wer abends vögelt, kann morgens auch nicht fliegen, oder?“
Der Primelmeier war da auch im Lokal, wegen der Heizung, glaub ich. Der hat sich krummgelacht und dann zur Nellie gesagt: „Stört‘s dich, wenn ich rauch?“
„Bei dir tät mich nicht mal stören, wenn du brennst“, sagt die Nellie.
„Lass ihn“, sagt der Stocker, “der Primelmeier ist schon gestraft genug, der ist Legastheniker”.
„Kenn ich“, meint die Nellie, „der verträgt nix Süßes, der arme Hund.“
Die hat‘s drauf, hat sich der Stocker gedacht, und seit dem Tag ist die Nellie ein Teil der „Endstation“. Muss im September letztes Jahr gewesen sein. Hinten, am alten Holztisch neben der Theke, da hat er mir dann ein paar Tage später seine Geschichten erzählt. Von der durchgeknallten galizischen Motorradgang, den „Los Muertes“, die ihn da unten in Südspanien beinahe alle gemacht hätte. Und wie er dann von ein paar reinrassigen Irren von der Manchester-Mafia rausgehauen wurde. Dafür hat er den Jungs später in Bernau am Chiemsee einen Gefallen tun müssen und ist so nebenbei zum „freiwilligen” Mitarbeiter vom bayrischen LKA aufgestiegen. Ehrenamtlich, natürlich.
Aber erst einmal alles auf Anfang:
Der Stocker hat sich ja schon immer als Frauenversteher gesehen. Das haben auch alle verstanden, außer den Frauen vielleicht. Er war ständig auf der Suche nach DER FRAU. Ich erinnere mich, dass er in seiner Rosenheimer Zeit sogar mal kurz Ballettunterricht genommen hatte. Lange her, da war er um die zwanzig, fünfundzwanzig. „Genau da sind sie“, hatte er mir gesagt, „im Tanzstudio. Frauen, Mädchen, was du willst. Wie die Goldfische im Aquarium. Und du, du bist der Hecht im Karpfenteich.”
Hat sich auch gut angelassen, weil die Mädels dort gedacht haben, der ist sowieso schwul. Dafür sorgte zum Teil schon sein Name: Albin Maria Stocker. Nett ausgesehen hat er auch. Also: gut Freund, keine Gefahr. Außer einem bösen Muskelkater und ein paar ziemlich männerfeindlichen Sprüchen hat ihm das Ballettabenteuer nach seinem Hetero-Outing aber rein gar nichts gebracht, denn tanzen, das konnte er vorher ja auch nicht.
Mit seiner damaligen Flamme, der Rosi, ging der Stocker dann in den 80ern nach Spanien. Sie, die Rosi, war eine meist übelgelaunte, aber gutgebaute Friseuse mit Hang zum Dauerbräunen. Und der Stocker, der hat gehört, da unten, in Spanien, da liegt das Geld auf der Straße. So sind sie losgefahren. In einem alten Chrysler-Van. Mit ein paar Klamotten, etwas Kleinzeug und Hirni, einem schizoiden, weißbrotsüchtigen Riesenschnauzer.
Bis nach Orba del Sur, genau genommen, sind sie gekommen. Netter Fleck, verschlafenes Nest, direkt am Meer. Um die fünftausend Einwohner. Attraktionen: Fischereihafen und die stinkende Fähre nach Mallorca rüber, jeden Abend um sieben. Im Örtchen: überwiegend kleine Küstenspanier, die aber fast alle auf Plateausohlen unterwegs waren, um dem Himmel näher zu sein. Trotzdem, wenn‘s ausnahmsweise wirklich mal geregnet hat, waren die die letzten, die davon erfahren haben. Die Frauen in Orba del Sur trugen fast alle lange, streng nach hinten gekämmte schwarze Haare. Haben den Pferden, denen sie sicherlich mal gehörten, gut gestanden, denke ich.
Der Costa-Blanca-Bauboom war damals, 1985 oder so, voll am Blühen. Mit Hausbau und Hausverkauf, speziell an frisch geschiedene Germanen oder ältliche Unternehmer mit Zweitfrau (gerne auch aus dem Osten) lief er auf Hochtouren.
Aber langsam. Der Stocker war also im Begriff, sich was aufzubauen. Gewohnt haben sie damals noch zur Miete in einer alten Finca. Nicht, dass sie arm waren - sie waren nur nicht reich. Sein allererster Kontakt war sein Nachbar John, Joe Dogs, genau gesagt. Ein Ex-Buchmacher aus Manchester. Und einer der Bosse der örtlichen Manchester-Mafia. Das wusste der Stocker damals aber noch nicht.
Der John hatte die Finca zum Berg hin, einen knappen Kilometer hinterm Stocker-Haus. Begegnet sind sich die beiden beim Hunde-Gassigehen.
Der Stocker mit Riesenschnauzer Hirni, der sich immer noch gewundert hat, dass es hier so heiß ist, dass die Bäume den Hunden nachlaufen. Und von der anderen Seite der John, zwei Meter lang, 120 Kilo Kampfgewicht. Mit einem selbstglühenden Dauersonnenbrand, somit weithin als Engländer erkennbar. An der Leine einen sichtlich größenwahnsinnigen Mops. Der Hirni hat den Mops angepisst, und der Stocker hat den John und seine Frau zum Essen eingeladen. Reiner Überlebensinstinkt, sozusagen.
Die Rosi, die konnte Johns Frau (nette blonde Mittelengländerin, war wohl mal Miss Brighton oder so) vom ersten Moment an nicht leiden. War John und dem Stocker aber egal. Den Hunden auch: Der Hirni lag in der Ecke mit einem Weißbrot, und der Churchill, der Mops hatte inzwischen den Abfalleimer in der Küche gerammelt. Mit Hingabe und Zunge raus. Der Stocker, dem das sichtlich unangenehm war, tat sein Bestes, um die Oldhams mit seiner Kocherei zu beindrucken. Und ich glaub, dieses Essen hatte ihm den Weg in die Manchester-Mafia geebnet: