Читать книгу Medienrezeptionsforschung - Helena Bilandzic - Страница 7

Оглавление

1 Einführung

Lernziele

1 Sie lernen die in der Medienrezeptionsforschung untersuchten Phänomene (Verarbeitung und Erleben) kennen.

2 Sie können die Medienrezeptionsforschung in der Kommunikationswissenschaft verorten und von anderen Traditionen der Forschung zu den Medienrezipierenden unterscheiden.

3 Sie verstehen die Charakteristika der Auseinandersetzung mit einer Medienbotschaft (subjektive Interpretation, Zeit, Intensität und Beschaffenheit).

1.1 Medienrezeptionsforschung als Feld

1.1.1 Reichweite der Medienrezeptionsforschung

Es ist schwer, sich unsere heutige Welt ohne Medien vorzustellen: Das Angebot an traditionellen Massenmedien wie Fernsehen, Hörfunk und Zeitungen ist ungeheuer vielfältig; das Internet sorgt dafür, dass Inhalte aus diesen traditionellen Massenmedien sowie von den Usern generierter Inhalt überall und jederzeit verfügbar sind. Die Medienrezeptionsforschung widmet sich der Frage, wie diese Medien und Medieninhalte von Menschen verarbeitet und erlebt werden.

Definition: Medienrezeptionsforschung

Die Medienrezeptionsforschung untersucht Verarbeitung und Erleben von Medien und medienvermittelten Inhalten.

Die folgenden Fragestellungen sind typisch für die Rezeptionsforschung:

 Was verstehen Zuschauerinnen und Zuschauer von einer durchschnittlichen Sendung der Tageschau?

 Wann denken Zuschauerinnen und Zuschauer, dass Sendungen wie CSI der Realität entsprechen?

 Warum haben Leserinnen und Leser Mitleid mit Harry Potter, der doch eindeutig nicht wirklich existiert?

 Warum fühlen sich manche Menschen von Germany’s Next Top Model unterhalten, andere nicht?

 Warum trauern Menschen, wenn eine beliebte Serienfigur in einer Serie stirbt?

 Lesen Eltern Zeitungsartikel zur frühkindlichen Bildung anders als Nicht-Eltern?

 Warum mögen nicht alle Männer Sportberichterstattung und warum nicht alle Frauen romantische Komödien?

Derartige Fragestellungen kann man mit den zwei Prozessen, die wir oben bereits genannt haben, beschreiben: Verarbeitung und Erleben beziehen sich auf die kognitive, emotionale und verhaltensbezogene Aktivität von Rezipierenden, die auf einen bestimmten Medientext gerichtet ist.

Definition: Medientext

Medientext wird hier umfassend gebraucht als medialer Inhalt mit seinen spezifischen formalen Merkmalen (etwa Fettdruck oder grafische Elemente in der Zeitung, Schnittfolge oder Animationen im Fernsehen), unabhängig davon, ob es sich um eine textliche, visuelle, auditive oder audio-visuelle Vorlage handelt.

Definition: Rezipient und Rezipientin/Rezipierende

Rezipierende sind Personen, die aktuell einen Medientext verarbeiten, und ihn auf eine bestimmte Weise erleben.

Verarbeitung bezeichnet die mentalen Vorgänge, die im Menschen ablaufen, wenn er oder sie sich einem Medientext widmet. Hier spielen Aufmerksamkeit, bestehendes Wissen, die interpretative Transformation und Speicherung medial vermittelter Informationen eine Rolle. Diese Fragen werden in Kapitel 2, Verarbeitung von Medieninhalten, behandelt und werden auch in den Kapiteln zum Erleben (s. u.) immer wieder thematisiert.

Erleben beschreibt die Art und Weise, wie ein Medientext empfunden und interpretiert wird und welche Erlebnisse er den Rezipierenden ermöglicht. Dies ist der größte Bereich der Rezeptionsforschung und umfasst die meisten Kapitel in unserem Buch. In diesem Bereich besprechen wir,

 wann Rezipierende Verbindungen zwischen sich und dem Medientext herstellen können (Kapitel 5: Involvement, Resonanz und Selbstreferenzierung),

 wie Medientexte Emotionen ansprechen (Kapitel 6: Emotion und Stimmung),

 wie Rezipierende sich in Medientexte vertiefen und die Vermittlung durch ein Medium ausblenden (Kapitel 7: Narratives Erleben und Präsenz),

 wie Rezipierende Medienfiguren erleben (Kapitel 8: Wahrnehmung von Medienfiguren),

 unter welchen Umständen Medientexte als realistisch empfunden werden, sogar dann, wenn sie fiktional sind (Kapitel 9: Realitätsbezug und empfundener Realismus),

 wie das Gefühl der Unterhaltung zustande kommt (Kapitel 10: Unterhaltung und Rezeptionsvergnügen),

 wie Menschen Medientexte verarbeiten, die sie von einer bestimmten Meinung überzeugen oder zu einem bestimmten Verhalten bewegen wollen (Kapitel 11: Verarbeitung persuasiver Kommunikation), und

 wie soziale Dimensionen der Medienrezeption aussehen können (Kapitel 12: Soziale Dimensionen der Medienrezeption).

Dem Verarbeiten und Erleben ist die Auswahl dessen vorgelagert, was rezipiert werden soll. Selektion bezeichnet die Auswahl eines Mediums oder einer Medienbotschaft. Ein Mensch kann etwa zwischen den verschiedenen Medientypen Fernsehen, Hörfunk, Zeitung und Internet auswählen; zwischen verschiedenen Medienprodukten (z. B. ARD und ZDF oder Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Allgemeine Zeitung), zwischen inhaltlichen Angeboten (in der Zeitung: Nachricht, Glosse, Kommentar; im Fernsehen: Nachricht, Film, Dokumentation) oder die Aufmerksamkeit auf verschiedene Informationen innerhalb eines konkreten Angebotes richten (vgl. Donsbach, 1989). Modelle, die Selektion und Gründe der Selektion darstellen, werden in Kapitel 3 (Selektivität und Gratifikationen) besprochen; Selektivität in digitalen, interaktiven, partizipativen Medienumgebungen wird auch Gegenstand von Kapitel 4 (Interaktivität) sein.

Der Schwerpunkt dieses Lehrbuches liegt auf den psychischen Prozessen und dem subjektiven Erleben von Individuen, die wir als Basis für weitergehende Prozesse der Wirkung betrachten; im individuellen Erleben manifestieren sich jedoch auch kulturelle Aspekte, und das Erleben ist umgekehrt ebenfalls von diesen beeinflusst. Was es bedeutet, Kultur als Faktor und Bedingung der Rezeption einzubeziehen, werden wir in Kapitel 13 (Kulturelle und interkulturelle Dimensionen der Medienrezeption) besprechen.

1.1.2 Verortung in der Kommunikationswissenschaft

Die Kommunikationswissenschaft gliedert sich klassisch nach den Elementen des Kommunikationsprozesses, die in einer eingängigen und vielzitierten Formulierung von Harold Lasswell (1948) zu finden sind: »who says what to whom in what channel with what effect«. Maletzke (1963, S. 35 f.) reduziert die Elemente auf folgende vier, die jeweils mit den großen Forschungsfeldern der Kommunikationswissenschaft verknüpft sind (vgl. Pürer, 2014, S. 109):

1 Der Bereich Sender untersucht Prozesse der Produktion und des Zustandekommens medialer Botschaften. Er findet sich in der Kommunikator- oder Journalismusforschung wieder (vgl. Maier, Stengel & Marschall, 2010; Neuberger & Kapern, 2013).

2 Der Bereich Inhalt verweist auf die Medieninhaltsforschung, die die Aussagen selbst sowie Muster darin betrachtet, etwa zu Gewalt, Nachrichten oder sozialen Rollen (vgl. Bonfadelli, 2002; Maurer & Reinemann, 2006).

3 Der Bereich Medium findet sich in Feldern wie etwa der Mediensystemforschung, Medienpolitik oder Medienökonomie wieder und untersucht Bedingungen, Struktur und Funktionsweisen von Mediensystemen (vgl. Beck, 2012; Puppis, 2010; Pürer & Raabe, 2007; Stöber, 2013).

4 Der Bereich Empfänger schließlich fragt danach, was Rezipierende oder das Publikum mit den Inhalten machen. Hier ist die Erforschung von Nutzung, Rezeption und Wirkung verortet. Dies müssen wir freilich etwas näher betrachten, wollen wir Rezeption als Phänomen und als Forschungsgebiet von den anderen Optionen im Bereich Empfänger abgrenzen.

Die Erforschung der Mediennutzung erfolgt zum einen theoretisch fundiert als Grundlagenforschung und zum anderen in einem angewandten, größtenteils kommerziellen Kontext. Mit einem Grundlageninteresse betrachtet man theoriegeleitet Nutzungsmuster von Rezipierenden, etwa ihre Medienrepertoires, crossmediale Nutzung, mobile Nutzung oder simultane und aufeinander bezogene Nutzung (in etwa abgedeckt von der strukturellen Perspektive bei Schweiger, 2007, S. 222 ff.). Zur Nutzungsforschung gehört auch die Einbindung von Medien in den Alltag, etwa in der Domestizierungsforschung (vgl. Hartmann, 2013; Röser & Peil, 2012) oder die Erforschung von Mediengewohnheiten (vgl. Naab, 2013).

Die Media- und Reichweitenforschung ist ein angewandtes Forschungsgebiet, das Daten zur Mediennutzung zum Zwecke der Planung und Vermarktung von Werbezeiten und -raum bereitstellt (Reichweitenforschung) und der Entwicklung und Optimierung von Medienprodukten dient (Mediaforschung) (vgl. Schweiger, 2007, S. 36 f.). Das Gebiet liefert wertvolle Basisdaten auch für die akademische Forschung (vgl. Frey-Vor, Siegert & Stiehler, 2008; dazu auch Meyen, 2004).

Die Wirkungsforschung erklärt individuelle und soziale Folgen von Massenkommunikation, z. B. Wissenszuwachs, Veränderung von Einstellungen, Einfluss auf Werte und Normen sowie Verhaltensänderungen (vgl. Bonfadelli & Friemel, 2011; Bryant & Oliver, 2009; Schenk, 2007). Dieses Gebiet ist mit der Medienrezeptionsforschung, wie wir sie in diesem Buch vertreten, verwandt. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass Lehrbücher der Wirkungsforschung auch Kapitel zur Rezeption enthalten (vgl. Bonfadelli & Friemel, 2011; Schenk, 2007). Auch die wissenschaftliche Community fusioniert diese beiden Gebiete oft: Die Deutsche Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft hat eine Fachgruppe Rezeptions- und Wirkungsforschung, die International Communication Association hat eine Fachgruppe für Mass Communication, in der Rezeption und Wirkung (von Massenmedien) gleichermaßen vertreten sind. Schließlich ist auch inhaltlich die Abgrenzung schwierig, weil viele Wirkungstheorien explizit Prozesse der Rezeption zur Erklärung der Wirkung miteinbeziehen – es ist nachgerade Kennzeichen einer gereiften Wirkungsforschung, Rezeptionsprozesse zu berücksichtigen. Die Rezeptionsforschung hat sich im letzten Jahrzehnt jedoch als ein eigenständiges Forschungsgebiet herauskristallisiert, das sich nur den Phänomenen der Verarbeitung und des Erlebens widmet, ohne weitergehende Wirkungen zu betrachten. Dadurch wird ein Korpus von Wissen generiert, der mit einer Nebenbei-Betrachtung in der Wirkungsforschung nicht möglich wäre, aber durchaus wichtige Konsequenzen für diese beinhaltet.

Es mag merkwürdig anmuten, dass so viele Forschungsgebiete einer Disziplin um die Nutzung kreisen. Von außen betrachtet, ist der Akt der Nutzung immer gleich: Jemand sitzt zum Beispiel vor dem Fernseher und sieht Nachrichten. Das ist die Situation, die die Rezeptionsforschung, Nutzungsforschung, Mediaforschung und Wirkungsforschung gleichermaßen interessiert. Der Blickwinkel ist jedoch entscheidend, um die Zugehörigkeit zu einem Forschungsfeld zu bestimmen: Man kann etwa einfach nur feststellen, dass die ARD um 20 Uhr eingeschaltet ist (wie man es in der Reichweitenforschung macht); man kann beobachten, dass die Zuschauerin parallel zur Tagesschau ihre Facebook-Seite aktualisiert (Nutzungsforschung); man kann herausfinden, dass die Zuschauerin keinen Bezug von den außenpolitischen Themen zu sich selbst herstellen kann (Rezeptionsforschung); schließlich kann man untersuchen, wie viele Themen aus der Sendung sich die Zuschauerin gemerkt hat (Wirkungsforschung). Ein und derselbe Akt – und ganz unterschiedliche Blickwinkel darauf. Das ist die Eigenart der wissenschaftlichen Perspektive auf mediale Kommunikation: Hinter jeder Fragestellung steht eine bestimmte Perspektive, eine bestimmte Frage, ein Erkenntnisinteresse, das mit einem bestimmten Forschungsfeld assoziiert ist. Je nachdem, wie die wissenschaftliche Perspektive beschaffen ist, werden auch die Erkenntnis und die empirische Beobachtung anders ausfallen. Das erklärt, warum der Akt der Nutzung in den verschiedenen Feldern Mediaforschung, Nutzungsforschung und Rezeptionsforschung im Zentrum des Interesses steht – und doch nicht zu den gleichen Erkenntnissen führt.

Wie bereits dargestellt, liegen die Anfänge der Rezeptionsforschung noch nicht weit zurück. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich die Kommunikationswissenschaft als eigenständige Disziplin zu behaupten begann, gab es nur vereinzelte Studien, die sich (ausschließlich) mit Rezeption beschäftigten. Beispiele dafür lassen sich in der Forschung von Lazarsfeld und Herzog (vgl. Herzog, 1941; Lazarsfeld, 1940) zum Radio finden (vgl. Kasten »Die Studie«). Erst in den 1970ern rückten Rezeptionsphänomene stärker in den Fokus der kommunikationswissenschaftlichen Community, als sich die Uses-and-Gratifications-Forschung (vgl. Kapitel 2) mit ihrer zentralen Frage nach dem Nutzen der Medien für das Publikum etablierte. Diese Richtung wurde abwechselnd als Gegenrichtung zur Wirkungsforschung (Paradigmenwechsel) (vgl. Blumler, 1979; Katz, Blumler & Gurevitch, 1973) und als Teil davon behandelt (etwa in Lehrbüchern, vgl. Schenk, 2007), konnte aber noch kein eigenes Unterfeld der Rezeptionsforschung begründen. Dies änderte sich mit zwei Entwicklungen: Ab den 1980er- und 1990er-Jahren erstarkte die psychologisch orientierte Richtung innerhalb der Kommunikationswissenschaft, die sich mit dem Erleben von Medien (z. B. verkörpert durch Dolf Zillmann mit seiner Forschung zur Stimmungsregulierung und zur Spannung, vgl. Zillmann, 1980, 1988) und der Informationsverarbeitung (z. B. verkörpert durch Annie Lang und ihre Kollegen, vgl. Lang, 2000) befasste. Rezeptionsforschung hat dementsprechend große Überlappungsbereiche mit der Medienpsychologie, da beide Gebiete sich mit dem Erleben und der Verarbeitung auseinandersetzen; die Rezeptionsforschung hat jedoch durch ihre zahlreichen interdisziplinären Einflüsse, die auch für die Kommunikationswissenschaft insgesamt charakteristisch sind, eine breitere Ausrichtung. Die zweite Entwicklung war die kulturelle Wende in der Kommunikationswissenschaft, die eine kritische und kulturorientierte Forschungsrichtung hervorbrachte, die sich dezidiert gegen den Gedanken mechanistischer Medienwirkungen wandte und sich aus kultureller Sicht mit Nutzung und Rezeption beschäftigte (vgl. z. B. Hall, 2007, orig. 1973).

Beispielstudie

Herta Herzog (1941). On borrowed experience. An analysis of listening to daytime sketches. Zeitschrift für Sozialforschung (Studies in Philosophy and Social Science), 9, 65–95.

Verdienste: Herta Herzog arbeitete in einer Gruppe um Paul F. Lazarsfeld an einem Forschungsprogramm zum Radio in den USA, das Anfang des 20. Jahrhunderts seinen Aufschwung als Unterhaltungs- und Bildungsmedium nahm (vgl. Lazarsfeld, 1940). Das Forschungsprogramm beschäftigte sich insbesondere mit dem Radiopublikum – seinen Vorlieben und Gewohnheiten, seinem Umgang mit dem Medium und den Motivationen, Radio zu nutzen, sowie den Effekten, die Radioprogramme auf das Publikum haben. Herzogs Studie war eine der ersten, die sich den Motivationen widmete, die Menschen zur Nutzung populärer Medienprodukte veranlassen (neben der Studie von Lazarsfeld und Herzog zur erfolgreichen Radio-Rateshow Professor Quiz, vgl. Lazarsfeld, 1940, S. 64 ff.). Die Studie von Herzog wird als Vorläuferin der 20 Jahre später entstandenen Uses-and-Gratifications-Forschung gesehen.

Ziele: Die Studie erforscht die Bedeutung von Radio-Seifenopern für regelmäßige Hörerinnen und untersucht, welche Motive zur Nutzung sie haben, und wie sie das Gehörte mit ihrem Alltag verbinden.

Aufbau: 100 Frauen, die mindestens zwei Seifenopern regelmäßig verfolgen, wurden in einem persönlichen Interview befragt. Die Stichprobe wurde nach Alter und Einkommen variiert; die meisten waren Hausfrauen.

Methode: Die ersten 20 Interviews wurden offen geführt und dienten zur Entwicklung eines Fragebogens, mit dem die restlichen 80 Interviews dann durchgeführt wurden. Der Fragebogen deckte die Hörgewohnheiten, beliebte Themen und Sendungen ab, enthielt eine Motivliste für die Nutzung der Seifenopern und verglich die Beliebtheit von Radio im Vergleich zu Kino und Zeitschrift. Zudem wurde auch eine Reihe von Fragen zum Inhalt der Sendungen gestellt, etwa nach Ereignissen, die den Hörerinnen gut gefallen oder nicht gefallen haben, nach der Alltagsnähe und -relevanz. Neben den standardisierten Fragen konnten die Interviewer auch Kommentare der Befragten offen notieren.

Ergebnisse:

 Nur wenige Hörerinnen nutzen die Programme, weil sie nichts anderes zu tun hatten; vielmehr wird eine recht gezielte Nutzung deutlich, bei der die Frauen ihren Tagesablauf so gestalten, dass sie die Programme hören können.

 Die Sendungen werden mit dem eigenen Leben verknüpft und entsprechend der eigenen Erfahrungen und Lebenssituation interpretiert.

 Drei Arten von Gratifikationen, die die Hörerinnen für die Nutzung der Sendungen angeben, werden deutlich: 1. Die Sendungen bieten emotionale Erleichterung, indem sie ihren Hörerinnen eine Gelegenheit geben, Gefühle zu empfinden, die in ihrem Leben sonst keinen Platz haben, und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen (vgl. »chance to cry«, S. 70). 2. Uminterpretation des eigenen Lebens: Die Sendungen erlauben es, andere Schicksale stellvertretend zu erleben und somit die eigenen Probleme zu vergessen, glückliche (fiktionale) Momente auszukosten und empfundene Unzulänglichkeiten des eigenen Lebens zu kompensieren. 3. Lebenspraktische Hilfe: Die Sendungen bieten ihren Hörerinnen Erklärungen und Ratschläge für alltägliche Vorgänge und Phänomene an und können die Welt weniger bedrohlich erscheinen lassen.

1.2 Wichtige Begriffe

1.2.1 Kommunikation

Medienrezeptionsforschung setzt sich also mit der Verarbeitung und dem Erleben von Medien und medienvermittelten Inhalten auseinander. Die Rezeption ist in einen umfänglicheren Prozess der Kommunikation eingebunden – was aber ist Kommunikation?

Kommunikation ist nur in einem ganz technizistischen Sinne die Übertragung von Information (vgl. Sullivan, 2013, S. 3). Man kann durchaus erwarten, dass ein E-Mailprogramm alle eingespeisten Informationen vom Sender-Server zum Empfänger-Server überträgt. Bei Menschen, die auf der einen Seite Bedeutung in Botschaften packen und auf der anderen Seite Botschaften durch Bedeutung verstehen, kann man nicht von einer Übertragung sprechen: Es ist schließlich nicht gesagt, dass die intendierte Bedeutung auch wirklich beim Empfänger ankommt (in diesem Sinne also übertragen wird). Eine Sichtweise, die die Bedeutungen stärker in den Vordergrund stellt, ist hier angebrachter: Kommunikation wird als »Bedeutungsvermittlung zwischen Lebewesen« (Maletzke, 1963, S. 18, kursiv im Orig.) gesehen. Stöber identifiziert drei Randbedingungen für Kommunikation zwischen Menschen, die die bedeutungsorientierte Sichtweise gut illustrieren (vgl. Stöber, 2008, S. 45 f; ähnlich auch Pürer, 2014, S. 66 f.):

1 Kommunikation ist intentional, das heißt, sie ist ein sinnvolles, mit einem subjektiven Sinn ausgeführtes Handeln – es verfolgt also einen bestimmten Zweck;

2 Kommunikation ist reflexiv, also auf andere Menschen bezogen und ihre Reaktionen antizipierend;

3 Kommunikation ist vermittelt durch abstrakte Symbole, die auf Bedeutungskonventionen beruhen und in einer Sprachgemeinschaft gültigen Regeln folgen.

Die Kommunikationswissenschaft setzt sich – obwohl der Name es nahelegen würde – nicht mit allen Formen der Kommunikation auseinander. Es geht meist um eine medienvermittelte Kommunikation, die die oben genannten Randbedingungen auf charakteristische Weise einschränkt.

1.2.2 Medien

Wir sind so selbstverständlich von Medien umgeben und haben ihre Präsenz derart verinnerlicht, dass wir zu wissen scheinen, was der Begriff bedeutet. Was trivial erscheint, ist natürlich zu hinterfragen und verdient einen genauen und neugierigen Blick. Pürer (vgl. 2014, S. 68 f.) unterscheidet in Anlehnung an Harry Pross zwischen primären, sekundären und tertiären Medien:

 Primäre Medien umfassen die menschliche Sprache sowie nicht-sprachliche Mittel der Kommunikation, die vom Menschen ausgehen, etwa Mimik, Gestik und Körperhaltung. Primäre Medien vermitteln Bedeutung zwischen Menschen, die miteinander in direktem Kontakt stehen und keiner technischen Übermittlung bedürfen.

 Sekundäre Medien konservieren Bedeutung über den persönlichen Kontakt hinaus; sie erfordern eine technische Ausstattung auf Seiten des Kommunikators, nicht aber auf Seiten des Rezipienten – Schrift und Druck sind Beispiele dafür.

 Tertiäre Medien vermitteln Kommunikationsvorgänge, die sowohl beim Kommunikator als auch beim Rezipienten technischer Vermittlung bedürfen: Hierzu zählen elektronische und digitale Massenmedien, aber auch Mittel der Individualkommunikation wie etwa das Telefon oder E-Mail.

Die Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich vorwiegend mit den Prozessen, in die tertiäre Medien involviert sind – das schließt aber kommunikative Vermittlung durch Sprache und Schrift natürlich ein. Demnach sind auch in der Rezeptionsforschung vor allem die Prozesse relevant, die rund um das Rezipieren von Kommunikation erfolgen, welche durch tertiäre Medien vermittelt ist.

Damit zusammen hängt der Vermittlungsmodus (vgl. Stöber, 2008, S. 40): Ein One-to-One-Vermittlungsmodus entspricht der typischen Situation in der Face-to-Face-Kommunikation (dem Gespräch von Angesicht zu Angesicht) oder auch dem Telefonat. Der One-to-Many-Modus ist die typische Situation in der Massenkommunikation (unten mehr dazu), in der z. B. professionelle Kommunikatoren einen Inhalt für viele Menschen produzieren. Schließlich ist der Modus Many-to-Many der typische Fall der vernetzten, partizipativen Kommunikation, bei der viele Menschen zu einem Inhalt (z. B. einem Wiki-Eintrag) beitragen, der wiederum einem größeren Personenkreis zugänglich ist.

1.2.3 Massenkommunikation

Die klassische Massenkommunikation nimmt immer noch einen besonderen Stellenwert in der Kommunikationswissenschaft und der Rezeptionsforschung ein. Maletzke definiert Massenkommunikation als »jene Form der Kommunikation, bei der Aussagen öffentlich (also ohne begrenzte und personell definierte Empfängerschaft), durch technische Verbreitungsmittel (Medien), indirekt (also bei räumlicher oder zeitlicher oder raumzeitlicher Distanz zwischen den Kommunikationspartnern) und einseitig (also ohne Rollenwechsel zwischen Aussagendem und Aufnehmendem) an ein disperses Publikum […] vermittelt werden« (Maletzke, 1963, S. 32, kursiv im Orig.). Das disperse Publikum ist dabei eine interessante Konstruktion, die nötig wird, wenn man ein Publikum nicht über die physische Anwesenheit bei einem Ereignis definieren kann. Für Maletzke konstituiert sich das disperse Publikum durch die Zuwendung zu einem massenmedial vermittelten Inhalt. Wenn die Zuwendung beendet ist, ist auch das disperse Publikum nicht mehr existent. Insofern sind Publika »keine überdauernden sozialen Gebilde« (Maletzke, 1963, S. 28); ihre Mitglieder sind räumlich voneinander getrennt – mit Ausnahme von Individuen, die in einer natürlichen Gruppe Medien nutzen (Familie, Freunde) (ebd.).

Daran schließt sich die Frage an, was Publika eigentlich sind. Bei einem Präsenzpublikum ist es ganz einfach: Wer im Kinosaal oder im Theater während einer Aufführung sitzt, gehört zum Präsenzpublikum. Mit zunehmender räumlicher und zeitlicher Trennung und einer technischen Übertragung wird auch das Publikum weniger greifbar und abstrakter (vgl. Sullivan, 2013, S. 2 ff.). Daher spricht man vom Publikum als einer diskursiven Konstruktion (vgl. Bratich, 2005, S. 243), die empirisch, theoretisch oder politisch zustande kommt und keine greifbare Entsprechung in der Realität hat (vgl. Hartley, 1992, S. 105). Wie auch Maletzke betont, ist das Konzept des Publikums nicht als stabile Rolle zu verstehen, die jemand ständig innehat: Ein Mensch trägt sie nur in der spezifischen Mediensituation, nicht aber darüber hinaus; und nur unter der Bedingung, dass er oder sie sich einem Medium zuwendet – das Publikumskonzept ist demnach situativ und kontingent (vgl. Sullivan, 2013, S. 6; Bratich, 2005).

1.3 Neue Medienumgebungen, neue Rezeptionsweisen?

1.3.1 Veränderungen in der heutigen Medienlandschaft

Die technische Basis der heutigen Medienlandschaft ist die Digitalisierung, die Aufnahme, Übertragung und Wiedergabe von Text, Bildern und Tönen in einem digitalen Code (vgl. Sullivan, 2013, S. 216); neben einer Effizienz in der Speicherung und Übertragung hatte diese Entwicklung auch den Vorteil, bestimmte Informationsformate (z. B. Text, audiovisuelle Produkte) von der vormals fest damit verknüpften technischen Plattform zu entkoppeln (z. B. Zeitung, Fernsehen) und auf vielen verschiedenen Endgeräten zugänglich zu machen (z. B. Computer, Mobiltelefon, Tablet) (ebd.). In der gegenwärtigen Medienlandschaft verschwimmen die Grenzen zwischen den Medien aus diesem Grunde. Die Medien konvergieren, sie nähern sich an, weil Inhalte, die ursprünglich von verschiedenen Massenmedien bereitgestellt wurden, nun auf einem Endgerät wiedergegeben werden können (vgl. ausführlich zur Konvergenz: Dwyer, 2010; Nightingale & Dwyer, 2007). Zugleich ist Konvergenz nicht nur eine technische Vorgabe, sondern auch ein kultureller Prozess, den die Nutzer entscheidend mitprägen, wenn sie vernetzte Informationen ausschöpfen und andererseits auch selbst Inhalte produzieren und bereitstellen (vgl. Jenkins, 2006).

Computer und Mobiltelefon ermöglichen den Zugang zum Internet und damit auch den Zugang zu den dort angebotenen Varianten der traditionellen Massenmedien Fernsehen, Hörfunk und Zeitung. Beim Internet kann man noch einmal unterscheiden nach den verschiedenen Diensten (z. B. Onlinenachrichten, Blogs, Wikis, Computerspiele, soziale Netzwerke, Streams, Podcasts). Auch wird Inhalt zunehmend nicht nur für ein Massenmedium produziert, sondern crossmedial über verschiedene Medien (und Dienste) hinweg. Dadurch rücken die tatsächliche technische Plattform in den Hintergrund und die Inhalte, die Erlebensweisen und die Praktiken in den Vordergrund (d. h., das, was die Rezipienten tun, vgl. Konzept des Kommunikationsmodus, Hasebrink, 2004). Fernsehen wird beispielsweise immer noch über konventionelle Fernsehgeräte empfangen; immer mehr Nutzer sehen jedoch auch auf ihrem Computer fern, über eine TV-Karte oder nutzen gezielt Sendungen, die sie auf den Webseiten der Fernsehsender vorfinden. Fernsehen bedeutet dann nicht, dass man den Fernseher anschaltet, sondern dass man den Dienst Fernsehen in Anspruch nimmt, egal, ob über ein konventionelles Fernsehgerät, den Computer oder das Mobiltelefon.

Es wäre allerdings falsch zu sagen, dass das technische Medium keine Rolle mehr spielt. Die Tätigkeit (z. B. das Sehen eines Fernsehprogramms oder Lesen eines Nachrichtenartikels) mag im Kern über Medien hinweg die gleiche sein; die technischen Möglichkeiten jedoch erlauben auch andere Nutzungsweisen (z. B. erlaubt ein Digitalrecorder zeitversetztes Fernsehen) und andere Erlebensweisen (z. B. ermöglicht ein großer Bildschirm ein intensiveres Vertiefen in einen Film als ein Smartphone-Display). Umgekehrt regen auch veränderte Nutzungsweisen die Entstehung neuer Angebote und technischer Möglichkeiten an (z. B. richten viele Fernsehsender wegen der Beliebtheit sozialer Netzwerke Angebote für die eigenen Produkte ein).

Konvergenz hat auch zur Folge, dass sich die typische massenmediale Kommunikationssituation auflöst. Massenkommunikation und Individualkommunikation finden nun im gleichen Medium statt; die grundlegenden Akte des Konsums können deutlich stärker variieren als früher (vgl. Couldry, 2011, S. 219). Eine der Kernveränderungen, die die heutige Medienlandschaft erfahren hat, ist die unkomplizierte Möglichkeit für den nicht-professionell medienproduzierenden Menschen, eigene Inhalte ins Netz zu stellen und bestehende durch eigene Verknüpfungen zu vernetzen (vgl. Carpentier, 2011b; Engesser, 2013; Livingstone, 2012). Dies sorgt für eine Auflösung der traditionellen Rollen von Kommunikator und Rezipient, insbesondere durch die Aufhebung der Einseitigkeit und Linearität, die noch in Maletzkes (1963) Definition von Massenkommunikation zentral war. Die Implikationen für den Blick auf Information, Gemeinschaft und vor allem die Machtverhältnisse zwischen Laienproduzenten und professionellen Medienproduzenten, ja für Öffentlichkeit insgesamt, sind enorm – von der Audience Autonomy als Kontrolle der Nutzer über den eigenen Medienkonsum (vgl. Napoli, 2011, S. 8 ff.) bis hin zu einer neuen, stärkeren, von unten geformten Öffentlichkeit (vgl. Carpentier, 2011a; Dahlgren, 2011).

1.3.2 Publikum und Als-Publikum-Agieren

Die massenkommunikative Situation, in der viele Menschen mit den gleichen, zentral und professionell produzierten Inhalten erreicht werden können, wird also ergänzt von einer Situation, in der Inhalte dezentral produziert und unter Gleichgestellten verbreitet werden (vgl. Ridell, 2012, S. 19). Menschen können dabei zugleich Rezipienten und Produzenten sein. Dies hat dazu geführt, dass bisweilen das Publikum als tot proklamiert wurde (vgl. Bruns, 2008, S. 254), und andere Termini für Rollenbeschreibungen vorgeschlagen wurden, etwa Nutzer (user), oder Produser (als Wortneuschöpfung zwischen Producer und User, vgl. Bruns, 2008).

Die neue Terminologie hat jedoch auch ihre Schwächen: Livingstone (2012) legt dar, dass User im Gegensatz zu Publikum keinen Bezug mehr zur sinngenerierenden Tätigkeit des Publikums hat: Lesen, Sehen und Hören von Text und Bildern muss im Gebrauch durch den Rezipienten in der Bedeutung entschlüsselt werden. Nutzen hingegen kann man auch Waschmaschinen, Bohrer und Autos – hier steht keine sinngenerierende Tätigkeit im Vordergrund. Zudem, so Livingstone, wird das Publikum beim Ersatz durch User individualisiert, so dass die Gemeinsamkeit, der kollektive und öffentliche Charakter verloren gehen (vgl. Livingstone, 2012). Der Begriff des Publikums ist immer noch funktional und notwendig. Die Forderung, ihn zu ersetzen, ist von einer Überschätzung der Onlinemedien getragen: Zum einen tragen auch bei partizipativen Online-Medien längst nicht alle Menschen zur aktiven Contentproduktion bei – die klassischen Publikumsaktivitäten Lesen, Sehen und Hören sind auch hier dominant (vgl. Carpentier, 2011b). Zum anderen sind nach wie vor die traditionellen Massenmedien ein wichtiger Bestandteil im Medienrepertoire von Menschen: Das Radio wird derzeit im Durchschnitt 199 Minuten pro Tag gehört (vgl. Rühle 2014) und das Fernsehen 221 Minuten pro Tag gesehen (vgl. Zubayr & Gerhard, 2014).

Auch die hybride Kategorie des Produser ist trotz einer oberflächlichen Plausibilität problematisch: Sie lässt die Unterschiede zwischen den beiden Tätigkeiten Nutzung und Produktion verschwimmen – Tätigkeiten, die natürlich immer noch getrennt ablaufen und die sich fundamental voneinander unterscheiden. Ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma ist es, die Tätigkeit und nicht die Rolle zu betonen. Ein Mensch gehört nicht beständig zum Publikum, sondern nur dann, wenn er oder sie als Publikum agiert. Fiske (1992) hat lange vor der Existenz des Web 2.0 vorgeschlagen, Abstand vom Substantiv »Audience« zu nehmen und stattdessen das Verb »to audience« (als Publikum agieren) zu verwenden. Der Modus des Audiencing besteht demnach in der Auseinandersetzung mit bereits produzierten Materialien, eines kulturellen Produktes oder einer Medienrepräsentation; der Modus des Producing besteht darin, diese Materialien herzustellen (vgl. Ridell, 2012, S. 20).

Ridell (2012) schlägt vor, die beiden Handlungsmodi Audiencing und Producing (definiert durch bestimmte typische Aktivitäten und je spezifische strukturelle Bedingungen) analytisch strikt voneinander zu trennen, aber im Kontext eines übergreifenden, medienbezogenen Handlungsprojektes zu sehen. So beginnt eine Beschäftigung mit Wikipedia oft mit der Absicht, Informationen über ein Thema nachzuschlagen (Audiencing); wenn ein Problem oder ein Fehler mit dem Inhalt entdeckt wird, kann ein Mensch motiviert werden, diesen Fehler durch eigene Hinzufügungen oder Korrekturen zu beseitigen (Producing). Ridell argumentiert nun dafür, diese Handlungen nicht als eine einzelne hybride Tätigkeit zu betrachten, sondern als eine Abfolge von aufeinander bezogenen, aber unterscheidbaren Handlungen in jeweils verschiedenen Handlungsmodi (vgl. Ridell, 2012, S. 23 f.).

Ähnlich wie im Konzept des Audiencing hat auch bereits Maletzke (1963) die Tätigkeit in den Vordergrund gestellt: die Zuwendung zu einem massenmedial vermittelten Inhalt. Heute würde man den Akzent weniger auf die massenmediale Vermittlung legen, sondern eine mediale Vermittlung zur Bedingung machen: Jemand gehört dann zum Publikum, wenn er oder sie handelt wie ein Publikum (also produzierten Inhalt nutzt, wahrnimmt und interpretiert). In konvergenten Medienumgebungen ändert sich im Prinzip nichts an diesem Grundsatz; das technische (tertiäre) Medium mag heute variabel sein, aber die Vermittlungsmedien, die primären und sekundären Medien (Text, Bild, Ton), bleiben die gleichen und müssen vom Rezipienten auch als solche verarbeitet werden.

Damit können wir auch den Gegenstand dieses Lehrbuches näher fassen und auf die Prozesse des Audiencing, des Als-Publikum-Agierens, eingrenzen. Bei uns geht es also nicht um den Modus der Produktion, sondern um den Modus der Rezeption. Auch wenn diese beiden Modi in der Realität häufig zusammen auftreten und sich in einem übergeordneten Handlungsprojekt (z. B. Wiki-Nutzung, vgl. Ridell, 2012) realisieren können, kann man diese Prozesse auf einer analytischen Ebene trennen, um sie im Detail zu durchleuchten und zu beschreiben. Wir behandeln die Mikroprozesse, die beim Audiencing über Medienplattformen hinweg im Prinzip ähnlich funktionieren: Verarbeiten von Sinn in Text und Bild, Aufmerksamkeit, Mitfühlen, Spannung erleben, Relevanz verspüren oder Medienpersonen wahrnehmen.

Gegenstand der Medienrezeptionsforschung

Medienrezeptionsforschung beschäftigt sich mit Phänomenen des Audiencing, des Als-Publikum-Agierens. Sie erklärt Prozesse der Verarbeitung und des Erlebens von medial vermittelten Inhalten in allen Medien, bei allen Themen und bei Texten jeder Genese (etwa professionelle oder Laienproduktion).

Dabei wird unser Medienspektrum nicht auf Massenmedien, professionell produzierte Inhalte oder Inhalte von politisch-gesellschaftlicher oder zeitlicher Relevanz begrenzt sein (vgl. Einschränkung des Gegenstandsbereiches bei Schweiger, 2007, S. 17 f.). Der Wandel hin zur Networked Society und zur Medienkonvergenz verlangt von der Rezeptionsforschung auch Antworten auf andere Phänomene der medialen Rezeption, etwa zu virtuellen Welten, Avataren, Computerspielen, Musik, Film oder Internet-Diensten. Inhalte fließen zudem crossmedial und über Genres hinweg, so dass eine Isolation einzelner medial vermittelter Inhalte zuungunsten anderer nicht zielführend ist.

Unter der Lupe: Reception = Rezeption?

Reception Studies im Englischen und der deutsche Begriff der Rezeptionsforschung klingen ähnlich, dahinter stehen allerdings ganz unterschiedliche Forschungstraditionen. Reception Studies ist der Name für eine ganze Reihe von Ansätzen, die sich mit der Auseinandersetzung von Publika mit Medientexten (wieder in einem umfassenden Sinne) widmen, aber in enger Verbindung mit dem Ansatz der Cultural Studies Interpretationen mit ethnographischen Methoden (d. h. kontextorientiert, kulturell eingebettet, kritisch) untersuchen (vgl. Livingstone, 1998, S. 237 f.) oder aber aus der Tradition der deutschen Rezeptionsästhetik aus der Literaturwissenschaft stammen (vgl. Sandvoss, 2011; ein umfassenderes, integratives Verständnis hingegen bei Staiger, 2005).

In der eher amerikanisch geprägten quantitativen Rezeptionsforschung (an der sich dieses Lehrbuch auch vornehmlich orientiert) wird international der Begriff Reception für Rezeption so gut wie gar nicht verwendet. Das Gebiet wird am ehesten mit Media Processes oder Information Processing umschrieben und oft nur in Konjunktion mit der Wirkungsforschung behandelt (vgl. Nabi & Oliver, 2009) oder aber als inhaltlich abgegrenzte Unterbereiche, etwa Unterhaltung (vgl. Bryant & Vorderer, 2006), separat behandelt.

1.4 Die Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt

Die Rezeptionsforschung, wie oben in der Definition geschildert, verfolgt also die theoriefundierte Erklärung und Beschreibung von Prozessen der Verarbeitung und des Erlebens von Medien und medienvermittelten Inhalten. Man kann auch sagen, dass die Rezeptionsforschung sich mit der aktiven Auseinandersetzung des Rezipienten mit der Medienbotschaft befasst. Drei Aspekte charakterisieren diese Auseinandersetzung: die subjektive Interpretation, der zeitliche Ablauf sowie eine bestimmte Intensität und Beschaffenheit.

Subjektive Interpretation der Medienbotschaft. Die Bedeutung eines Medientextes für einen Rezipienten kann nicht aus dem Text alleine abgeleitet werden. Erst die Rezipierenden konstruieren diese Bedeutung. Der Textgehalt wird nicht eins zu eins auf den Rezipienten übertragen; Menschen müssen Bedeutungen erst konstruieren. Früh und Schönbach bringen dieses Prinzip auf den Punkt, wenn sie schreiben, dass der Stimulus (also die Medienbotschaft) keine fixe Identität hat und erst einer Bedeutungszuweisung durch den Rezipienten bedarf (vgl. Früh & Schönbach, 1982). Dies ist auch eine zentrale Annahme in kulturellen Ansätzen (vgl. Livingstone & Das, 2013). Die zugeschriebenen Bedeutungen können nicht nur vom intendierten Bedeutungsgehalt des Textes abweichen, sondern auch bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausfallen. Regelmäßigkeiten trotz dieser prinzipiell individuellen Interpretationssituation werden ebenfalls angenommen und gesucht, aber nicht nur in sozialen Faktoren, sondern in individuellen Wissensbeständen, emotionalen Befindlichkeiten, Motivationen, persönlicher Relevanz ebenso wie in den inhaltlichen und strukturellen Charakteristika der Medienbotschaft. Gerade die Untersuchung von Charakteristika der Medienbotschaft bringen der Rezeptionsforschung (bzw. der Wirkungsforschung) oft den Vorwurf des Behaviorismus (vgl. Sandvoss, 2011), der Stimulus-ResponseForschung oder der linearen Denkweise ein (vgl. Livingstone & Das, 2013). Diese Vorwürfe beruhen allerdings auf einem veralteten Forschungsstand oder einer selektiven Rezeption der Medienwirkungsforschung; man kann das Stimulus-Response-Modell durchaus auch als Mythos begreifen, den es in der Wirkungsforschung nie tatsächlich gegeben hat (vgl. Brosius & Esser, 1998). Gerade die Rezeptionsforschung geht von variierenden Interpretationen und Wahrnehmungen seitens der Rezipierenden aus; wenn es diese nicht gäbe, wäre auch die Rezeptionsforschung obsolet. Der Rezeptionsforschung geht es jedoch nicht um Idiosynkrasien (Eigenwilligkeiten von Einzelfällen), sondern darum, Muster und Regelmäßigkeiten zu entdecken. Diese Regelmäßigkeiten der Rezeption manifestieren sich in Zusammenhängen etwa mit den Merkmalen der Medienbotschaft oder aber Rezipientenmerkmalen (etwa der Persönlichkeit, den Lebensumständen, demografischen Merkmalen) bzw. dem komplexen Zusammenspiel von Botschafts- und Rezipientenmerkmalen.

Zeit. Das zweite grundlegende Prinzip der Rezeption ist die Erkenntnis, dass alle Rezeptionsprozesse im engeren Sinne (also Verarbeiten und Erleben) einen Prozess darstellen, der während des Medienkontaktes und in der konkreten Situation, in der ein Medienkontakt stattfindet, abläuft. Die zeitliche Dimension hat in der Rezeptions- und Wirkungsforschung schon lange ihren festen Platz: So bezieht etwa das Dynamisch-Transaktionale Modell (vgl. Früh & Schönbach, 2005) die sequentiellen und simultanen Abläufe von Rezeptions- und Wirkungsprozessen explizit in die theoretischen Erwägungen mit ein; auch aus anderen Perspektiven ist der zeitliche Ablauf relevant geworden (vgl. Suckfüll, Schramm & Wünsch, 2011). In jedem Fall entwickeln sich Selektion, Verarbeitung und Erleben im Verlaufe einer Nutzungssituation weiter, sie sind nicht statisch. In speziellen Fällen ist nicht nur die Auseinandersetzung des Rezipierenden zeitlich variabel, sondern auch der Medientext selbst. Bei audiovisuellen oder auditiven Vorlagen etwa ändert sich der Stimulus selbst kontinuierlich.

Die Verarbeitungserfahrung und das Erleben treten über die Zeit hinweg in einer bestimmten Situation auf – das hat einige wichtige methodische Implikationen. So kann etwa die empfundene Relevanz einer Fernsehdokumentation an Stellen in der Sendung, in denen es um Frauen geht, für eine Zuschauerin besonders intensiv sein, an anderen Stellen aber weniger intensiv (dynamischer Prozess). Erhoben wird die Relevanz aber in einem Gesamturteil nach der Rezeption (statisches Urteil). Daher ist die Rezeption am besten in der Situation selbst zu erheben, idealerweise prozessbegleitend. Nicht immer ist das möglich, aber eine minimale Voraussetzung ist, dass der Stimulus recht kürzlich wahrgenommen wurde. Deshalb (und wegen der Suche nach Kausalität) ist in der Rezeptionsforschung oft ein experimentelles Setting zu finden. Je weiter entfernt die Erfahrung von der Erhebung, umso eher erfasst man Vorstellungen und Rationalisierungen der eigenen Erfahrung.

Intensität und Beschaffenheit. Die dritte Beschreibungsebene stellt im Gegensatz zu den ersten beiden Kriterien kein konstantes Merkmal dar, das alle Auseinandersetzungen mit dem Medientext gleichermaßen charakterisiert. Vielmehr können die Kriterien Intensität und Beschaffenheit das konkrete Rezeptionserleben in Kombination beschreiben. Intensität bezeichnet dabei die Stärke des Erlebens und der Verarbeitung. Beispielsweise kann die Immersion in eine Geschichte in ihrer stärksten Ausprägung dazu führen, dass eine Person an einer Haltestelle ihren Bus verpasst, weil sie so vertieft ist, dass sie die Geräusche und Bewegungen aus der Umwelt ausblendet. In ihrer schwächsten Ausprägung versteht ein Leser zwar eine Geschichte, kann sich auf das Buch aber nicht einlassen. Beschaffenheit drückt diskrete innere Zustände aus (d. h. voneinander qualitativ unterschiedliche Zustände). Sie kann sich unterschiedlich äußern, etwa in Bezug zum eigenen Leben und Erfahrungen, in der Emotionalität, oder durch einen Bezug auf Personen im Medientext.

Die zwei Kriterien Interpretation und Zeit stellen so etwas wie Vorbedingungen dar, den Akt der Mediennutzung als Rezeption zu betrachten: als einen Prozess, in dessen Verlauf die Interpretation der Medienbotschaft entscheidender ist als der objektiv feststellbare Gehalt und der mindestens während der Zeit abläuft, die jemand braucht, um sich mit dem Medientext auseinanderzusetzen. Das dritte Kriterium, die Intensität und Beschaffenheit, drückt das Streben aus, die Verarbeitungsund Erlebensweisen zu klassifizieren und Ursachen wie auch Konsequenzen zu erklären. Dass also Medienrezeption Interpretation im Zeitverlauf darstellt, wird in der Rezeptionsforschung vorausgesetzt; die Kapitel dieses Lehrbuches behandeln dann theoretische Modelle und empirische Forschung zur Beschaffenheit und Intensität von Rezeptionserleben.

1.5 Zusammenfassung

Die Medienrezeptionsforschung befasst sich mit der Verarbeitung und dem Erleben von Medien und medienvermittelten Inhalten. Auch in einer veränderten Medienlandschaft, in der einem Laien sowohl die Rezeption als auch die Produktion und Verbreitung von Medieninhalten möglich sind, kann und muss Audiencing (Als-Publikum-Agieren) theoretisch beschrieben und empirisch untersucht werden und ist zentraler Gegenstand der Rezeptionsforschung. Wir sehen die Rolle des Publikums demnach nicht als statisches, sondern als variables, situatives und handlungsabhängiges Merkmal: Wer als Publikum agiert, ist zu diesem Zeitpunkt Publikum. Dabei gibt es keine Einschränkung bei den Medien, Themen und oder der Genese (etwa professionelle oder Laienproduktion) – wenn jemand als Publikum agiert, wird er ein Fall für die Rezeptionsforschung. Die Auseinandersetzung der Rezipierenden mit einem Medientext (Bezeichnung für den medialen Inhalt mit seinen spezifischen formalen Merkmalen, unabhängig davon, ob es sich um eine textliche, visuelle, auditive oder audio-visuelle Vorlage handelt) hat drei Merkmale: (1) Der Medientext wird vom Rezipierenden interpretiert; (2) Die Auseinandersetzung findet in einer bestimmten Situation über die Zeit hinweg statt, d. h. sie ist ein Prozess; (3) Die Auseinandersetzung mit dem Medientext kann durch die Intensität und Beschaffenheit beschrieben werden.

Übungsaufgaben

1 Definieren und finden Sie Beispiele für die zentralen Konstrukte der Rezeptionsforschung Verarbeitung und Erleben.

2 Was ist am Konzept des Publikums problematisch? Inwiefern bringt die Fokussierung auf die Tätigkeit des Publikums (Audiencing) mehr Präzision?

3 Medienkonvergenz hat weitreichende Auswirkungen auf die Nutzung. Welche Auswirkungen kann Medienkonvergenz auf Intensität und Beschaffenheit der Rezeption haben?

Zum Weiterlesen


Bratich, J. Z. (2005). Amassing the multitude: Revisiting early audience studies. Communication Theory, 15(3), 242–265.

Der Aufsatz präsentiert eine historische Betrachtung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Publika und liefert eine äußerst interessante kritische Analyse von Perspektiven, die hinter frühen Diskursen zum Publikum stecken – empfehlenswert für eingefleischte empirisch-analytische Denker zur Erweiterung der Perspektive.

Ridell, S. (2012). Mode of action perspective to engagements with social media: Articulating activities on the public platforms of Wikipedia and YouTube. In H. Bilandzic, G. Patriarche & P. Traudt (Hrsg.), The social use of media. Cultural and social scientific perspectives on audience research (S. 19–35). Bristol: Intellect.

Das Kapitel von Ridell stellt eine treffende und klarsichtige Analyse von Audiencing in neuen Medienumgebungen und kollaborativen Kontexten vor.

Lazarsfeld, P. F. (1941). Remarks on administrative and critical communications research. Zeitschrift für Sozialforschung. Studies in Philosophy and Social Science, 9, 2–16.

Dieser Essay ist ein einzigartiges Dokument der frühen Forschung zum Rezipienten, das die Spannung zwischen empirischer und kritischer Forschung aufgreift.

Medienrezeptionsforschung

Подняться наверх