Читать книгу Turbulenzen im Paradies - Helene Hammerer - Страница 10
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ОглавлениеInzwischen schrieb man den 10. Oktober. Der Tag der Goldenen Hochzeit war ein wunderschöner Herbsttag. Gleich nach dem Mittagessen ging Felicia zu Roswitha, um die Juppe richtig anzuziehen. Tonis Familie lebte in einem alten Bauernhaus mitten im Dorf. An den Fenstern hingen die gestärkten Leinenvorhänge mit den gehäkelten Spitzen und im Blumenbeet vor dem Haus blühten Dahlien in allen Farben. Die junge Frau klopfte an die verwitterte Holztüre, öffnete sie und betrat den Hausflur. Dort rief sie »Holla!« und aus der Wohnstube kam Roswithas Antwort: »Komm herein, Felicia!« Alte Bauernhäuser hatten in der Regel keine Türglocken und die Haustüre war auch nicht versperrt. Man musste eintreten und rufen. Mit der Juppe in einem Kleidersack und dem übrigen Zubehör in einer Tasche betrat Felicia die gemütliche Bauernstube. In der Ecke zwischen den Fenstern stand ein großer Tisch mit einer Eckbank und zwei Stühlen, an einer Wand ein Sofa und an der anderen ein kleiner Sekretär. Hinter der Türe befand sich der alte, grüne Kachelofen. Etwas entfernt davon stand Cillis Klavier. Cäcilia, Tonis jüngste Schwester, studierte am Konservatorium Orgel. Margret, die älteste, lebte und arbeitete in der Schweiz und Ruth, die mittlere, war gerade dabei, ihrer Mutter die Haare zu flechten. Roswitha saß am Tisch und hielt einen ihrer Zöpfe fest, bis der andere geflochten war. Zur Tracht gehörte eine »Gretelfrisur«, bei der die geflochtenen Zöpfe um den Kopf gewunden und mit einem schwarzen Samtband befestigt wurden. Ruth, die mit Leib und Seele Frisörin war, machte die Zöpfe mit Haarnadeln fest und drehte sich lächelnd zu Felicia um. »Tag, Felicia, komm herein. Ich bin gerade mit Mamas Frisur fertig. Gleich kommst du dran.« Auch Roswitha begrüßte sie freundlich. Mit der altmodischen Frisur sah sie ganz verändert aus. »Ich zieh mich nur rasch an, dann helfe ich dir«, verkündete sie und verließ das Wohnzimmer. Felicia setzte sich an den Tisch, wo ihr Ruth unter ständigem Geplauder das Haar zu einer Krone flocht. »Was für schöne Haare du hast«, schwärmte sie, »ich mach dir einmal eine richtige Ballfrisur, wenn du willst.« »Ja gerne, ich nehme dich beim Wort«, versicherte Felicia. Dann betrat Roswitha in der schwarzen Juppe mit den farbigen Ärmeln aus Brokat das Zimmer. Die Festtagsjuppe war wirklich ein besonderes Kleidungsstück mit dem goldbestickten Brusttuch und den Stickereien am Halsausschnitt. In der Taille wurde der plissierte Rock von einem Lackledergürtel mit einer fein ziselierten Gold- oder Silberschnalle zusammengehalten. »Roswitha, du bist sehr elegant, eine richtige Dame!«, rief Felicia bewundernd aus. Roswitha lächelte. »Du wirst auch nobel sein, wenn du fertig bist«, versprach sie. Felicia hatte von der Volkstanzgruppe eine Tracht mit rotem Mieder und weißen Leinenärmeln bekommen. Auch ihr Brusttuch war bestickt, aber nicht so reich und kostbar. Nun halfen ihr die beiden Frauen beim Anziehen. Zuerst die weißen Ärmel, darüber den bodenlangen Miederrock. Dann wurde das Brusttuch befestigt und der Gürtel umgeschnallt. Zuletzt band ihr Roswitha die dunkelblaue Schürze um. »Komm in den Flur und schau in den Spiegel!«, drängte Ruth. »Du siehst aus wie eine echte Auenfelderin.« Felicia musste lachen. »Ich komme mir ein bisschen wie verkleidet vor«, gestand sie. Roswitha drängte zum Aufbruch.
Um zwei Uhr traf sich der Chor zum Einsingen in der Kirche. Nach der kurzen Probe gingen die Sänger wieder vor die Kirche für den Einzug des Jubelpaares. Inzwischen hatten sich zahlreiche Gäste und Leute aus dem Dorf eingefunden. Felicia sah sich neugierig um. Viele Frauen trugen ihre Trachten oder festliche Kleider und die Männer dunkle Anzüge mit weißen Hemden und Krawatten oder Trachtenanzüge. Dazwischen drückten sich kleinere Kinder an die Röcke ihrer Mütter. Es war ein farbenprächtiges Bild und die Vorfreude auf das Fest war deutlich zu spüren. Da hörte man auch schon die Blasmusik. Mit einem zünftigen Marsch führten sie das Jubelpaar zur Kirche. Automatisch bildeten die Leute ein Spalier zu beiden Seiten. Plötzlich hörte Felicia eine Kinderstimme: »Fräulein!«, und sah auch schon Carina in einer Wolke aus hellblauem Tüll auf sich zustürmen. Sie hatte sich wohl von der Hand ihrer Großmutter losgerissen. Felicia begrüßte das kleine Mädchen und schaute sich nach Therese um, konnte sie aber nirgends entdecken. »Nimm sie mit auf den Chor, dort sieht sie alles gut«, meinte die praktisch denkende Roswitha, »Therese wird sie dann schon holen.« Felicia zweifelte stark daran, ob es eine gute Idee war, beim Chor zu singen und gleichzeitig auf Carina aufzupassen aber die Feier ging gleich los und die Sänger drängten bereits dem Eingang zu. »Du kannst mit mir auf die Empore kommen. Deine Oma suchen wir dann nachher«, sagte sie zu dem Kind. »Au ja«, rief Carina und strahlte, »komm schnell!« Damit zog sie ihre Lehrerin zum Eingang. Markus schaute etwas betreten drein, als er Carina mitten im Sopran erblickte. Felicia zuckte die Schultern, sie konnte im Moment nichts tun. Dann hörten sie schnelle Schritte und als sich alle umwandten, kam Alexander Felder auf den Chor, um seine Tochter zu holen. Er wirkte leicht gehetzt und war deutlich erleichtert, Carina zu sehen. Als er jedoch auf sie zuging, versteckte sich die kleine Hexe hinter Felicias Rock und ihrem Vater blieb nichts anderes übrig als zu warten, wenn er nicht Verstecken spielen wollte. Felicia konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen und hätte dadurch fast den Einsatz zum ersten Lied verpasst. Gleich darauf folgten das Kyrie und das Gloria. Carina spähte vorsichtig hinter dem Rock ihrer Lehrerin zu ihrem Vater hinüber, sobald dieser jedoch in ihre Richtung schaute, zog sie den Kopf schnell wieder zurück. Den Chor erfasste indessen eine Welle der Heiterkeit, was dem Gesang nicht gerade zuträglich war. Markus runzelte ärgerlich die Stirn und alle waren sehr erleichtert, als das Gloria mit einem gemeinsamen Akkord endete. Die Unruhe vor der Lesung nützte Felicia, um Carina hoch zu heben und zu ihrem Vater zu tragen. »Wir setzen uns zu deinem Papa, dann sehen wir es besser«, flüsterte sie mit Verschwörermiene und damit war das Spiel gewonnen. Alexander lächelte sie dankbar an und seltsamerweise bekam sie von diesem Blick weiche Knie. Carina war doch ziemlich schwer, versicherte Felicia sich selbst, nur deshalb fühlten sich ihre Beine so schwach an. Als die Leute zum Evangelium wieder aufstanden, nützte sie die Gelegenheit zur Flucht und kehrte schnell zum Chor zurück. Carina war in das Geschehen unter ihr vertieft und merkte nichts. Die Zeremonie dauerte noch lange und mit der Zeit wurde die Kleine unruhig. Sie zappelte herum, redete halblaut, spielte mit dem Gesangbuch und zog sich die Missbilligung der älteren Chormitglieder zu. Fast hatte Felicia Mitleid mit Alexander, aber nur fast. Anschließend spielte die Blaskapelle noch einige Stücke vor der Kirche und alle gratulierten dem Jubelpaar.
Nach diesen Strapazen gab es Kaffee im Adler, einem bodenständigen Gasthaus mit holzgetäfelten Stuben und niedrigen Decken. Felicia schien es, als habe sie noch nie solche Berge von Kuchen, Torten und Kipferln gesehen. Auf den festlich gedeckten Tischen standen Schalen mit Schlagsahne und die Kellnerinnen liefen geschäftig mit großen Kaffeekannen umher. Alle langten kräftig zu, man war hungrig und durstig geworden und aus allen Ecken hörte man fröhliches Geplauder. Felicia saß inmitten der Sängerinnen und Sänger und fühlte sich mehr als satt nach einem großen Stück Torte und zwei Tassen Kaffee. Da zog sie jemand an der Hand. »Ich komme ein bisschen zu dir, Fräulein, bei Papa und Oma ist es so langweilig«, verkündete Carina und kletterte ohne Umschweife ihrer Lehrerin auf den Schoß. Felicia faltete dem Kind aus ihrer unbenutzten Papierserviette eine Rose, was der Kleinen großen Spaß machte. Bald hatte sie alle unbenutzten Servietten des Chors eingesammelt und verwandelte sie mit Felicias Hilfe in Rosen. Kaspar, der ältere Basssänger, schaute ihr belustigt zu. »Na, Fräuleinchen, in der Kirche warst du nicht gerade brav. Wenn ich dein Papa wäre, würde ich dir die Hosen stramm ziehen«, brummte er. Carina ließ sich davon gar nicht stören und zupfte an ihrer Rose weiter. »Lass sie in Ruhe, du alter Brummbär«, fiel ihm seine Frau Frieda ins Wort. Ihr war das Ganze sichtlich peinlich und sie lächelte Carina wohlwollend an. Diese hielt ihr die eben fertiggestellt Rose hin. »Die schenke ich dir«, strahlte sie und die ganze Runde brach in schallendes Gelächter aus. »Jetzt hat sie's dir aber gegeben, Kaspar«, grinste Markus und Kaspar schmunzelte gutmütig.
Gegen sechs Uhr brach man auf. Die Reidelsippe ging zum Abendessen und später war das ganze Dorf zur Nachhochzeit mit Tanz in den Saal der Alpenrose eingeladen. Felicia hatte nicht vor, hinzugehen. Sie musste noch alles für den morgigen Unterricht vorbereiten. Am Nachmittag würde sie putzen und ihre Wohnung auf Vordermann bringen, denn am Sonntag wollte Cordula zu Besuch kommen. »Ich muss mir das Kaff doch einmal ansehen, in dem du dich begraben hast«, hatte sie geschrieben. Felicia konnte es kaum erwarten, die Freundin endlich wiederzusehen. Sie hatte Cordi so vieles zu erzählen und natürlich wollte sie auch sämtliche Neuigkeiten aus der »Großstadt« hören.