Читать книгу Turbulenzen im Paradies - Helene Hammerer - Страница 6
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ОглавлениеIn der Nacht schlief Felicia unruhig und wachte gegen Morgen ständig auf in der Angst zu verschlafen. Um sechs Uhr stand sie auf, duschte und nahm ihr grau-blaues Strickkleid mit dem schmalen Rock und den halblangen Ärmeln aus dem Schrank. Das war formell genug und trotzdem angenehm zu tragen. Gut, dass ihre Mutter Schneiderin war und ihrem früheren Beruf nun zu Hause als leidenschaftlichem Hobby frönte. So hatte sie nie die Kleidersorgen ihrer Freundinnen. Nach dem Frühstück, bestehend aus einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen, schaute sie sich ihre Vorbereitungen noch einmal durch, damit sie ja nichts vergaß, und schon war es Zeit zu gehen. Die Lehrpersonen trafen sich um viertel vor acht bei der Schule. Dann würde man gemeinsam zur Kirche gehen. Anja und Fred, ihre ebenfalls noch jungen Kollegen, und der Direktor begrüßten sie freundlich. Die Schüler der zweiten bis vierten Klasse stellten sich in Reihen an und gemeinsam gingen alle zum Eröffnungsgottesdienst, dem Auftakt zum neuen Schuljahr. Die Kleinen waren mit ihren Müttern oder Großmüttern in den vordersten Bänken. Die Messe dauerte recht lange und die Kinder waren in Felicias Augen sehr brav. Nur ein kleines Mädchen mit schwarzen Locken konnte nicht still sitzen und drehte sich immer wieder um. Wenn Felicia ihm zulächelte, schaute es schnell wieder nach vorne. Der elegant gekleideten Frau neben dem kleinen Wildfang war dies sichtlich peinlich, doch ihre Ermahnungen nützten nichts. »Das ist die kleine Carina mit ihrer Oma«, sagte Anja leise. Auf Felicias fragenden Blick hin flüsterte sie: »Später«, denn das Kind schaute schon wieder her. Endlich gab der alte Pfarrer seinen Segen und alle liefen zur Schule. Diesmal nicht mehr in geordneten Reihen. Vor der Schultüre wurden die Klassen zugeteilt. Die erste Klasse bekam die neue Lehrerin Fräulein Felicia Huber. Oh Gott, hier wurde man noch »Fräulein« genannt. Ein Relikt aus der Zeit, als Lehrerinnen unverheiratet oder Nonnen zu sein hatten. Bestimmt erwarten sie immer noch, dass man als Lehrerin zölibatär lebt, schoss es Felicia durch den Kopf. Sie wurde von allen Anwesenden neugierig gemustert und bat die Erstklässler mit ihren Müttern oder Großmüttern, ihr zu folgen. An der Garderobe wurden Turnbeutel aufgehängt und Hausschuhe angezogen und ein wenig schüchtern suchten die Kinder ihre Plätze. Felicia schrieb ihren Namen an die Tafel und stellte sich kurz vor. Dann bat sie die Mütter zu gehen, las den Kindern eine Geschichte zum Schulanfang vor und machte ein Kennenlernspiel, bei dem die Kinder eifrig mitmachten. Bald wurden sie wieder entlassen mit einem leeren Blatt Papier, auf das bis zum nächsten Tag jeder sich selbst zeichnen sollte.
Nach der Konferenz lud Markus die Lehrer auf einen Kaffee ins Café Wilma ein. Dass die Besitzerin Wilma Feuerstein hieß, erheiterte Felicia, aber die anderen waren daran gewöhnt. Feuerstein war ein häufiger Name im Tal. Anja und Fred kamen aus den Nachbarorten und der neuen Kollegin wurde gleich der neueste Dorfklatsch erzählt. »Wie ist das nun mit Carina?«, fragte sie Anja ein wenig später und diese erzählte bereitwillig: »Ach ja, Carina. Das ist eine tragische Geschichte. Ihrer Familie gehört das Sporthotel Alpenrose, das große, gleich neben dem Gemeindehaus.« Felicia war die »Alpenrose« positiv aufgefallen. Es war ein großes Holzhaus im Stil der alten Bauernhäuser. Den ehemaligen Stall hatte man geschickt umgebaut und dort ein Hallenbad, die Wohnung der Besitzer und Gästezimmer untergebracht. »Das Haus ist denkmalgeschützt, aber die jungen Architekten hier im Tal sind sehr erfinderisch«, hatte ihr Markus bei ihrem ersten Besuch nicht ohne Stolz erklärt. »Alexander, ihr Vater, ist der einzige Sohn. Er war ein paar Jahre Manager in einem großen Hotel in Mailand und natürlich hat er die Tochter der Besitzer geheiratet, die schöne Viola. Sie war eine verwöhnte Modepuppe.« Anja verzog das Gesicht. Offensichtlich hielt sie nicht viel von der schönen Viola und fuhr fort: »Als der alte Wirt gestorben ist, sind sie hergekommen, weil Alexander den Betrieb übernehmen musste, aber sie hat sich hier nicht wohl gefühlt. Sie fuhr mit ihrem Sportwagen immer zum Einkaufen nach Bregenz und Lindau und sogar nach München. Einmal war sie wieder viel zu schnell unterwegs, da hat es stark geregnet. Im Auwald, bei den vielen Kurven, ist sie ins Schleudern geraten. Das Auto hat sich mehrmals überschlagen und ist im Bach gelandet. Sie war gleich tot.« »Wie schrecklich!«, rief Felicia mitfühlend aus. »Und was war mit Carina?« »Carina ließ sie immer bei ihrem Au-pair, die war nicht dabei«, beruhigte Anja, »und seither hat sie jedes Jahr ein neues Kindermädchen aus Italien gehabt, damit sie auch Italienisch lernt. Ihre italienische Großmutter kauft ihr immer teure Sachen in Mailand. Im Jänner kommt sie jedes Jahr her mit ihrem Mann. Mir tun sie echt leid, die alten Leute, obwohl sie so reich sind.« Felicia runzelte nachdenklich die Stirn. »Was ist mit dem Vater, diesem Alexander?«, wollte sie wissen. »Na ja, der ist eben auch nur ein Mann. Er hat viel Arbeit in dem großen Hotel und Vizebürgermeister ist er auch.« »Ah, dann kenne ich ihn«, rief Felicia aus. »Er war gerade beim Bürgermeister, als Markus mit mir hingegangen ist, damit ich mich vorstellen kann. Ein großer Schlanker mit dunklen Haaren.« »Ja, ein richtiger Schönling«, grinste Anja, »man sagt, die Frauen laufen ihm scharenweise nach und dass er immer wieder neue Freundinnen hat.« »Ich habe mir gleich gedacht, dass er etwas mit Tourismus zu tun haben muss, er hatte so eine geschliffene, weltgewandte Art.« »Ja, zu mir ist er auch immer sehr höflich und korrekt. Seine Tochter ist jedenfalls sehr verwöhnt und schwierig. Birgit, die Kindergärtnerin kann ein Lied davon singen«, schloss Anja ihren Bericht. Automatisch schlug sich Felicia auf Carinas Seite. Das mutterlose Kind tat ihr leid und sie beschloss, sich selbst ein Bild zu machen. In der tragischen Geschichte steckte auch jede Menge Sensationslust.
Den ganzen Nachmittag verbrachte sie mit Vorbereitungen für die Schule, die Kinder mussten beschäftigt werden und jetzt waren sie noch voll motiviert. Am Abend ging sie zur Telefonzelle, der Anschluss in ihrer Wohnung ließ noch auf sich warten. »Hallo Felix, wie war dein erster Schultag?«, wollte ihr Vater wissen. »Ach, die Schüler sind richtig herzig, mit roten Bäckchen und zwei sogar mit langen Zöpfen«, schwärmte Felicia. »Nur eines ist dabei, das schon als Baby seine Mutter verloren hat.« »Na, dann hast du ja wieder jemanden, den du unter deine Fittiche nehmen kannst«, meinte ihr Vater und man hörte, dass er schmunzelte. Sie wechselte auch mit ihrer Mutter noch ein paar Worte und dann war ihr Kleingeld verbraucht.