Читать книгу Die Herrin - Helmut Barz - Страница 10
Der Vater
ОглавлениеJonathans Rücken schmerzte von der Nacht auf seinem Amtszimmer-Sofa. Aber wenigstens hatte Katharina am nächsten Morgen fürs Erste noch nicht die Koffer gepackt. Während des Frühstücks hatten sie sich angeschwiegen. Und als Jonathan sich bei seiner Frau entschuldigen wollte, war sie brüsk aufgestanden: »Ich habe eine Doktorarbeit zu schreiben.«
Anschließend hatte sie sich in ihrer Dachkammer eingeschlossen. Das wütende Klappern ihrer Schreibmaschine hallte durch das ganze Haus.
Jonathan hatte sich wieder in sein Amtszimmer verkrochen, in der Hoffnung, dort etwas Ruhe zu finden. Doch bereits kurze Zeit später wurde er wieder aufgescheucht. Peter Krog, der Schutzmann von Broiversum, führte einen Mann herein. Er mochte um die vierzig sein und trug, was vermutlich seine beste Kleidung war: einen Anzug, zu eng für seine Schultern, sorgfältig polierte, aber ausgetretene Schuhe, die leicht quietschten, wenn er einen Schritt tat. Er hatte kräftige, das Zupacken gewohnte Hände, sein Gesicht war von Sonne und Wind gegerbt. Ein Landarbeiter, dachte Jonathan, als er den Mann betrachtete, der jetzt vor seinem Schreibtisch in der Amtsstube stand und eine Mütze zwischen den Händen knüllte.
Militärisch erstattete Peter Krog Bericht: Der Mann, »Arno Kogel, Knecht« auf einem Gut östlich von Broiversum, sei an diesem Morgen zu ihm gekommen auf der Suche nach seiner Tochter, die vor ein paar Tagen verschwunden sei.
Jonathan bat den Mann, Platz zu nehmen und selbst zu erzählen. Arno Kogel setzte sich schüchtern auf die vorderste Kante des ihm offerierten Stuhls. Er vermisse seine Tochter, berichtete er stockend; sie sei am Sonntagabend aus ihrem Haus verschwunden. Während er sprach, lief eine Träne seine Wange herab und blieb in den schlecht rasierten Bartstoppeln hängen.
Jonathan fragte ihn, warum er annehme, dass sie nach Broiversum gekommen sei.
»Meine Nachbarin sagt, sie habe gesehen, wie sie in eine Kutsche stieg. Die Kutsche fuhr weiter nach Westen. Außerdem …« Der Mann schluckte und schwieg. Behutsam forderte Jonathan ihn auf: »Und außerdem …?«
»Ach, es gibt Gerüchte, dass …« Der Mann versank erneut in Schweigen.
Jonathan fragte: »Wollte Ihre Tochter vielleicht verreisen? Ist sie zu Verwandten gefahren?«
»Sie hat außer mir niemanden mehr. Seit dem Tod meiner Frau vor drei Jahren sind wir alleine.«
»Haben Sie eine Vermutung, warum Ihre Tochter weggefahren sein könnte?« Jonathan betete innerlich, dem Vater nicht zu einem Armengrab führen zu müssen, auf dessen Grabstein als Einziges ein Datum stand.
»Sie hat einen Brief hinterlassen.« Arno Kogel zog ein Blatt Papier aus der Tasche und reichte es Jonathan. Die Schreiberin schrieb offenbar nicht oft, hatte sich aber Mühe gegeben.
Lieber Vater!
Verzeih mir, was ich jetzt tue. Ich gehe fort. Ich kann nicht mehr hier leben, seit Jensen mich mit Gewalt entehrt hat. Such nicht nach mir.
Johanna
Jonathan faltete das Blatt sorgfältig zusammen und gab es dem Vater zurück. Eigentlich hätte er es behalten müssen. Es war ein Beweismittel. Doch er brachte es nicht über sich, einem Vater die letzten Worte seiner Tochter vorzuenthalten.
»Hat sie irgendwas mitgenommen? Kleider vielleicht?«
Der Vater zögerte: »Sie hat wohl ihre paar Dinge in meine Reisetasche gepackt. Wir haben nicht viel. Und sie hat etwas Geld aus der Notreserve genommen.«
»Vielleicht ist sie weitergefahren? Nach Husum? Und dort in den Zug gestiegen?«
Der Mann schüttelte nur den Kopf. Dort sei er bereits gewesen, überall habe er das Bild seiner Tochter herumgezeigt. Er zog eine Fotografie aus der Tasche. Das Porträt eines hübschen dunkelhaarigen Mädchens. »Das haben wir an ihrem sechzehnten Geburtstag machen lassen. Im Frühjahr.«
Jonathan überlegte kurz: Wenn er sich irrte, wenn das Mädchen, das sie gestern begraben hatten, nicht Arno Kogels Tochter war, würde er den Vater umsonst in Verzweiflung stürzen. Und doch passte ihr Schicksal auf das, was Pastor Weinmann ihm erzählt hatte. Er schickte Peter Krog los, um den Geistlichen zu holen. Dem Vater sagte er, Weinmann nähme sich oft verirrter Reisender an. Vielleicht hätte das Mädchen bei ihm Zuflucht gesucht.
Als Peter Krog gegangen war, saßen sich Jonathan und Arno Kogel schweigend gegenüber. Schließlich fragte Jonathan: »Bitte verzeihen Sie meine Neugier, aber wer ist denn dieser Jensen?«
»Das ist der Herr des Gutes, auf dem wir arbeiten. Ich bin dort Knecht. Und meine Tochter arbeitet als Hausdienerin. – Ach, ich wollte es einfach nicht wahrhaben …« Arno Kogel barg das Gesicht in den Händen. Jonathan ging um den Schreibtisch herum und legte ihm die Hand auf die Schulter. Endlich fuhr der Mann fort: »Ich war froh, diese Stelle gefunden zu haben. Und auch, dass der Gutsherr meine Tochter in seine Dienste nahm. Er hat mir sogar versprochen, sie wieder auf die Schule zu schicken. – Doch stets scharwenzelte er um sie herum. Machte ihr Komplimente. Geschenke. Ich hätte es wissen müssen. Aber meine Tochter war nicht so eine. Sie hätte nie freiwillig …« Der Rest des Satzes ging in den Tränen des Mannes unter. Jonathan reichte ihm ein Taschentuch. Insgeheim nahm er sich vor, diesem Jensen einmal auf den Zahn zu fühlen.
• • •
Endlich kam Peter Krog mit Pastor Weinmann zurück. Als der Geistliche die Fotografie des Mädchens sah, nickte er bloß zu Jonathan hin. Dann wandte er sich an den Vater: »Herr Kogel, ich habe leider eine traurige Nachricht für Sie.«
Der Pastor erklärte. Der Vater hörte schweigend zu, seine Hände in den Stoff seiner Mütze gekrallt. Als der Pastor seinen kurzen, traurigen Bericht beendet hatte, schwieg der Mann einen Moment, in sich zusammengesunken. Dann stand er mit einem Ruck auf: »Ich möchte ihr Grab sehen.«
• • •
Schweigend waren sie zum Friedhof gegangen: Arno Kogel, der Pastor, Peter Krog und Jonathan. Als der Vater das kleine Grab sah, verborgen zwischen anderen Gräbern unbekannter Mädchen, fiel er auf die Knie und schluchzte wie ein kleines Kind. Jonathan hockte sich neben ihn und fasste ihn bei der Hand. »Das wird Jensen mir büßen«, hörte er zwischen den Schluchzern, immer wieder und wieder.
Es dauerte lange, bis der Mann sich beruhigt hatte. Schließlich half Jonathan ihm beim Aufstehen. Es hatte an diesem Morgen geregnet, der Boden war feucht. Jetzt war die Hose des Mannes schmutzig von der Friedhofserde. Endlich traute sich Jonathan, zu fragen: »Sollen wir sie umbetten?«
»Das kann ich mir nicht leisten.« Der Mann blickte sich um, dann fuhr er fort: »Außerdem hat sie es hier gut. Man kann das Meer sehen. Sie hat das Meer immer gemocht. – Nur …«
Er deutete auf das kleine, schäbige Holzkreuz ohne Aufschrift, dass die frische Grabstelle markierte. Der eigentliche Stein mit dem Datum war noch nicht gesetzt worden. Der Pastor und Jonathan hatten wohl im selben Moment die gleiche Idee, doch Jonathan war ein Quäntchen schneller: »Ich werde ihr einen richtigen Grabstein spenden. Damit sie uns allen in Erinnerung bleibt.«
Arno Kogel umarmte ihn vor lauter Dankbarkeit so fest, dass Jonathan Angst hatte, zu ersticken.
»Auch die Lebenden gehören zu den Opfern der alten Götter«, schnarrte eine Stimme hinter ihnen.
Niemand hatte den alten Hein kommen sehen, doch plötzlich stand er da in seiner Fischerkleidung, die Hände in den Taschen. Er fixierte den trauernden Vater mit seinem Blick: »Ihre Tochter ist in die schwarze Kutsche gestiegen!«
Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stapfte durch den Nieselregen davon.
Arno Kogel zitterte. Sein Gesicht war kalkweiß geworden. »Die schwarze Kutsche?«, murmelte er.
Urplötzlich packte er Jonathan und schleuderte ihn zwischen die Gräber: »Ihr habt meine Tochter auf dem Gewissen! Ihr Mörder!«
Er stürzte sich auf den Richter, seine Hände schlossen sich um Jonathans Hals. Endlich erwachten Peter Krog und der Pastor aus ihrer Starre und rissen den kräftigen Landarbeiter zurück. Es gelang ihnen nur mit Mühe, den Mann zu bändigen.
Jonathan rang nach Luft. Mühsam zog er sich an einem Grabstein in die Höhe.
»Ich werde dich Mores lehren!« Peter Krog hatte seinen Schlagstock gezogen, doch Jonathan hielt ihn zurück: »Halt! Nicht! – Er ist doch nur ein verzweifelter Vater!«
Zögernd ließ der junge Polizist den Schlagstock sinken, doch er hielt Kogel mit eisernem Griff fest: »Soll ich ihn aus der Stadt expedieren?«
Jonathan schüttelte den Kopf: »Lassen Sie ihn los.«
Nur sehr unwillig lockerte Peter Krog seinen Griff. Beinahe lautlos glitt der Mann auf den Boden und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. Rasch eilte Jonathan zu ihm, tastete nach seinem Puls – und atmete auf, denn der Puls schlug kräftig und regelmäßig. Er hatte schon befürchtet, den Mann habe der Schlag getroffen.
Auch der Pastor war niedergekniet: »Stehen Sie auf! Möchten Sie, dass Ihre Tochter …?«
Schlagartig richtete der Mann sich auf. Peter Krog packte seinen Schlagstock fester. Doch der Mann sagte nur: »Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe mich von meinem Zorn überwältigen lassen.«
Jonathan half ihm auf: »Ich werde ein ernstes Wort mit dem alten Hein reden. Der Humor hier ist rau, aber das ging eindeutig zu weit.«
Er war nicht überzeugt von seinen Worten. Dem alten Hein war es bitterernst gewesen. Und Arno Kogel teilte offenbar seinen Aberglauben. Ob wohl in der Geschichte von der schwarzen Kutsche ein Stückchen Wahrheit steckte wie in so mancher Legende? Jonathan verdrängte den Gedanken gleich wieder. Sonst würde er noch vor Ende der Woche an alte Götter und schwarze Kutschen glauben. Er wandte sich wieder an Arno Kogel: »Ich gebe Ihnen jetzt ein Versprechen. Ich werde nicht eher ruhen, als bis Jensen seine gerechte Strafe erhalten hat.«
Doch Arno Kogel ließ nur mutlos den Kopf sinken: »Jensen ist zu reich, zu mächtig …«
»Dafür gibt es Recht und Gesetz. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
Kogel zuckte nur mit den Schultern. »Herr Pastor? Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht … Ich konnte nicht für meine Tochter da sein, als sie beerdigt wurde. Würden Sie … ein Gebet?«
Der Pastor nickte rasch: »Natürlich!«
Sie traten an das Grab. Pastor Weinmann sprach ein langes Gebet für Johanna Kogel. Und Jonathan hoffte, es möge erhört werden.
• • •
Schweigend waren sie zurück in die Stadt gegangen. Der Pastor hatte sich verabschiedet. Wieder in seinem Haus angelangt, hatte Jonathan Sonja angewiesen, dem Vater etwas zu essen zu bereiten und ein Bad einzulassen. Peter Krog, der ungefähr die gleiche Statur hatte wie Arno Kogel, half mit ein paar frischen Kleidern aus. Schließlich, es war inzwischen Nachmittag, hatte sich der Mann auf den Heimweg gemacht. Traurig. Langsam. Peter Krog hatte jemanden gefunden, der ihn in seiner Kutsche hätte nachhause fahren können, doch der Mann lehnte ab. Es sei es gewohnt, zu Fuß zu gehen.
Als er gegangen war, griff Jonathan nach dem Telefon, um im Husumer Polizeipräsidium erneut um Hilfe anzufragen.
• • •
Die Angst des Mannes verpestete die Luft um ihn herum. Aber will ich ihn tadeln deswegen? Er wusste, dass es nur wenig meiner Kraft bedurft hätte, ihn zu zerschmettern. Dennoch sprach er trotzig: »Sie sind mir etwas schuldig!«
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand: Es war seine Tochter gewesen, die mir als Nahrung gedient hatte. Die so bereitwillig zu mir gekommen war. Solche Momente bringen mich stets in Bedrängnis. Ich empfand Mitleid mit dem Mann. Wie überrascht er wohl wäre, wenn er wüsste, wie gut ich ihn verstand.
Auf seinen Wunsch war ich nicht gefasst. Als er zu Ende gesprochen hatte, wies ich meine Diener an, seine Kleider, die er in einem Bündel unter dem Arm trug – auf dem Leib trug er abgelegte Kleidung eines anderen – zu waschen, ihm zu essen und zu trinken zu geben. Als ich ihm eine Kammer für die Nacht anbot, lehnte er voller Abscheu ab.
Und so ließ ich ihn in sein Heim zurückbringen, nicht ohne heimlich reichlich Geld in sein Bündel gesteckt zu haben. Er hätte es nicht genommen, doch irgendwann würde er es brauchen.
Dann zog ich mich in meine Kammer zurück. Ein Mord will gut geplant sein.