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Bahnfahrt nach Broiversum
Оглавление»Kehren Sie sofort um!«
Die Stimme der alten Frau zerschnitt die stickige Luft des Bahnabteils. Was auch immer Jonathans Frau Katharina erwartet hatte, als sie ihren Mann stolz als den »neuen Amtsrichter von Broiversum« vorstellte: das sicher nicht.
»Kehren Sie um, bevor es zu spät ist! Broiversum ist … kein guter Ort!« Die Frau umklammerte ihre Handtasche so fest, dass die Knöchel weiß aus der vergerbt-fleckigen Haut ihrer Hände hervortraten.
Während Jonathan noch nach einer passenden Antwort suchte, legte Katharina beruhigend die Hand auf den Arm der Frau: »Broiversum ist sicher nicht –«
Mit einer schroffen Bewegung machte sich die Angesprochene los: »Seien Sie nicht so keck, junge Dame! Sie wissen nicht, wovon Sie reden. – Und Sie«, wandte sie sich unvermittelt an Jonathan, »wenn Ihnen das Leben Ihrer jungen Frau lieb ist, beherzigen Sie meinen Rat. Kehren Sie um und fahren Sie zurück nach Hamburg –«
»Berlin«, korrigierte Jonathan sie konsterniert.
»Berlin. Noch besser. Nur möglichst weit weg von diesem Ort.«
»Aber –«
»Sie werden noch an meine Worte denken. Kehren Sie um! Broiversum ist verflucht. Ihre Frau wird dort umkommen.«
Es mochte die Anstrengung der Reise gewesen sein, die angespannte Erwartung des neuen Amtes: Dies war einer der wenigen Momente seines Lebens, in denen Jonathan tatsächlich der Kragen platzte. »Ich wüsste nicht, was Sie das Ziel unserer Reise angeht«, kanzelte er die Frau in schneidendem Offizierston ab. »Und wenn Sie weiter meiner Frau Angst machen –«
»Nicht so ungestüm! Sie werden noch an mich denken!« Der eisgraue Blick und die scharfe Stimme erstickten Jonathans Widerspruch.
Die Frau wandte sich von ihm ab und sprach beschwörend auf Katharina ein: »Wenn Sie schon nach … dorthin fahren, dann seien Sie vorsichtig! Halten Sie nachts die Türen und Fenster fest geschlossen. Lassen Sie niemanden ein, den Sie nicht kennen.«
Katharina hob beschwichtigend die Hand: »Gute Dame, ich habe in Berlin gelebt –«
»Ich bin keine Dame. Und Berlin ist nicht Broiversum. Die kleinen Städte können in ihrer Friedfertigkeit täuschen. Beherzigen Sie meinen Rat, wenn Sie unbedingt nach … in diese Stadt reisen müssen.«
Sie suchte energisch in ihrer Handtasche, bis sie schließlich etwas hervorzog, das aussah wie ein verknotetes Stück Seil, das zu lange im Meerwasser gelegen hatte: »Nehmen Sie das!«
Sie gab es Katharina, die es fragend in den Fingern drehte. Jonathan wollte etwas sagen, doch mit einem Blick brachte ihn seine Frau zum Schweigen.
»Was ist das?«, fragte sie freundlich.
»Das ist ein Roibenknoten. Man sagt, das Böse müsse den Knoten erst lösen, bevor er seinem Besitzer etwas anhaben kann. Vielleicht gibt er Ihnen etwas Schutz. Und das hier …«
Sie reichte Katharina ein ledernes Beutelchen.
»Sonnenblumensamen. Verstreuen Sie sie vor Ihren Fenstern und Türen. Und denken Sie an meine Worte: Besser wäre es, sofort umzukehren. Broiversum ist ein verfluchter Ort.«
Zu Jonathans großer Überraschung bedankte sich seine Frau höflich für die befremdlichen Gaben und verstaute sie sorgfältig in ihrer eigenen Handtasche. Erleichtert versank die alte Frau in Schweigen.
• • •
Jonathan atmete innerlich auf, als die alte Frau an der nächsten Station ihren Korb aus dem Gepäcknetz holte und das Abteil verließ. Er steckte den Kopf aus dem Fenster, um sich davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich ausstieg. Er erspähte sie auf dem Bahnsteig und ließ sich erleichtert auf seinen Sitz fallen.
Als der Zug sich endlich wieder in Bewegung gesetzt hatte, lachte Katharina strahlend auf: »So fangen Schauerromane an!«
Jonathan seufzte erleichtert: »Und ich dachte schon, du hättest die alte Frau ernst genommen.«
»Kein Gedanke. Aber es war doch freundlich von ihr, dass sie sich Sorgen um uns macht. Um zwei völlig Fremde.«
Katharina hatte – wie meistens – recht. Jonathan schämte sich, dass er so aus der Haut gefahren war.
»Und«, fuhr seine Frau fort, »ein bisschen Wahrheit steckt ja in jeder Legende.«
»Meinst du?«
»Aber sicher. Ich werde vermutlich in Broiversum umkommen«, antwortete Katharina trocken.
»Was?« Jonathan erschrak.
»Natürlich. Vor Langeweile.« Katharina lachte erneut.
»Nicht doch. Du wirst sehen. Broiversum wird dir gefallen. Es ist ein schönes Städtchen. Du kannst in Ruhe deine Doktorarbeit zu Ende schreiben. Und das gesellschaftliche Leben in solch kleinen Städten –«
»Ja, ich sehe es schon vor mir«, erwiderte Katharina schnippisch. »Du fährst mit den Männern raus zum Fischen. Und ich sitze mit den treu wartenden Frauen um den Kamin und stricke. Schafwolle wird dir ausgezeichnet stehen.«
»Nun mal doch den Teufel nicht an die Wand! Außerdem will ich in Broiversum nicht meinen Lebensabend verbringen. Fünf Jahre. Höchstens! Und dann … Landgericht. Mindestens. Vielleicht in Hamburg. Oder sogar wieder in Berlin. Und bis dahin …«
»Und bis dahin?«
»Machen wir uns eine schöne Zeit! Es scheint nicht so, als sei der Amtsrichterposten von Broiversum eine aufreibende Tätigkeit.« Jonathan neigte sich verschwörerisch vor: »Weißt du, was dort der fürchterlichste, grausamste, erschreckendste Kriminalfall der letzten Jahre war?«
»Nein?« Katharinas Neugier war sofort geweckt.
»Der die Stadt wochenlang in Atem hielt? Die Sensation schlechthin?«
»Nun sag schon!«
»Der Diebstahl einer Kuh.«
Wenn Katharina lachte, strahlte die Welt und Jonathans Herz begann vor Liebe zu pochen. Seit einer Woche waren sie verheiratet, gerade noch rechtzeitig, bevor Jonathan seinen neuen Posten antreten musste. Die schönste Frau auf Erden war jetzt die Seine – und, obwohl noch keine Dreißig, war er bereits zum Richter ernannt worden. Die Welt hatte sich zum Guten gewandt.
Katharina sah noch einmal kurz zum Fenster und schüttelte den Kopf: »Mies hätte seine helle Freude an der alten Frau gehabt.«
»Oh ja, das wäre eine unterhaltsame Begegnung gewesen.«
Mies van Helsing, Jonathans bester Freund und Katharinas angeheirateter Cousin, liebte Schauergeschichten. Sein Name verpflichtete, wie er nicht müde wurde, zu betonen. Mit ihm zusammen hatten Katharina und Jonathan einen sehr vergnüglichen Abend in Hamburg verbracht, bevor er sie an diesem Morgen zum Bahnhof geleitet hatte.
Sie waren schon in Berlin ein unzertrennliches Trio gewesen: Jonathan, Mies und Katharina, die schöne Studentin der Germanistik. Beide Männer hatten um ihre Gunst geworben; in schwachen Stunden konnte Jonathan sein Glück noch immer nicht fassen. Von Natur aus eher schüchtern, hatte er sich gegen den weltgewandten Mies van Helsing keinerlei Chancen ausgerechnet. Doch das Schicksal hatte es anders gewollt.
Jonathan streckte zufrieden sein Bein auf dem Sitz aus: Jetzt, da sie das Abteil wieder für sich hatten, konnte er sich diesen Luxus erlauben. Ein Steckschuss, sein persönliches Andenken an Verdun, bereitete ihm hin und wieder Schmerzen, besonders, wenn das Wetter wechselte. Er griff wieder nach seiner Zeitung, als er sah, dass sich auch Katharina wieder in die Lektüre eines kostbar aussehenden Bandes vertieft hatte.
Die Worte verschwammen vor Jonathans Augen. Ihre Reise war sehr anstrengend gewesen. Außerdem mochten es die Nachwirkungen des vorangegangenen Abends sein. Mies war kein Kind von Traurigkeit; deshalb hatten sie erst spät ins Bett gefunden.
Schließlich ließ Jonathan die Zeitung sinken, lehnte den Kopf an das kühle Polster des Sitzes und schloss die Augen. Seine Gedanken drifteten im ratternden Rhythmus der Eisenbahn hinfort.
Doch es wollte sich kein angenehmer Traum vom Leben als Amtsrichter einer idyllischen Kleinstadt einstellen. Stattdessen sah er immer wieder Schumann vor sich, auf dem Richtblock, angestrengt nach der Amsel lauschend, dann seinen nackten Hals dem Henker beugend. Hatten sie einen Fehler gemacht? War er tatsächlich geisteskrank gewesen? Hätte es nicht die Gerechtigkeit verlangt, ihm in einer Anstalt zu helfen, anstatt ihn hinzurichten? Er spürte, wie der Blutschwall seine Schuhe traf, und zuckte zurück.
• • •
»Wieder wach, mein Lieber?« Katharinas grüne Augen strahlten.
»Ich habe nicht geschlafen«, gab er zurück.
Katharina lächelte nur: »Jaja!« Plötzlich wurde ihr Blick ernst. »Hast du wieder von Schumann geträumt?«
»Ja«, gab Jonathan widerstrebend zu.
»Schumann ist tot. Deine Grübelei wird ihn nicht wieder lebendig machen. Und, was das betrifft – seine Opfer auch nicht!« Katharina, die den Prozess als Zuschauerin aus der ersten Reihe verfolgt hatte, hatte eine klare Meinung: Sie befand das Urteil der Geschworenen für gerecht.
»Außerdem ist es jetzt vorüber«, sagte sie versöhnlich.
»Das hoffe ich.«
»Und immerhin bist du jetzt Amtsrichter. Was nicht zuletzt deiner Arbeit für die Staatsanwaltschaft zu verdanken ist.«
Katharina hatte – natürlich – recht. Nicht nur Gerichtsdirektor Pioletti, sondern auch Oberstaatsanwalt von Hofmeister hatten sich für ihn verwandt. Und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, niemand sonst wollte die Stelle. Kaum verwunderlich, wenn er bedachte, was mit seinem Vorgänger geschehen war. Aber er würde sich hüten, Katharina davon zu erzählen. Sie war ohnehin nicht eben angetan davon, ihre nächsten Jahre in einer Kleinstadt zu verbringen, weitab von all den Dingen, für die sich begeisterte: die Theater, die Oper, die literarischen Zirkel, nicht zuletzt die Universität.
»Wie weit ist es noch?«
Jonathan war dankbar, dass Katharina das Thema wechselte: »Nicht mehr lang. Zwei Stunden vielleicht. In Husum holt uns ein Automobil ab und bringt uns nach Broiversum.«
»Zwei Stunden noch! Na ja, die letzten Stunden einer Reise sind immer die längsten«, seufzte Katharina und suchte wieder die Zeile in ihrem Buch.
Sie kicherte in sich hinein, während sie las, immer wieder verstohlen zu Jonathan herüberblickend. Endlich konnte er nicht mehr an sich halten. Er platzte vor Neugier: »Was liest du da eigentlich so Amüsantes?«
»Kleist. Der zerbrochene Krug. Ich muss doch wissen, was mich als Frau eines Dorfrichters erwartet.«
»Amtsrichter. Und Broiversum ist eine Stadt.«
»Mit 1753 Einwohnern. 1755, wenn man uns mitzählt. Planen sie schon eine Untergrundbahn?«
»Es ist nicht Berlin, aber –«
»Nein, wirklich nicht. – Jedenfalls, wenn du der Dorfschönen nachsteigst, dann sei dir gewiss: Meine Türklinke trifft ihr Ziel!«
»Mit der schönsten Frau der Stadt bin ich verheiratet.« Jonathan beugte sich vor und küsste Katharina.
Ihre Wangen röteten sich: »Jonathan, das schickt sich nicht!«
»Katharina, mein Liebes. Wir sind verheiratet.«
»Dennoch! Es könnte jemand hereinkommen.«
»Mitten auf der Strecke?«
Jonathan küsste seine Frau erneut. Diesmal sträubte sie sich nicht. Katharina schloss die Augen und legte die Hände um den Nacken ihres Mannes. Endlich ließen sie voneinander ab. Erregt. Beschämt. So ganz waren sie noch nicht daran gewöhnt, verheiratet zu sein.
Jonathan ließ sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen und schlug das Jackett über seinen Schoß. Ein zufällig vorbeigehender Mitreisender mochte ins Abteil blicken und sollte nicht Zeuge seiner Erregung werden.
Draußen vor dem Fenster begann der graue Himmel aufzuklaren und versprach einen strahlenden Septembernachmittag. Die letzten Regentropfen am Abteilfenster trieben träge im Fahrtwind zur Seite, während sie sich ihrem Ziel näherten: Broiversum.
Jonathan wandte den Blick vom Fenster ab und betrachtete seine Frau. Katharina hatte sich wieder in ihr Buch vertieft, ihre Wangen noch immer leicht gerötet. Ein Strahl Sonne, der die Wolkendecke durchbrochen hatte, ließ ihr schwarzes Haar glänzen und ihre grünen Augen leuchten. Er wusste, dass er sie liebte.