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Tod durch das Beil

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Am 27. August 1921, einem Montag, betrat Staatsanwalt Jonathan Hansen um kurz nach vier Uhr morgens das Zuchthaus Plötzensee, um Zeuge einer Hinrichtung zu werden: Friedrich Schumann, wegen sechsfachen Mordes zum Tode durch das Beil verurteilt, würde bei Sonnenaufgang sterben.

Die Stille über den Gefängnismauern kroch klamm in alle Poren. Jonathan musste auf einem nackten Flur warten, während die befremdliche Prozedur ihren Lauf nahm. Bereits gegen Mitternacht hatte der Direktor des Gefängnisses dem Delinquenten eröffnet, dass er im Morgengrauen exekutiert werde. Schumann hatte seine Henkersmahlzeit eingenommen und ein letztes Mal mit seinem Verteidiger gesprochen. Jetzt untersuchte Sanitätsrat Dr. Lehnsen den zum Tode Verurteilten. Das Gesetz verlangte, dass nur völlig gesunde Menschen hingerichtet wurden.

Dankbar nahm Jonathan die Zigarette, die ihm der Mann anbot, der mit ihm auf dem Flur wartete. Während Jonathan rauchte, musterte er den Mann aus den Augenwinkeln: bulliger Kopf, kurzgeschorenes Haar, Stiernacken. Der dunkle Anzug spannte über den breiten Schultern. Er hatte sich nicht vorgestellt, doch Jonathan wusste auch so, wer er war: Scharfrichter Gröpler aus Magdeburg. Der Kürschner und ehemalige Pferdeschlachter stand den Staatsanwaltschaften mit seinem Handbeil zur Verfügung. Dafür erhielt er ein kleines monatliches Fixum und für jede Hinrichtung 300 Reichsmark sowie die notwendigen Spesen zusätzlich.

Nur in wenigen Zuchthäusern richtete man noch mit dem Handbeil hin. Fast überall benutzte man stattdessen die schnellere und sicherere Guillotine. Als das Urteil verkündet wurde, hatte Jonathan im Rausch des Triumphs Schumann diese barbarische Art zu sterben gegönnt. Aber jetzt überkam ihn der Zweifel.

Wie hatte es sein Freund Mies van Helsing formuliert? »Ist ein vorsätzlicher Mord, der dem Opfer auf die Minute genau angekündigt wird, wirklich eine gerechte Strafe? Ich habe da meine Bedenken.«

Jonathan schüttelte den Kopf, um den Zweifel zu vertreiben wie eine lästige Fliege. Friedrich Schumann war eine Bestie. Im Wald bei Falkensee war er auf die Jagd gegangen. Wer in sein Revier eindrang, hatte sein Leben verwirkt. Die Männer tötete Schumann sofort, die Frauen, nachdem er sie »besessen« hatte. Elf Morde hatte man ihm zur Last gelegt. Sechs hatte man ihm nachweisen können. Die Geschworenen hatten kaum den Gerichtssaal verlassen, als sie zurückkehrten, um ihr einstimmiges Urteil zu verkünden: Tod durch das Beil.

Monatelang hatte Jonathan als Assistent von Oberstaatsanwalt von Hofmeister auf Schumanns Verurteilung hingearbeitet. Hatte mit Zeugen gesprochen. Beweise gesammelt. Stumm vor verzweifelten Angehörigen gesessen, deren Frau oder Mann, Tochter oder Sohn, Schwester oder Bruder Schumann ohne Erbarmen getötet hatte.

Die Tür zur Todeszelle öffnete sich. Dr. Erich Frey, Schumanns Verteidiger, trat heraus, blass, mit dunklen Ringen unter den Augen, doch Anzug und Monokel saßen korrekt wie immer. Er hielt sich nicht lange mit Begrüßungsfloskeln auf, sondern streckte Jonathan mehrere eng beschriebene Zettel hin: »Es ist unglaublich! Nicht elf Morde! Fünfundzwanzig hat Schumann begangen. Hier, sein Geständnis!«

Wider Willen spürte Jonathan einen Hoffnungsfunken in sich aufglimmen. Vielleicht war es aber auch nur der Wunsch, nicht Zeuge zu sein, wenn einem Menschen der Kopf abgeschlagen wurde: »25! Aber das ist doch –«

»Verrückt. Richtig. Ganz klar Paragraf einundfünfzig. Der Mann gehört nicht hingerichtet, sondern in eine Anstalt!«

»Und jetzt?«

»Schumann weigert sich. Er will hingerichtet werden. Mir sind die Hände gebunden.«

Dr. Frey krümmte sich und stöhnte leise. Der Anwalt war nierenkrank und hatte eine dringend notwendige Kur unterbrochen, um seinem Klienten beizustehen. Rasch winkte Jonathan einem Wärter, der einen Stuhl und kurz darauf eine Tasse heißen Tees für Dr. Frey brachte.

Als sich der Anwalt wieder beruhigt hatte und seine Schmerzen abgeklungen waren, gab er Jonathan die Zettel: »Hier. Nehmen Sie das. Vielleicht kann das Geständnis wenigstens den Angehörigen etwas Seelenfrieden spenden.«

• • •

Zwei kräftige Wärter führten Schumann zum Richtblock. Mit gedämpfter Stimme verlas der Gefängnisdirektor noch einmal das Urteil. Als der Geistliche das letzte Gebet sprach, unterbrach ihn der Delinquent: »Pst.«

Er lauschte kurz, bevor er weitersprach: »Das ist eine Amsel. Sie passt auf, dass niemand ihrem Revier zu nahe kommt.«

Die Anwesenden, Pfarrer wie Henker, Gefängnisdirektor wie Wärter, lauschten angestrengt, bis auch sie den Gesang des Vogels hören konnten.

Schumann starb, ohne einen weiteren Laut von sich zu geben. Mit einem einzigen Schlag trennte der Scharfrichter den Kopf vom Rumpf. Eine Blutfontäne besudelte die Schuhe derjenigen, die sich nicht vorgesehen hatten.

• • •

»Sie wollen sich also wirklich versetzen lassen?«

Landgerichtsdirektor Pioletti war trotz seines Namens Preuße durch und durch, Offizier des Weltkriegs und jetzt einer der führenden Juristen der jungen Weimarer Republik. Er putzte seine Brille mit einem Taschentuch. »Schade. Oberstaatsanwalt von Hofmeister hält große Stücke auf Sie. Er war – wie wir alle übrigens – sehr beeindruckt von Ihrer Arbeit im Fall Schumann.«

Jonathan räusperte sich, doch er wagte es nicht, den Blick von seinen Schuhspitzen zu heben.

»Der Fall Schumann setzt Ihnen zu?«, fuhr der Landgerichtsdirektor fort. »Uns allen. Man fragt sich: Ist dies der Anfang vom Ende? Sind wir wirklich nicht mehr als mühsam gezähmte Raubtiere? – Sie wollen bald heiraten?«

Überrascht von diesem plötzlichen Themenwechsel bejahte Jonathan.

»Sehr schön. Eigentlich kann ich sehr gut verstehen, dass Sie fort wollen aus Berlin. An einen sicheren Ort. Wenn es den noch gibt. – Aber vielleicht habe ich etwas für Sie. Eine vor Kurzem frei gewordene Stelle, die rasch wieder besetzt werden muss. Man hat mich um eine Empfehlung gebeten. Sie sind doch Norddeutscher, gebürtig aus Tönning?«

»Ja, dort bin ich geboren, aber meine Eltern sind kurz nach meiner Geburt ins hessische Waldberg –«

»Einerlei. Ich denke trotzdem, dass Sie der Richtige sein könnten. Vorausgesetzt –« Pioletti machte eine jener rhetorischen Kunstpausen, mit denen er auch seine Urteile an besonders dramatischen Stellen zu illustrieren pflegte. In den Anwaltszimmern von Moabit sprach man hinter vorgehaltener Hand von der Pioletti-Pause.

»Vorausgesetzt«, fuhr er endlich fort, »es ist immer noch Ihr Wunsch, Richter zu werden.«

Die Herrin

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