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Die schwarze Kutsche
ОглавлениеDer Tag, der dazu bestimmt war, Katharina und Jonathan in Broiversum willkommen zu heißen, war der Tag des jährlichen Hafenfests. Die beschauliche Kleinstadt an der Nordsee war an diesem Sonntag festlich geschmückt; alle Bewohner waren auf den Beinen.
Katharina hatte sich bei ihrem Mann untergehakt; das junge Paar spazierte durch die strahlende Spätsommersonne dem Zentrum des Festes entgegen. Die Menschen, die ihnen begegneten, grüßten sie respektvoll. Mit Stolz bemerkte Jonathan die neidischen Blicke der Männer: Katharina, die schönste Frau von Broiversum (zumindest nach seiner unmaßgeblichen Meinung), war die Seine. Das blaue Ausgehkleid mit der raffiniert geschnürten Korsage, die ihre schlanke Taille betonte, hatte zu Katharinas Erheiterung ihr Dienstmädchen vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt. Jonathan hatte ihr zur Hand gehen müssen. Unter dem tadelnden Blick des Hausmädchens hatte er seiner Frau beim Ankleiden geholfen. Sonja, so hieß die junge Frau, war nicht nur sehr groß und sehr blond, sondern auch sehr streng. Kichernd hatte Katharina ihr den Spitznamen »Sonja Resoluta« gegeben.
Katharinas schwarze Locken umspielten ihre Schultern im leichten Wind. Auf einen Hut hatte sie verzichtet; ein kleiner Schirm in ihrer Hand schützte sie vor der Sonne. Manchmal erfasste eine kleine Böe das schöne Paar und wehte einen Hauch von Katharinas Parfüm zu Jonathan. Dann musste er sich zwingen, nicht seinem Bedürfnis nachzugeben und Katharina vor allen Leuten zu umarmen und zu küssen.
Jonathan trug einen hellgrauen Anzug nach der neuesten Mode, zu dem ihn sein Freund Mies van Helsing überredet hatte. Auf seinem sorgfältig frisierten Haar saß ein passender Zylinder. In seiner Hand trug er einen Gehstock mit silbernem Knauf, den er gelegentlich wegen seines verletzten Beines benötigte. Das behauptete Jonathan zumindest. Katharina hatte allerdings den Verdacht geäußert, dieses Accessoire sei eher der ansteckenden Eitelkeit Mies van Helsings zu verdanken.
An diesem Tag zumindest brauchte Jonathan den Gehstock nicht. Seine Schritte waren leicht und federnd, als wollten sie den Spekulationen seiner Frau recht geben. Er war ein wenig nervös, denn ihm, dem neuen Bürger und Würdenträger von Broiversum, war die Aufgabe zugefallen, das Hafenfest offiziell zu eröffnen.
• • •
Um die kleine Tribüne auf dem Hafenplatz hatte sich bereits eine große Traube von Menschen versammelt; ehrfürchtig wichen sie vor Jonathan und Katharina zurück und bildeten ein Spalier. Aus den Augenwinkeln sah Jonathan, wie eine Frau ihren Mann in die Seite knuffte, weil er Katharina allzu anerkennend musterte.
Vor der Tribüne spielte eine Kapelle, dirigiert von einem kleinen, kugelrunden Mann. Jonathan kannte Pastor Weinmann bereits von seinem Antrittsbesuch. Der Geistliche von Broiversum hüpfte munter auf und ab, um die Musiker zu Höchstleistungen anzuspornen. Unter Mühen erkannte Jonathan das Stück, das sie spielten: den »Sommer« aus Vivaldis »Vier Jahreszeiten« – oder das, was davon noch übrig blieb, nachdem man Streicher durch Bläser und Begabung durch Passion ersetzt hatte.
Der Mann, der ihnen entgegen die Treppe der Tribüne heruntereilte, schien sich bei der Auswahl seiner Kleidung im Jahrhundert vertan zu haben: Er trug einen altmodisch geschnittenen Gehrock über der seinen imposanten Bauch umspannenden Weste. Die Kette des Bürgermeisters klirrte im Rhythmus seiner Schritte. Der buschige Bart wäre eines kaiserlichen Reichskanzlers würdig gewesen. Das ihm verbliebene Haar umschloss sein Haupt wie ein Ehrenkranz. Seinen Zylinder hatte der Mann abgenommen und hielt ihn in der Hand. Die kindlich-großen blauen Augen, die so gar nicht zu der majestätischen Erscheinung passen wollten, strahlten. Bürgermeister Arne Steen liebte seine Stadt aufrichtig. Nichts bereitete ihm mehr Freude, als sie zu feiern. Jetzt allerdings trieb ihm das Lampenfieber den Schweiß auf die Stirn. Er begrüßte Katharina und Jonathan so überschwänglich, wie es ihm seine Amtswürde gerade eben erlaubte: Katharina mit Verneigung und der Andeutung eines Handkusses, Jonathan mit einem Händedruck, der, hätte er nur ein paar Sekunden länger gedauert, sicher bleibende Schäden hinterlassen hätte.
Auf der Tribüne war ein langes Band in den Landesfarben gespannt. Jonathan wusste, dass er es zur Eröffnung mit einer Schere durchschneiden sollte. Doch vorher würde der Bürgermeister eine kleine Ansprache halten; und auch von ihm wurden ein paar Worte erwartet. Hoffentlich blamierte er sich nicht. Man hatte ihn als echten Tönninger angekündigt, doch er sprach noch nicht einmal Plattdeutsch. In Berlin hatte er wenigstens den hessischen Dialekt des Dorfes, in dem er aufgewachsen war, gegen ein halbwegs akzentfreies Hochdeutsch eingetauscht. Würde das reichen? Denn schließlich war auch Berlin nicht überall in Deutschland wohlgelitten.
Es war so weit. Bürgermeister Steen trat an das kleine Rednerpult. Die Kapelle verstummte. Katharina atmete erleichtert auf. Dann drückte sie aufmunternd Jonathans Arm, während der Bürgermeister zu sprechen begann: »Liebe Bürgerinnen und Bürger von Broiversum! Ihr wisst, wie gerne ich selbst unser jährliches Hafenfest eröffne. Doch in diesem Jahr ist es mir eine Ehre, dieses Privileg abzugeben. Gestern hat unsere Stadt zwei neue Bürger bekommen. Unseren neuen Amtsrichter Jonathan Hansen und seine bildschöne Frau Katharina …«
Jonathan konnte geradezu spüren, wie Katharina neben ihm errötete. Komplimente waren ihre Sache nicht.
»Und mit der Justiz muss man sich gut stellen«, fuhr Bürgermeister Steen fort und erntete dafür einige herzliche Lacher. »Deshalb habe ich in diesem Jahr unseren neuen Amtsrichter gebeten, uns die Ehre zu geben und das Hafenfest für uns zu eröffnen.«
Die Zuschauer klatschten und schauten neugierig zu Jonathan, der eigentlich mit einer längeren Rede gerechnet hatte und deshalb einigermaßen überrascht ans Rednerpult trat. Im Kopf wirbelte seine sorgsam vorbereitete Ansprache durcheinander; er wusste nicht mehr, wie er beginnen, geschweige denn fortfahren oder gar enden sollte.
Er räusperte sich, blickte auf. Alle eintausendsiebenhundertdreiundfünfzig Bürger Broiversums starrten ihn gleichzeitig erwartungsvoll an. Sie waren still. Zu still für Jonathans Geschmack. Jetzt galt es, doch die Worte blieben aus.
»Kurz und prägnant«, so hatte es Oberstaatsanwalt von Hofmeister immer gepredigt, »muss ein Plädoyer sein.« Diesen Satz flüsterte Katharina ihm jetzt leise zu. Plötzlich wusste Jonathan, was er sagen musste. Er verwarf seine Rede und begann zu sprechen:
»Liebe Bürgerinnen und Bürger von Broiversum! Gerne wirft man uns Juristen vor, Verfahren in die Länge zu ziehen. Daher fasse ich mich ganz kurz: Ich freue mich, Ihr neuer Amtsrichter zu sein und möchte nun mit Ihnen feiern. Deshalb eröffne ich jetzt das diesjährige Hafenfest von Broiversum.«
Er nahm die bereitliegende Schere vom Rednerpult und trat an das Band. Gerade als es schien, er würde schneiden, blickte er noch einmal auf: »Im Namen des Volkes …« Landgerichtspräsident Pioletti wäre ob dieser Kunstpause vor Neid erblasst. »Und vor allem im Namen aller Bürger von Broiversum!« Mit diesen Worten schnitt Jonathan das Band durch.
Stolz sah er ins Publikum, doch die Menge schwieg. Fragend drehte Jonathan sich um; Bürgermeister Steen reichte ihm mit steinerner Miene ein kleines Glas mit einer durchsichtigen, leicht öligen Flüssigkeit. Jonathan begriff: Es fehlte noch ein Trinkspruch. Er nahm das Glas und wandte sich wieder der wartenden Menge zu: »Ich erhebe mein Glas auf die wunderschöne Stadt Broiversum, die nun meine neue Heimat sein wird, und auf ein schönes Hafenfest. Und möge jeder Tag im nächsten Jahr ein Feiertag sein!« Er stieß mit dem Bürgermeister an, hob das Glas an den Mund und trank.
Feuer der Hölle! Flammendes Inferno! Hatte man aus Versehen Benzin in sein Glas gefüllt? Das musste die lokale Spezialität sein, ein aus Birnen und Kartoffeln gebrannter Schnaps, Puntendreher genannt. Jonathan schluckte und atmete tief durch. Der Schnaps zog eine Feuerspur durch seine Eingeweide. Doch Jonathan würde sich nicht gleich bei seinem ersten öffentlichen Auftreten eine Blöße geben. Freundlich lächelnd hielt er dem Bürgermeister das leere Glas hin: »Könnte ich noch einen bekommen?«
Wohl noch nie war in Broiversum so lange bei einer Hafenfesteröffnung gelacht und geklatscht worden. Jonathan hatte die Feuertaufe mit Bravour bestanden. Trotzdem nippte er nur vorsichtig an dem neu gefüllten Glas. Er drehte sich zu seiner Frau um, um ihr zuzuprosten. Deshalb sah er nicht, was unten auf dem Platz geschah. Er hörte nur, wie der Applaus schlagartig verstummte.
Eine Kutsche war auf den Platz eingefahren. Die Menge war ängstlich vor ihr zurückgewichen. Die Kutsche war tiefschwarz, ihre Fenster waren verhängt. Auf dem Kutschbock saß ein Kutscher in schwarzer Livree. Zwei schwarze Pferde waren vor die Kutsche gespannt; sie bewegten sich unruhig in ihren Geschirren.
In einem der Fenster der Kutsche wurde der Vorhang ein kleines Stück aufgezogen. Jonathan versuchte angestrengt, den Fahrgast zu sehen, doch er blieb im Dunklen verborgen. Schließlich schloss sich der Spalt im Vorhang wieder, die Kutsche setzte sich in Bewegung, rollte mit rasch zunehmender Geschwindigkeit die Hafenpromenade hinunter und verschwand hinter einer Kurve. Das Trappeln der Hufe verlor sich in der Ferne.
Der Spuk konnte nicht länger als eine Minute gedauert haben, doch Jonathan kam es wie eine Ewigkeit vor. Er fröstelte. Die Sonne hatte für den Moment ihre Wärme verloren.
Die Menge löste sich aus ihrer Erstarrung; doch nur wenig war von der Fröhlichkeit geblieben, mit der die Menschen eben noch ihren neuen Amtsrichter und die Eröffnung des Hafenfestes gefeiert hatten. Jonathan hörte sie aufgeregt und ängstlich murmeln. Auch das Lächeln von Bürgermeister Steen war in sich zusammengefallen. Doch der hob rasch sein Glas und rief: »Auf das Hafenfest!«
Dann winkte er der Kapelle. Sie begann einen heiteren, schnellen Marsch zu spielen. Schlagartig war der Platz von seinem Bann erlöst. Übertrieben fröhlich strömte die Menge zu den dargebotenen Vergnügungen.
Bürgermeister Steen bedankte sich bei Jonathan für die wirklich gelungene Eröffnung. Wie ihm denn der Puntendreher geschmeckt habe? Das sei die hiesige Spezialität, die gäbe es nur Broiversum. Und man wolle doch wissen, ob der neue Würdenträger dem Puntendreher auch gewachsen sei. Er sprach schnell, fast hysterisch, während er Jonathan und Katharina die Treppe des Podestes hinunter geleitete. Am Fuß der Treppe brauchte er eine Atempause. So konnte Katharina die Frage stellen, die auch Jonathan auf der Seele brannte: »Wem gehörte die Kutsche?«
»Welche Kutsche?«, fragte Bürgermeister Steen über alle Maßen erstaunt. Jonathan wusste um das hitzige Temperament seiner Frau, wenn sie das Gefühl hatte, nicht ihrer Intelligenz angemessen behandelt zu werden. Deswegen beantwortete er rasch die Gegenfrage: »Die schwarze Kutsche, die eben über den Hafenplatz gefahren –«
»Sie müssen sich täuschen!«, schnitt ihm der Bürgermeister das Wort ab. »Während des Hafenfestes ist der ganze Platz für Fuhrwerke aller Art gesperrt. – Und nun möchte ich Sie gerne etwas herumführen.«
Damit ging er schnellen Schrittes ihnen voran über den Platz. Jonathan und Katharina konnten kaum folgen und verloren ihn beinahe in der Menge, als er plötzlich stehen blieb. Jonathan drückte Katharinas Arm, damit sie nicht unversehens das unterbrochene Thema wieder aufgriff. Doch dazu hätte sie auch gar keine Gelegenheit gehabt.
»Darf ich Ihnen meine Frau und meine Tochter vorstellen?«
Mutter und Tochter – um das zu erkennen, hätte es die Vorstellung nicht gebraucht. Beide waren dünn, trugen das gleiche schwarze Kleid und ihre schmalen ovalen Gesichter waren vom gleichen aschblonden Haar umgeben. Nur eines hatte die Tochter von ihrem Vater geerbt: die großen blauen Kinderaugen. Die Mutter hingegen musterte sie mit stahlgrauen Augen durch eine schmal gefasste Brille. Die Tochter war gerade siebzehn, wie Jonathan bereits wusste, und auf zerbrechliche Weise hübsch, so wie es ihre Mutter wohl einmal gewesen war. Jetzt blickte Frau Steen viel zu tadelnd und zornig, um schön zu sein: »Arne Steen, wie kannst du nur?«, wies sie ihren Mann zurecht. »Und das bei der Eröffnung des Hafenfestes!«
Sie wandte sich an Jonathan und schaffte es sogar, ihrer scharfen Stimme ein Quäntchen Sorge abzuringen: »Die Unsitte, Neuankömmlingen ohne Vorankündigung einen Puntendreher zu verabreichen, gehört leider zu den Ritualen dieser Stadt. Unser Humor ist ein wenig rau. Ich hoffe, Sie haben sich nicht verschluckt, Herr Amtsrichter.«
Jonathan verneinte höflich und fügte hinzu, außerhalb des Gerichtssaales sei er einfach nur Herr Hansen. Doch Frau Steen hatte sich bereits Katharina zugewandt und fragte streng wie eine Grundschullehrerin: »Ich habe gehört, Sie waren auf der Universität?«
Katharina warf ihrem Mann einen überraschten Blick zu. Doch Jonathan war viel zu stolz auf seine studierte Frau, als dass er bei seinem Antrittsbesuch dieses Detail hätte unerwähnt lassen können.
»Ich habe einen Magister in deutscher Literatur«, antwortete sie schroffer, als vielleicht angemessen war.
»Und demnächst wird sie promovieren!«, fügte Jonathan hinzu, bevor Katharina ihm einen Knuff in die Seite geben konnte. Nicht überall, so hatte sie die Erfahrung gelehrt, war eine studierte Frau angesehen. Doch die Frau des Bürgermeisters hatte sich schon wieder an ihren Mann gewandt: »Da siehst du es, Arne Steen! Eine Frau kann durchaus studiert haben und eine gute Ehefrau sein. – Unsere Tochter Eve möchte gerne Ärztin werden«, erklärte sie Katharina und Jonathan, »eine gute und nützliche Idee, wie ich finde. Doch mein Mann ist dagegen.«
Bürgermeister Steen trat verschämt von einem Fuß auf den anderen wie ein 100 Kilo schwerer Schuljunge. Es war leicht zu erraten, wer im Hause Steen das Sagen hatte. »Ich bin nun mal ein altmodischer Mensch«, verteidigte er sich. »Ich denke, zu viel Bildung lenkt eine Frau von ihren Pflichten ab.«
Wenn Blicke töten könnten, hätten die drei Frauen den Bürgermeister wohl in diesem Augenblick zu Asche verbrannt.
»Ich meine, eine Frau kann ja einen Akademiker auch heiraten, nicht wahr? So ein Amtsrichter wäre doch eine feine Partie – wenn er nicht schon vergeben wäre.« Der Bürgermeister lachte. Als Einziger.
»Arne Steen, du faselst!« Damit bedeutete die Frau des Bürgermeisters Katharina und Jonathan, sie und ihre Tochter zu begleiten. Wie ein schmollendes Kind tapste der Bürgermeister hinter ihnen her.
Sie spazierten über die Hafenpromenade. Entlang des Kais hatten reich geschmückte Schiffe festgemacht. Die Kapitäne wetteiferten darin, einander im Prunk zu übertreffen, denn zum Abschluss des Festes würde das schönste Schiff prämiert werden. Die Besatzungen trugen bereits ihre feinsten Uniformen, während sie über die Decks eilten und die letzten Verzierungen anbrachten.
Auf der Landseite der Promenade standen schmucke Häuser, in denen traditionell die Kapitäne und Reeder der Stadt wohnten. Auch sie waren reich geschmückt, und so manches Heim war nur für diesen Tag frisch gestrichen worden.
Kleine Stände boten Imbisse an, natürlich aus fangfrischem Fisch, in jeder nur erdenklichen Form zubereitet. Um einen Stand hatten sich besonders viele Schaulustige versammelt: Ein sehr exotisch aussehender Mann, laut der Schrift auf seinem Stand aus dem fernen Japan, schuf dort mit einem scharfen Messer und geschickten Fingern aus dünnen Scheiben rohen Fisches, aus Reis und aus noch exotischeren Zutaten kleine Kunstwerke. Ein Schild versprach, dass sie essbar seien. Doch niemand traute sich, sie zu kosten.
Katharina hakte ihren Mann unter und drängte ihn beharrlich in die erste Reihe: »Der Puntendreher hat dich berühmt gemacht in Broiversum, jetzt machen wir dich unsterblich«, raunte sie ihm ins Ohr. Sie signalisierte dem Mann, dass sie zwei Kostproben wünschte. Er nahm ein Blatt Papier von einem Stapel, das er zum Erstaunen des Publikums geschickt zu einem Teller faltete. Auf diesem Teller reichte er Katharina die beiden Kostproben, die sie ausgewählt hatte.
Jonathan wurde ein wenig flau im Magen bei dem Gedanken, rohen Fisch zu essen. Doch Katharina hatte bereits einen Handschuh abgestreift und reichte ihm den Teller, bereit es ihm gleichzutun, sobald er probiert hatte. Behutsam nahm er eines der beiden Kunstwerke und biss ein Stück ab. Der rohe Fisch prickelte sanft auf der Zunge, der Bissen zerschmolz von selbst in Jonathans Mund, während er immer neue Geschmacksnuancen offenbarte. Katharina hatte nun ihr Stück probiert und war gleichfalls sehr angetan. Sie bedeuteten dem Mann hinter dem Stand, dass sie es exzellent fänden. Er bedankte sich für das Kompliment mit einer Verbeugung.
Nachdem Katharina sich die Finger mit ihrem Stofftaschentuch gesäubert hatte, streifte sie ihren Handschuh wieder über und hakte sich bei ihrem Mann ein. Unter den bewundernden Blicken der sie umgebenden Menschen schlenderten sie davon. Hinter ihnen begannen die staunenden Zuschauer, es ihnen gleichzutun und die kleinen Kunstwerke zu kosten.
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Ihr Weg führte sie schließlich an das Ende der Hafenpromenade auf einen kleinen, runden Platz. Dort endete die Kaimauer am Fuße des Deichs, der die Bucht, an der Broiversum lag, in sanftem Schwung umschloss. Wie ein Bollwerk umschlossen dicke Mauern die Hafeneinfahrt. Mehrere große Schwungräder ragten auf der anderen Seite der Einfahrt aus der Erde und offenbarten sich als Teil einer gigantischen Maschine. Auf sie deutete jetzt Arne Steen, der ein mit Fisch belegtes Brötchen verspeist hatte und deutlich besserer Laune war: »Das ist unser Hafentor – einmalig in seiner Konstruktion. Sogar Ingenieure aus dem fernen Amerika haben den Mechanismus studiert.« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Im Falle einer Sturmflut wird ein Mechanismus in Bewegung gesetzt, der das große Tor von selbst schließt. So ist der Hafen auch bei schwerstem Wetter geschützt.«
Jonathan hatte bereits vom Broiversumer Sturmtor gelesen und musterte die Konstruktion fasziniert. Doch Katharina schaute bereits in eine andere Richtung: Links neben dem Tor, auf einer kleinen Anhöhe, die man, wie Jonathan wusste, Warft nannte, stand ein großes Haus. Es war vollständig aus schwarzem Stein erbaut und wirkte finster, verlassen. Alle Fensterläden waren geschlossen. Ein Geisterhaus, dachte Jonathan und musste im nächsten Augenblick schmunzeln. Dann sah er die Pfütze, die sich vor der Toreinfahrt gebildet hatte. Erst vor Kurzem war eine Kutsche hindurchgefahren: Die Spuren der Räder waren noch deutlich auf dem Pflaster zu erkennen. Katharina wandte sich zu ihren Führern um: »Wem gehört dieses Haus?«
Bürgermeister Steen antwortete knapp: »Das ist das Haus der Herrin.«
Jonathan wollte gerade nachfragen, was es mit der Antwort auf sich habe, da hörten sie lautes Schreien auf der Promenade. Bürgermeister Steen eilte davon, um zu sehen, was sich ereignet hatte.
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Schon von Ferne konnten Jonathan und Katharina den Menschenauflauf um eines der Schiffe sehen. Die Menschen waren still, ihre Blicke waren besorgt. Zwei Männer kamen mit einer Trage gelaufen und drängten sich durch die Menge.
Einer der Matrosen habe ganz oben am Mast noch eine Verzierung anbringen wollen, erzählte man Jonathan und Katharina aufgeregt; er sei abgerutscht und auf das Deck gestürzt.
Ein Automobil, das gleiche schwarze Modell, das Katharina und Jonathan am Vortag in Husum abgeholt hatte, bahnte sich kurze Zeit später einen Weg durch die Menge. Vorsichtig hob man den Verletzten hinein. Er war mit einem blutbefleckten Laken bedeckt. Bürgermeister Steen drängte sich wieder zu Katharina und Jonathan: »Er lebt und wird durchkommen, dem Himmel sei Dank!«, berichtete er atemlos. »Man bringt ihn jetzt nach Husum ins Krankenhaus. Ich werde ihn begleiten.«
Damit eilte er wieder davon. Jonathan sah, wie er in den Wagen stieg. Der Fahrer, wieder ein Mann in schwarzer Livree, ließ die Limousine behutsam anrollen.
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Allmählich verlief sich die Menge vor dem Schiff. Das Fest nahm seinen Fortgang, aber die Stimmung war bedrückt. Auch Jonathan und Katharina wollten ihren Rundgang fortsetzen, als ein Mann auf sie zu kam. Er war groß und schlank, sein graues, volles Haar modisch geschnitten. Doch seine Frisur war durcheinandergeraten und ein Ärmel seines Rocks war blutbefleckt. Er wischte sich die Hände mit einem Taschentuch sauber, bevor er Jonathan und Katharina begrüßte.
»Doktor Stiebensdorn« stellte er sich vor. »Ich bin der Arzt von Broiversum.«
»Wie geht es dem Verletzten?«, fragte Katharina rasch.
»Er wird durchkommen. Ein paar Knochenbrüche und eine Platzwunde, aber nichts Lebensbedrohliches. Er hat Glück gehabt. Ich habe ihm eine Spritze gegeben.« Dr. Stiebensdorn zögerte einen Moment, um dann umso schneller fortzufahren: »Gegen die Schmerzen.«
Jonathan ertappte sich bei dem Gedanken, dass der Arzt etwas verbarg. Doch gleich verdrängte er den Gedanken wieder: Er war wohl zu lange bei der Staatsanwaltschaft gewesen und sah überall Verdächtige.
»Der junge Mann kann einem leidtun«, sagte Dr. Stiebensdorn mitfühlend. »Erst vor zwei Jahren hat er seine Frau verloren und jetzt dieser Unfall. – Haben Sie Probleme mit Ihrem Bein?«, wechselte er rasch das Thema.
Jonathan war gar nicht aufgefallen, dass es sich inzwischen auf seinen Stock stützte. Beschämt stellte sich aufrecht: »Manchmal. Eine Kriegsverletzung.«
»Sie waren im Krieg? Lange?«
»Zwei Jahre. Frankreich.« Jonathan sprach nicht gerne darüber.
»Furchtbare Sache.« Dr. Stiebensdorn schüttelte den Kopf. »Wenigstens sind die Broiversumer Söhne alle heil zurückgekehrt. Hoffen wir, dass mit der Republik friedlichere Zeiten gekommen sind. – Sie müssen mir erlauben, Ihr Bein einmal zu untersuchen. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«
»Ach«, Jonathan zuckte mit den Schultern, »da haben sich in Berlin schon so viele Ärzte bemüht. Ich denke, die Zeit wird es heilen. Außerdem –«, er lachte gezwungen, »außerdem hat es auch sein Gutes. So konnte ich wenigstens Jura zu Ende studieren. – Und meistens habe ich keine Beschwerden.«
»Nun, wer weiß. Schauen Sie bei Gelegenheit in meiner Praxis vorbei. Termine sind selten von Nöten. Broiversum hat ein gesundes Klima.«
In der Ferne hatte die Kapelle wieder zu spielen begonnen. Erneut Vivaldi. Dr. Stiebensdorn sah Katharinas Leidensmiene: »Der gute Pastor Weinmann. Seit Jahren müht er sich damit ab, dem Posaunenchor Musikalität einzutrichtern. Eine wahre Sisyphosarbeit.«
Der Arzt erklärte ihnen den Hafen, während sie gemächlich am Kai entlang schlenderten. Er zeigte ihnen die Werft und die Lagerhäuser auf der anderen Seite des Beckens. »Das Reich von Hein Peters. – Sie werden ihn sicher bald kennenlernen. Der reichste Mann in unserer Stadt.«
Jonathan fiel auf, dass er »Mann« betonte. Die Erklärung bekam er wenig später. Wieder standen sie auf dem runden Platz am Ende der Hafenpromenade. Jonathan und Katharina konnten ihren Blick nicht von dem großen, schwarzen Haus auf der Warft abwenden.
»Das ist das Haus der Herrin« wiederholte Dr. Stiebensdorn die Worte des Bürgermeisters. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Sie ist die reichste Bürgerin der Stadt. Leider auch alt und krank. – Sie geht kaum aus dem Haus. Das Automobil gehörte übrigens ihr. Sie ist immer sehr hilfsbereit.«
»Weit ist es gekommen!« Die tiefe, raue Stimme erklang direkt hinter ihnen. »Die schwarze Kutsche fährt jetzt schon am helllichten Tag.« Der alte Mann, der aus dem Nichts hinter ihnen aufgetaucht war, trug Fischerkleidung. Sein Gesicht war vom Leben an der See verwittert. Er mochte achtzig sein, doch er hielt sich kerzengerade.
»Denken Sie an meine Worte, Amtsrichter Hansen.« Damit drehte er sich um und stapfte davon.
Jonathan brauchte einen Augenblick, um sich von dem Schreck zu erholen. »Wer war das?«
Dr. Stiebensdorn zuckte mit den Achseln: »Ach, das war der alte Hein. Der Vater unseres Reeders. Ein rechter Spökenkieker. Nehmen Sie ihn nicht allzu ernst.«
Jonathan wollte Dr. Stiebensdorn erneut nach der schwarzen Kutsche fragen, doch der Arzt sprach rasch weiter: »Der etwas exzentrische Lebensstil der Herrin ist natürlich Anlass für allerlei Gerüchte. In Broiversum ereignet sich sonst nicht viel, worüber sich zu reden lohnt. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie die reichste Bürgerin der Stadt ist. Und die größte Auftraggeberin der Werft. – Die Menschen hier sind nicht gerne abhängig.«
»Nutzt sie ihre Macht denn aus?«, fragte Katharina neugierig und, wie Jonathan fand, ein wenig impertinent.
»Kein Gedanke. Im Gegenteil. Kein Mensch in der Stadt, dem sie nicht schon geholfen hätte.«
Jonathan räusperte sich: »Dann werde ich ihr in den nächsten Tagen einmal meine Aufwartung machen. Ich denke, das gehört sich so.«
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Dr. Stiebensdorn eilig. »Sie lebt sehr zurückgezogen und empfängt selten Besuch.« Schwungvoll wechselte der Arzt das Thema. »Sind Sie eigentlich sportlich, Herr Hansen?«, fragte er.
Überrascht antwortete Jonathan, dass er an der Universität ein leidlicher Leichtathlet gewesen sei.
»Dann möchte ich Sie hiermit bitten, unsere Boßelmannschaft zu verstärken.«
»Ihre was?«
»Unsere Boßelmannschaft. Boßeln ist unsere Nationalsportart.«
Während sie weiterschlenderten und das Haus der Herrin hinter sich ließen, erklärte ihm Dr. Stiebensdorn begeistert das Spiel.
»Und?«, fragte er wenig später. »Sind Sie dabei? Schlagen Sie ein?«
Jonathan reichte ihm die Hand, noch bevor er wusste, wie ihm geschah.
»Sie werden sehen, Boßeln wird Ihnen Freude bereiten. Gut für Ihr Bein ist es sicher auch.«
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Später am Abend saßen Katharina und Jonathan vor ihrem Kamin und gönnten sich in Ruhe ein Glas Rotwein.
»Du willst also wirklich die Ehre der Stadt im sportlichen Zweikampf verteidigen? Indem du Kugeln aus Holz und Stahl über Wassergräben wirfst?« Katharina amüsierte sich noch immer königlich.
»Natürlich. Es ist eine Ehre, dass sie mich gefragt haben.«
»Vermutlich müssen Sie einen der Honoratioren der Stadt in die Mannschaft aufnehmen«, spekulierte Katharina. »Und Bürgermeister Steen und der Pastor wirken nicht besonders sportlich.«
»Mag sein. Aber auf jeden Fall ist es gut, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Schließlich werden wir ein paar Jahre hier sein.«
»Ich hoffe aber, du erwartest nicht von mir, zum Handarbeitskreis zu gehen. Frau Steen hat mich vorhin bereits deswegen angesprochen. In diesem Jahr klöppeln sie. Was auch immer das sein mag.«
Bei dem Gedanken an Katharina, als brave Hausfrau eifrig in Handarbeiten vertieft, musste Jonathan schmunzeln: »Nein. Zuerst schreibst du deine Doktorarbeit zu Ende. Und dann lasse ich mir etwas einfallen.«
»Du bist ein Schatz, und ich liebe dich.« Seine Frau beugte sich vor und hauchte Jonathan einen Kuss auf die Wange.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und blickten in das Kaminfeuer. Jonathan dachte an die Bewohnerin des großen schwarzen Hauses. Auch in Waldberg, dem Dorf seiner Kindheit, hatte es eine wohltätige alte Dame gegeben, eine Witwe. Die Erwachsenen mieden sie. Unter den Kindern galt sie als Hexe. Dabei hatte sie durch reichliche Spenden den Neubau des Kirchendachs ermöglicht. Sie hatte sich schließlich ganz zurückgezogen. Als sie starb, fand man sie erst drei Wochen später. Sie musste sehr einsam gewesen sein. Jonathan erzählte Katharina davon.
»Sei es, wie es sei«, schloss er. »Ich werde der Herrin einfach ein Billett schicken. Gleich morgen.«
»Und ich werde dich begleiten«, stimmte Katharina begeistert zu. »Die alte Dame möchte ich unbedingt kennenlernen. – Denkst du auch, es war ihre Kutsche?«
Jonathan schauderte bei dem Gedanken an das düstere Gefährt, das niemand gesehen haben wollte. »Ich glaube schon. Aber ich werde das die alte Dame selber fragen. – Komm, lass uns zu Bett gehen.«
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Sie hatten ihren Wein ausgetrunken und fühlten sich angenehm bettschwer. Gemeinsam waren sie ins Schlafzimmer gegangen und hatten sich für die Nacht bereit gemacht.
Katharina lüftete stets kurz vor dem Zubettgehen noch einmal das Schlafzimmer. Dazu öffnete sie jetzt weit die Flügel des Fensters und schrak zurück. Direkt vor dem Fenster war ein zu einem komplizierten Knoten geflochtenes Seil gespannt: ein Roibenknoten.
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Ich liebe es, wenn meine Feder über das jungfräulich-weiße Papier gleitet. Wenn man mich einmal fragen sollte, was ich in all den Jahren, die ich bereits auf Erden verbringe, für die größte Schöpfung der Menschheit halte, so wäre ich in diesen Augenblicken versucht, zu sagen, es sei der Füllfederhalter.
Doch kaum wird man jemals eine solche Frage an mich richten. Schon die Bitten sind ängstlich stotternd vorgebracht. Die Bittenden sind froh, wenn sie es hinter sich gebracht haben, und verlassen mein Haus fluchtartig. Auch meine Diener begegnen mir mit ängstlicher Ehrfurcht, was das Gespräch unmöglich macht. So bleiben mir in meiner Einsamkeit nur meine Bücher, mein Papier und mein Füllfederhalter, um mir Zerstreuung zu bereiten.
Der neue Amtsrichter und seine Frau sind heute in Broiversum eingetroffen. Ich habe das Licht in den oberen Etagen des Gerichtshauses gesehen. Dort wohnen sie, wie all ihre Vorgänger. Und wie bei all ihren Vorgängern ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie an meine Tür klopfen.