Читать книгу Felix Morak / Meschkas Enkel - Helmut H. Schulz - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеDer Regen hatte aufgehört, aber die Schwüle wurde trotz des aufkommenden Sturms kaum gemildert. Der Frau im Pelzmantel standen Schweißtropfen auf der Stirn, die sie alle Augenblicke mit einem Taschentuch wegwischte; verdrossen öffnete und schloss sie das für die Jahreszeit zu warme Kleidungsstück.
»Das Wetter macht einen ganz konfus.«
Morak nickte und nahm ihr die Reisetasche ab. Sein Handgepäck bestand aus einem Koffer. Hanna trug ihre Sachen in einem Rucksack. Die kleine Gruppe hielt einen Augenblick unter einer mächtigen alten Linde, um deren Stamm eine Sitzbank herumführte, um die zu erwartende nächste Regenböe abzuwarten. Vor ihnen dehnte sich ein streng abgezirkelter viereckiger Platz, der mit zweistöckigen alten Gebäuden gleichförmig bebaut worden war und von der Pfarrkirche beherrscht wurde.
»Sag endlich, was du vorhast, Felix! Was tun wir hier?« fragte die Schwägerin.
»Mach den Anorak zu, Hanna«, sagte Morak im gleichen beruhigenden Ton wie zuvor im Auto, und wie vorhin, tat das Mädchen augenblicklich, was er ihr befohlen hatte, zog aber den Reißverschluss bis ganz nach oben.
»Mein Gott, dieses Trampel«, stieß die ältere Frau hervor. »Es geht ja nicht nach Sibirien.« Sie reichte Morak bis an die Schulter, der Pelz ließ ihre Figur kugelig oder unförmig erscheinen, aber sie trug hochhackige WinterstiefeI, über deren Schäfte ein dicker Wollrock fiel. Alles zusammen ergab eine recht merkwürdige unpassende Zusammenstellung.
»Was sind das bloß für Einfälle«, fuhr sie fort. »Das schöne alte Haus zu verkaufen, in dem meine arme Schwester geboren wurde, und in dem wir Geschwister alle aufgewachsen sind! Übrigens hast du gar kein Recht, es zu verkaufen. Ich hoffe, du kannst mir in die Augen sehen und mir erklären, wie du mit unserem Erbe umzugehen gedenkst! Ah, ja, du willst eine Frau suchen, vielleicht auch noch eine jüngere; da wirst du lange graben müssen, ehe du eine findest, die sich mit diesem Kalb da behängt. Daß ich nicht lache! Ist doch wahr!«
Morak, der dieses Gerede nicht ernst nahm, sagte versöhnlich: »Schwägerin Isolde, du hast es heute aber schwer mit den Wahrheiten. Lass uns gehen, es hat aufgehört zu regnen; komm man, ehe es wieder anfängt.«
Ihr selber vielleicht unbewusst, tat die Schwägerin, was er empfohlen hatte. Alle drei verließen also den Platz unter der schützenden Linde. Morak voran; er trat mit ganzer Sohle auf, und sein Gang hatte etwas Schwerfälliges, aber zugleich Rasches, Treibendes, daß Isolde Mühe hatte, an seiner Seite zu bleiben; sie kam bald außer Atem. Nur Hanna hielt Schritt mit ihm.
»Ich sage ja nichts«, fuhr Isolde leicht außer Atem fort, »gut, meine Schwester hat dir unser Haus zu Lebzeiten vermacht, daran ist nichts zu ändern, aber schließlich ist es mein Vaterhaus, viel mehr war es das. Sag wenigstens, wohin wir jetzt gehen, du Satan!«
»Wir gehen ins Hotel«, sagte Morak. »Ins Hotel? Und wozu? Bist du bei Troste? Wo wir bei meiner Schwester um die Ecke wohnen könnten? Für wie lange sollen wir dort bleiben? Denkst du, ich habe ewig Zeit? Übrigens, hast du den Anwalt ins Hotel bestellt?«
Da er schwieg: »Ich muss sowieso zu meiner Schwester, wir haben uns seit der Beerdigung unserer Maria nicht gesehen. Greta wird natürlich wissen wollen, was denn nun aus unserem Haus wird. Ihr wird die Spucke wegbleiben, wenn sie hört, daß du es verkaufen willst oder schon verkauft hast! Wozu du gar nicht berechtigt bist. Na, du kannst einen zur Verzweiflung treiben, Felix.«
Morak, der sie gut kannte und für weniger habgierig hielt, als sie sich gab, schob seine freie Hand unter ihren Arm, und sie winkelte sofort versöhnt den Unterarm an, in der Hoffnung, daß ihre Neugierde gestillt werde und daß sie ihren Willen bekam. Es sah aus, als wandelten da zwei friedliche Leute, ein älteres Ehepaar, ihren Weg, gefolgt von einer jungen zu dicken Tochter. Er führte sie untergehakt bis an das Ende des Platzes. Sie ahnte, wo der Stadtgang enden sollte.
»In den Adler?« Und als er nickte: »Du bist wirklich verrückt! Weißt du, was die hier für ein Zimmer nehmen? Ich bin außerdem nicht darauf eingerichtet, in einem noblen Hotel zu nächtigen, habe nicht mal genug Wäsche dabei, ich wollte zu meiner Schwester. Ach, ja, du hast ein schönes Leben, Felix, ein freier Mann mit einem Wagen, Hotels sind für dich an jeder Ecke gebaut. Du kümmerst dich nicht darum, daß die Leute mit Fingern nach dir zeigen.«
»Das möchte ich keinem geraten haben«, erwiderte er gleichmütig. »Also ich mach mir ein schönes Leben? Jeder Sack Kohlen wiegt einen Zentner, probier es mal, vierzig an einem Tag auf dem Buckel herumzuschleppen, mein Herz. Manchmal denke ich, daß die Leute Kohle geradezu fressen.«
»Ach, nein, doch nicht so, das habe ich nicht gemeint, du hast natürlich deine Arbeit«, sagte sie kleinlaut. Sie entzog ihm den Arm. »Seit meine arme Schwester tot ist, hast du dir übrigens einen Ton mir gegenüber angewöhnt!« Dann, wie um zu beweisen, daß sie mit beiden Beinen auf der Erde stand: »Was heißt herumschleppen? Ihr schüttet den Leuten die Kohlen ja doch bloß vor die Tür, für teures Geld.«
Sie hatten eine Kreuzung erreicht. Obwohl die Stadt nicht groß war, sperrte eine Ampel den Verkehr bald in die eine, bald in die andere Richtung, zum Zeichen, daß es voranging. Unsicher setzte Hanna mehrmals den Fuß vom Gehsteig auf den Damm, wagte es aber nicht, weiterzugehen. Dann wurde grün geschaltet und Morak sagte: »Jetzt kannst du, es ist frei.«
»Dieses Trampel kommt nicht einmal ohne dich über den Damm«, grollte die Frau an seiner Seite empört.
Erst als sie alle drei den Damm überquert hatten und auf der sicheren anderen Seite standen, gab er eine kurze Antwort. »Na, Trampel! Hanna sieht keine Farben, und ich habe sie nun mal. Deine Schwester hat sie geholt. Soll ich sie jetzt wie Katze ersäufen?«
Da er sich endlich zu stellen schien, lebte seine Schwägerin auf.
»Wer redet davon? Du kennst immer nur heiß oder kalt.
Ich meine es ehrlich mit dir; du bist nicht dumm, Ingenieur immerhin, das ist doch was, du siehst noch ganz gut aus «, log sie, und weil er abwehrte, »lass mich ausreden! Die ist nicht bloß farbenblind! Hättest du Hanna nicht wieder dahin zurückbringen können, von wo sie herkam? In diesem Heim war sie gut aufgehoben, nicht?«
»Deine Schwester hat das so gewollt, Isolde«, sagte er trocken, »und so muss es erst mal bleiben.«
Sie errötete. »Ja, ich ahne so etwas. Obwohl ich einer Toten nichts Schlechtes nachsagen will, schon gar nicht meiner Schwester, muss ich leider feststellen, daß sie sich oft genug wie ein Kind aufführen konnte, eigensinnig, ein bisschen überkandidelt und, wie soll ich sagen, wehleidig. Vielleicht hättet ihr Kinder haben sollen, Felix. Natürlich hängt sich solch ein Ding an Menschen, die es gut mit ihr meinen, aber in einem Pflegeheim wäre sie jedenfalls besser aufgehoben, hätte fachliche Betreuung. Das ist wenigstens meine feste Meinung.«
Sie seufzte. »Aber du hast sicher ein gutes Stück Geld für das Haus herausgeschlagen, was?«
»Damit du endlich Ruhe gibst«, sagte er verärgert, »ich habe gar nichts herausgeschlagen, konnte ich auch nicht. Maria und ich haben in Gütertrennung gelebt, und heute gehört das Haus Hanna. Deine Schwester hat ihr alles hinterlassen, ich bin nur der Vormund. Wenn das Haus verkauft ist, kommt alles Geld zu ihren Gunsten auf ein Sperrkonto, viel mehr, es wird überwiesen, sobald der Verkauf genehmigt und rechtskräftig ist, falls es überhaupt dazu kommt. Da ihr beide Schwestern keine gesetzlichen Erben seid, wird es wohl so kommen! Das ist die ganze Geschichte, und der Notar wird dir das nachher alles erklären!«
Nach einer Weile sagte sie verdrossen: »Wie denn? Es gibt ein Testament, das uns alle enterbt?« Und als er nickte: »Und du kennst es? Das sieht ihr ähnlich. Das sieht meiner Schwester ähnlich, diese Hinterhältigkeit kenne ich noch aus unseren Kindertagen, dann wieder konnte sie lieb und selbstlos sein. Jetzt hat sie uns also doch noch einen letzten Tritt versetzt!«
Daß die beiden, Schwager und Schwester in keiner Gütergemeinschaft gelebt hatten, war ihr nicht nur unbekannt, sie fühlte sich auch hintergangen, wäre zu Lebzeiten ihrer Schwester allerdings nicht auf den Gedanken gekommen, der Mann dieser Schwester habe nicht das gleiche Recht an ihrem gemeinsamen ehelichen Besitz besessen. Es war durchaus nicht üblich; und die beiden hatten nach außen hin einträchtig gelebt. Nach Gründen suchend, weshalb die beiden ihr Habe getrennt hatten, fiel ihr ein, daß es im Leben ihres Schwagers eine dunkle Stelle gab, er war vorbestraft, hatte also gesessen, und zwar wegen eines Totschlages, wie gemunkelt wurde. Jedenfalls war aus der Verstorbenen damals nichts darüber herauszubringen gewesen, und die Neugier hielt sich unter den Geschwistern in Grenzen, bis alles in Vergessenheit geraten war. Nach einiger Zeit war der Zuchthäusler auch wieder aufgetaucht, und hatte ein Fuhrgeschäft eröffnet. Mit den Jahren hatte sich alles verwachsen.
Jetzt aber schien es ihr nötig, sich nach seinem Verbrechen zu erkundigen. Die Schwester hatte wie gesagt jedes Gespräch darüber abgebrochen. Daß Schwager Felix eine Untat, einen Mord begangen haben könnte, rückte in den Erwägungen wieder näher. Daß er zur Gewalttätigkeit neigte, wusste sie. Auf ihre vorsichtige Frage, wann sie denn diese Gütertrennung verabredet hatten, gab Morak bereitwillig Antwort: »Kurz danach.«
»So? Kurz nach, also nach deiner Entlassung aus dem Knast?«
Das passte nun wiederum nicht zu ihrer toten Schwester, die ihre Fehler gehabt hatte, aber nicht berechnend oder habgierig gewesen war und sich auch nicht von ihrem Mann damals trennen wollte, obschon sich genug Ohrenbläser fanden, die ihr dazu geraten hatten.
»Das verstehe ich nicht«, erklärte sie. »Und du hast diesem Testament zugestimmt? Du bist ein Narr, Felix, nein, manchmal bist du zu gut. Also, eines kann ich dir jetzt schon versichern, daß wir dieses Testament nicht anerkennen werden, Greta und ich, und uns allen, also auch dir, den Teil am Erbe sichern werden, der uns beiden Mädchen und auch dir als Witwer zusteht.«
Das klang kämpferisch. Morak kannte seine Schwägerin; er erinnerte sich daran, daß die drei Schwestern zu Lebzeiten Marias, seiner Frau, viel und gern geredet, geschnattert und geklatscht, und daß sie sich bisweilen heftig gestritten hatten. Er gab nicht viel auf die Ankündigung gegen das Testament vorzugehen. Die Energie der drei Schwestern hatte sich meist im Klatsch bei Kaffee und Kuchen erschöpft. So schwieg er, während sie weiter gingen und dem Hotel zustrebten.
»Nun, ich begreife, daß es dir schwerfällt, Hanna zurückzubringen. Da gibt es ja auch diese Pietät, wie man so sagt. Bitte, mag sie auch einen Teil aus dem Erbe bekommen. Aber alles? Nein! Ich sage dreimal nein! Gut, daß ich gekommen bin, als du mich gerufen hast. Konnte ich das denn ahnen? Ich will dir helfen, sonst bliebe alles bei dem, was meine Schwester gewollt hat, ich meine, soweit es Hanna betrifft.«
Morak traute seiner Schwägerin nichts Schlechtes oder Boshaftes zu. Für ihn war Isolde immer noch die Schwägerin, obwohl der Tod der Schwester ihre Beziehungen womöglich verändern würde.
»Nun, was sagst du?« drängte sie.
»Nichts, bin nur der Vormund Hannas. Da reden noch ein paar andere mit; die Klinik, der olle Professor, der sie behandelt hat, die Tunte von der Heimerziehung, das Vormundschaftsgericht, na, und so weiter. Übrigens weiß ich nicht einmal, was genau in dem Testament steht, also es gibt gar keinen Grund sich aufzuregen.« Er unterbrach sich. »Was in Hannas Kopf vor sich geht, das weiß keiner. Und übrigens, ich werde vielleicht bald wieder heiraten; wer kann schon allein leben? Kannst du es?«
»Natürlich«, sagte sie forsch, »ich tue es ja, und fühle mich sehr wohl dabei.«
Die Nachricht, daß er so kurz nach dem Tode seiner Frau schon wieder heiraten wollte, brachte aber doch einen neuen Gesichtspunkt in die Sache. Und das angebliche Wohlbefinden in ihren einsamen vier Wänden aufrecht zu erhalten, wäre ihr auch schwer gefallen; sie wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. Sie lebte ja allein, aber lebte sie wirklich und lebte sie gut? Das heißt, war sie glücklich, glücklicher als dieser Halbmensch Hanna?
»Sie hat über zehn Jahre bei uns gelebt, und die Klinik oder eine Gärtnerei will jetzt mit ihr so was wie einen Lehrvertrag schließen. Gartenarbeit, kann sie gut machen. Hanna ist willig, und sie ist angenehm, angenehmer als manch ein sogenannter Gesunder. Leben kann sie bei mir oder bei uns, mal sehen, wie es sich ergibt.«
»Weshalb soll sie denn nicht ins Heim zurück, wenn die ihr einen Lehrvertrag geben?«
»Weil sie es nicht will«, sagte er mit Nachdruck.
»Ach? Die hat auch einen Willen? Der du alles sagen musst? Na, weißt du! «
»Das wird sich alles demnächst finden«, erklärte er, das Thema wechselnd. »Du könntest mich bei meiner Neuen ein bisschen herausstreichen. Wer bin ich denn? Hätte ich keine Papiere, besser gesagt, keine Vergangenheit, wüsste keiner, daß ich überhaupt auf der Welt bin.«
»So ein Unsinn«, warf sie entschlossen ein, »ein Kerl wie du!
Nun, wir werden ja sehen!« Nach diesem Gerede gingen sie weiter auf der Hauptstraße in Richtung Hotel.