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Kalter Kaffee erinnerte mich an die Zeit vor etwas weniger als einem Jahr im Seemannshaus, Haus Sonnenschein. Dort wohnte ich in einem Zweibettzimmer, zusammen mit Ewald, einem netten Jungen aus Malchow, dessen Braut nun wieder in Johanngeorgenstadt lebte. Er zeigte mir das Nest auf der Karte, es liegt im Bergland, tief im Süden, von uns aus gesehen.

Ein Seemannshaus ist immer eine Mischung aus Hotel und Besserungsanstalt, ganz egal, was drüber steht, Haus der Gewerkschaft, Klub der Solidarität, Boarding-House oder bloß Seemannsheim. Die einen wollen ihre Ruhe, die anderen einen Puff. Ruhe ist in einem Seemannshaus aber ein rarer Artikel, es herrscht ein ewiges Kommen und Gehen. Ich habe es erlebt, dass mein zweites Bett innerhalb einer Nacht zweimal neu belegt wurde. Jeder, der kam, öffnete eine Flasche Schnaps, wollte auf mein Wohl und Brüderschaft trinken.

Manchmal aber treffen sich hier auch Leute, die einander Jahre lang nicht gesehen haben, Freundschaften werden erneuert, Feindschaften auch. Es gibt aber wiederum Tage, an denen solch ein Laden wie ausgestorben erscheint. Getrunken wird immer, und zwar zuviel, und natürlich mangelt es an Frauen.

Mir fehlte bloß ein starker Kaffee. Ewald versprach, ihn zu kochen, und stöpselte das Kabel des Tauchsieders in die Steckdose. Die Hausordnung besagte, dass auf den Zimmern keine elektrischen Geräte in Betrieb gesetzt werden dürften, anders werde man hinausgeworfen. Die Folge war, dass in jedem Zimmer Wasserdampf für Kaffee, Tee oder Grog wie Seenebel stand.

Ich lag halb ausgezogen auf dem Bett und rauchte eine Gitanes. Ewald hatte mir eine Schachtel geschenkt, er selber vertrug den starken Tabak schlecht.

"Weshalb hast du diese Zigaretten gekauft, wenn du sie nicht rauchen kannst?", fragte ich.

"Der Chandler hat sie mir angedreht", sagte Ewald, "angeblich werden sie von Seeleuten geraucht."

Er hatte einen runden Schädel, harmlose blaue Augen und einen dünnen Ziegenbart, den er hegte und pflegte. Überall war der Körper dieses jungen Riesen mit weichem blondem Haar bewachsen, ein Küken im Flaum. Ewald bearbeitete täglich zwei Stunden lang einen Expander, um seine Muskeln zu stärken. Die Federn des Gerätes hingen nach kurzer Zeit schlaff und ausgeleiert an ihren Griffen. Ewald musste sie häufig erneuern. Auf meine anerkennende Bemerkung über seine Körperkräfte antwortete Ewald bescheiden, er müsse viel mehr trainieren, wenn einmal etwas aus ihm werden solle. Bei diesem und anderem Gerede wurde der Kaffee kalt. Ich schluckte ihn, denn Ewalds Erzählungen fesselten mich sehr. Er fuhr als Maschinenassistent auf einem Frachter, war also ein armes Schwein.

Ewald besaß einen Schuhkarton mit Fotos von seiner Braut, Porträts, mit Perücke, ohne Perücke, Brustbilder, Ganzbilder, die Braut im Badeanzug. Sie hatte eine nette Figur, nur schien sie mir etwas zu winzig für den Riesen Ewald. Aber Fotos täuschen ja leicht über die richtigen Größenverhältnisse. Bei Gruppenaufnahmen - Ewalds Braut führte anscheinend ein geselliges Leben - standen auf den Rückseiten die Daten und die Namen der jungen Männer. Das alles regte Ewald natürlich mächtig auf. Mir sagen Fotos nichts, vielleicht weil sie einem zu oft gezeigt werden, aber Ewalds Sammlung fand doch mein Interesse. Fährt man lange mit denselben Leuten, kennt man zuletzt deren Familien wie seine eigene.

"Glaubst du, dass sie mit all den Jungens was hat?", fragte Ewald melancholisch.

"Ach woher", sagte ich, um ihn abzulenken, "denk lieber an was anderes."

Das könne er nicht, sagte Ewald, er müsse eben dauernd daran denken.

"Und wenn du dir hier was suchst, für den Übergang?", schlug ich vor. Auf dem Bett liegend, kam ich mir ziemlich weise vor mit meinen vierzig Jahren und der Erfahrung, dass man nehmen soll, was man kriegen kann, ohne sich einzubilden, ein anderer müsse erfolgloser sein als man selber. Flüchtig dachte ich wohl auch an Imke, ohne den Wunsch, sie wiederzusehen. Nicht mal ihr Bild konnte ich mir herstellen, strengte meine Fantasie aber auch nicht sehr an.

"Alle Frauen sind irgendwie gleich", sagte ich.

Zum Dank für diese Lebenshilfe nannte mich Ewald einen Swinegel.

"Es geht mir doch nicht darum", sagte er aufrichtig und schlicht.

"Es geht immer darum", erwiderte ich, mir das Riesenküken mit der Kinderseele in Ruhe betrachtend. "Schmutzige Gedanken hat auch immer nur der andere."

Ewald entzog mir die Fotos und packte sie zurück in den Schuhkarton.

"Wenn es dir nicht darum geht, was grämst du dich dann?"

Für Logik war Ewald zugänglich, nicht aber für die Erleuchtungen leicht vorgeschrittenen Alters.

"Ja, warum?", sagte er hintersinnig. "Ich liebe dieses Mädchen eben, scheint es." Er schien mir sehr bewegt.

"Du hast nur zu wenig Erfahrung", sagte ich.

Mir schwante nicht, dass ich selber reif war für eine Erfahrung, als ich nach unten ans Telefon gerufen wurde. EM brabbelte was von Gästen, stinklangweiligen, einem Lampionfest bei ihm Zuhause und einem großen Reinfall. Ich solle mir ein Taxi nehmen und rauskommen. Eine Frau könne er mir zeigen, wie ich noch keine gesehen.

Von Frauen hatte ich eigentlich genug, und für EMs verflossene Bräute hätte man ein Hochhaus gebraucht. Deshalb sagte ich: "Mann, jetzt ist es Klock halbneun. Jetzt rin in die Plünnen, bin ich vor zehn nicht bei dir da draußen. Krieg du mal hier ein Taxi."

Es war eben ein angebrochener Abend.

Aber ich war schon entschlossen, rauszufahren. EM ist ein alter Freund, einer meiner ältesten, und ich bin ihm was schuldig. Ich vergesse den Wintertag auf unserem Logger nicht, unter Richards Kommando, es mögen nun fünfundzwanzig Jahre vergangen sein. Wir saßen in der Messe, was wir damals so nannten, ohne je eine richtige gesehen zu haben, zerschlagen, elend, heulend, frierend, in nassen Klamotten, überall grüne Kotze, die erstarrten Hände um Blechtassen gelegt, in denen der heiße Tee bei jedem Brecher überschwappte. Bis uns der unerbittliche Richard wieder an die Arbeit scheuchte, an das steifgefrorene Netz. Draußen packte uns der Nordwest wie junge Hunde am Genick. Wir Greenhorns standen es durch, schworen uns aber, nie wieder, EM, Klaus Dathe und ich.

Aber es kamen sonnige Tage mit gemütlichen Freiwachen, kam Heimkehr und Geld. Bald vergaßen wir die unmännlichen Regungen und gewöhnten uns, ausgenommen EM; Klaus und ich gingen bald darauf, als die Loggerzeit endete und die Hochseefischerei anfing, auf die Seefahrtsschule. EM strengte sich mächtig an, machte das Abitur, studierte Biologie, baute seinen Doktor.

Nichts gegen zu sagen, ich habe nichts gegen Erfolgreichere. Manch einer meiner alten Freunde ist heute Chief, Diplom-Ingenieur oder Kapitän, wie zum Beispiel Klaus Dathe. EM lebt auf der Sonnenseite, on the sunny side, mal eine Woche auf einem Forschungsschiff, mehr eine Vergnügungsreise, von unserem Standpunkt aus, dann wieder bei den Tauchern vor dem Riff im Roten Meer, auch so was wie ein Urlaub, ansonsten im Institut bei den anderen Erfolgreichen. Sieht einer mal raus, sagt: "Guck bloß, wie das saut! Schietwetter! Gut, dass wir binnen sind!" Sicher lege ich da ein falsches Maß an. Jedenfalls aber sind wir ziemlich auseinandergekommen. Und deshalb wunderte es mich, warum er ausgerechnet mich bei seiner italienischen Nacht haben wollte.

Auf dem Lampionfest war wirklich nicht viel los. Ein paar ältere Herren saßen mit ihren Damen herum, hörten Schallplattenmusik und tranken Cocktails, die EM mixte. Nun waren' die Frauen nicht gerade die Welt. Was Frauen betrifft, so ist EM sonst ein guter Fischer. Er selber präsentierte sich in einer Art Kakiuniform. Dabei fiel mir ein, dass mal ein hohes Tier angeordnet hatte, die Herren Fischer mögen sich endlich wie Marine fühlen und das schöne helle Zeug tragen, als obligatorische Dienstkleidung. Darauf trugen Dieselheizer und Techniker das feine Tuch sogar an der Maschine. Irgendein vernünftiger Mensch von Instrukteur hat die Weisung wieder außer Kraft gesetzt.

Es war eine warme Nacht, beinahe schwül. Unter einer Kette von Glühbirnen lauschte die Gesellschaft den Flöten und Geigen und den bellenden Kötern aus der Nachbarschaft. Die Frauen sahen aus, als wäre ihre eine Hälfte in Himbeersoße getaucht worden und die andere mit grüner Farbe angestrichen. Ich sagte mir, Ole, hier musterst du bald wieder ab, gehst mal in die Stadt, einen befahrenen alten Mann suchen, oder du flitzt ganz einfach raus nach Sassnitz zum ollen Clem und seinem Anisschnaps, aber um mich kümmerte sich sowieso kein Mensch. Die Leute hörten der Musik und den kläffenden Kötern zu, während sich EM bei seinen internationalen Cocktails abrackerte.

Weshalb war ich auf diesem blödsinnigen Fest?

Ich brannte mir eine von Ewalds Gitanes an und trank ein süßes fades Zeug. EM behauptete, so was tränken alle besseren Leute in der fernen Welt, zum Beispiel am Horn von Afrika, aber ich sagte ihm, mir wäre gerade eingefallen, wie wenig Zeit ich hätte.

Da erschien Melitta.

Sie kam ganz einfach aus dem Haus, das EM gehört, trat an den Tisch, wo ich saß, qualmte und trank und sah mich an. EMs bunte Glühbirnen verdarben mir fast den Anblick dieser Frau. Sie gab mir die Hand als einer ihr noch nicht bekannten Größe. Eine Ewigkeit lang hielt ich sie fest und grinste wie ein Dorfidiot. Sie versuchte, die Hand wegzuziehen, natürlich, aber sie lachte, nicht verwirrt oder zickig, sondern freundlich, erstaunt, nahbar, und jedenfalls kapierte sie, was mit mir passiert war. EM hat eben doch immer noch ein As im Ärmel, der Hund, der. Mir blieb nichts übrig, als ihr ihre Hand wieder zurückzugeben.

"Verzeihung", sagte sie ruhig mit einer auffallend tiefen Stimme, "ich verstand Ihren Namen nicht."

Ich nannte ihn, sah, dass EM selbstgewiss grinste, und verstand, dass ich im Begriff war, den dummen August zu spielen. Beim Hinsetzen stieß ich versehentlich ein Glas um, aber EM sagte, das mache nichts.

"Glück und Glas", sagte er leichthin, "du weißt Bescheid."

Die alten Knaben wurden dann noch ziemlich fröhlich. Es kam heraus, dass sie sich doch nicht soviel aus Flöten und Geigen und bellenden Kötern machten, wie ich angenommen hatte. Ein Gespräch kam jetzt ganz leicht zustande, ich meine, jene Art von Gespräch, bei welchem einem nichts gesagt und man auch nicht schlauer wird und die Maulsperre kriegt. EM führte mich zu einem Tisch, wo er seine vielen Buddels und Fläschchen aufgebaut hatte. So waren wir außer Hörweite.

"Habe ich den Mund zu voll genommen?", fragte EM albern.

"Hast du nicht", sagte ich, denn er hatte natürlich mitbekommen, welchen Eindruck dieses Mädchen auf mich machte, "aber Mann, die ist doch zu schade für dich."

"Im Gegenteil, Mann", sagte er, auf meinen Ton eingehend, "dieses Mädchen ist eine Frau, wie ich sie so bald nicht wieder finden werde. Außerdem ist sie geschieden und hat zwei Kinder. Ich werde sie heiraten."

"Du bist ja verrückt", sagte ich, "du und heiraten."

Mit uns beschäftigt, überließen wir Melitta sich selbst. Sie legte Tanzplatten auf und strapazierte die Gesundheit der älteren Herren, die allerdings von ihren Damen beaufsichtigt wurden.

"Wir werden uns doch nicht um eine Frau streiten", sagte ich, "Erik, wir zwei alten Fischer werden doch friedlich nebeneinander stippen können."

Mir war nach allem anderen, nur nicht nach diesem rotzigen Ton zumute. Ich wollte auch bloß wissen, wie er reagieren würde. EM sagte nichts, er ging böse glotzend zu seinen Gästen zurück. Ich tanzte auch ein paar Runden, eine mit Melitta, erzählte ihr auf Ihre Frage, was ich denn mache, ein paar Geschichten über Clemens Gib und von meinem Bruder Richard, also richtigen Menschen. Sie hörte aufmerksam zu, aufmerksamer als man einem lauscht, an dem einem gar nichts liegt, und ich spürte einen Druck in der Magengrube oder in der Herzgrube, falls es eine gibt, jedenfalls dort, wo das bisschen Gefühl sitzt, das man mit vierzig Jahren noch hat.

Melitta hörte also aufmerksam zu, und ich schloss aus ihrem Lachen, dass sie Humor besaß, und dass meine Sache nicht ganz hoffnungslos stand.

Dann scharwenzelte EM wieder ran. Melitta mattete die alten Herren ab, die ja auch nur Knochenbeilage waren in EMs Karriere, und sie lächelte mir hin und wieder beim Tanzen zu.

"Mach mir hier keinen Stunk, Olaf", sagte EM, "am besten, du gibst jetzt allen brav die Hand und legst unauffällig ab vom Kap der Guten Hoffnung, das für dich keins werden wird."

Er schien mir reichlich nervös für einen Erfolgsmenschen. Er hätte es lernen sollen, mit Niederlagen fertig zu werden. Er faselte noch etwas herum, erklärte, er sei schon weiter mit ihr, als ich in den paar Tagen, die mir blieben, kommen werde, quatschte was von meiner mangelhaften Bildung, die alten Zeiten wären eben vorbei.

"Bei mir sind sie auch vorbei," sagte ich. Rauswerfen konnte mich EM ja nicht ohne einen Skandal.

Der Himmel rötete sich vom Frühlicht, die albernen bunten Glühbirnen verblassten gegen das große hohe Licht, und die Damen nahmen ihre erschöpften Männer aus dem Ring und steckten sie in die Autos. Sie warfen an Stelle ihrer Männer das Handtuch, was nur vernünftig war, und so endete das Lampionfest bei EM ...

Ich hatte ein Bild vor Augen: Die lange Dünung des Nordwestatlantik, graue Wellen bis zur leuchtend gelben Kimm, dick vereistes Metall, die Decks mit gefährlichen Schleisterbahnen überzogen, Reif in der Luft und einen langen, sonnigen und stürmischen Tag vor uns ...

Wir standen noch rum, schüttelten uns die Hände, dankten EM, versicherten ihm, es wäre der gelungenste Abend, den wir seit Langem erlebt hätten. Von meiner Seite war es die reine Wahrheit. Ich zerbrach mir den Kopf, was nun geschehen würde. Stimmte es, was EM behauptete, dann würde Melitta bei ihm bleiben. Aber da kam sie aus der Tür, einen Mantel umgehängt und eine kleine Tasche über der Schulter.

Merkwürdigerweise dachte ich bei ihrem Anblick nicht an Imke, sondern an Uwe, meinen Bengel von achtzehn Jahren. Es war eine lange Geschichte mit vielen unerfreulichen Wechselfällen, mit Trennung und Wiederfinden und noch mehr Trennung. Ich hatte nie in die Landwirtschaft ihres Alten gewollt, und Imke hatte immer was gegen das Herumtreiben draußen gehabt. Ich dachte aber an Ewalds Schuhkarton mit den Fotos seiner Braut aus Johanngeorgenstadt. Und natürlich konnte ich EMs dämliches Gesicht nicht übersehen, ein Bild der Sprachlosigkeit.

"Ruf mich an", sagte Melitta zu EM, nicht unfreundlich, aber doch reichlich kühl und nicht wie eine Liebende, aber er hatte ja auch nicht behauptet, dass sie ihn, sondern dass er sie haben wollte. "Bei Gelegenheit", setzte Melitta hinzu, "heute oder morgen, wie es passt." EM schluckte ein paarmal und sagte: "Morgen Nachmittag?"

"Hab ich Sitzung, glaube ich", sagte Melitta. Sie schob ihren Arm unter meinen, nichts hätte mich mehr überraschen können.

"Sind Sie gut zu Fuß, Herr Johannsen?", fragte sie. "Wir haben einen langen Weg vor uns." Das klang mir gut in den Ohren, gut und doppeldeutig.

Ich kam in den paar Tagen doch zum Ziel, ich spannte EM die Freundin aus.

Die blaue Barriere

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