Читать книгу Die blaue Barriere - Helmut H. Schulz - Страница 6
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ОглавлениеDas Haus meiner Mutter hatte einen gegiebelten Eingang. Links und rechts rankte sich Efeu empor, vermischt mit wildem Wein. Vor den niedrigen, fast viereckigen Fenstern des Erdgeschosses standen hohe Bauernrosen, zartrosa und violett; Kletterbohnen wanden sich um Stangen. Vorn, hinter dem weiß gestrichenen Lattenzaun wuchs eine dichte, rechtwinklig geschnittene Weißdornhecke. Im Vorgarten blühten noch Rosen und schon Dahlien einer Zwergsorte, die meine Mutter zog. Wohnräume und Küche nahmen das untere Stockwerk ein. Darüber lagen mehrere kleine Kammern, zwei davon mit Fledermausfenstern. Die mittlere Stube über dem Eingang hatte ein normales Fenster. Früher war das weit heruntergezogene Dach mit Schilfrohr bedeckt gewesen. Diese Bauweise der Dächer bricht den Wind und hält das Hausinnere warm. Aber noch zu Lebzeiten meines Vaters war das Dach mit grauen Biberschwänzen gedeckt worden, die auch schon wieder Moos angesetzt hatten.
Hinter dem Haus lagen ein großer Obst- und Gemüsegarten und ein hölzerner, mit Teerpappe gedeckter Schuppen. Kieloben, auf zwei Böcke gelegt, faulte oder moderte ein Ruderboot.
Mein Großvater hatte das Haus gekauft, es mochte an die hundert Jahre alt sein. Bedeutsam war die Lage. In dieser Zeile hatten sich einstmals Reeder, Kapitäne, Schiffer niedergelassen und später sogar einige Künstler. Unweit davon erhoben sich die neuen Gebäude der Seefahrtschule, aus kleinen Anfängen heraus entwickelt, herzoglich beschirmt. Während der Winterruhe hatten ein paar befahrene alte Leute der jungen Mannschaft ein bisschen Navigation und Seemannschaft beizubringen versucht oder die Jungens bloß das Schreiben gelehrt. Später ging es schon ordentlich zu, mit Privileg und Lehrbetrieb. Die Lehrer waren wegen ihrer Strenge gerühmt und berüchtigt. Wer in Wustrow durchfiel, der hatte in Hamburg oder woanders noch gute Chancen, Patent zu machen. So die Überlieferung, wahrscheinlich Lokalstolz und Märchen.
"Märchen", sagte Melitta, "natürlich, Provinzpatriotismus."
"Also gut, Märchen", sagte ich, "trotzdem wäre ich beinahe durchgefallen, es hat gerade man so gereicht."
"Weil du zu bequem zum Lernen bist, phlegmatisch, mein Junge."
Anna und Torsten stapften vor uns her, prall gefüllte Campingbeutel auf dem Rücken. Wir gingen hinterdrein, ich, den Seesack auf dem Buckel und einen Koffer in der gesunden Linken. Ich sollte den lahmen Arm viel bewegen und belasten und so tun, als wäre nichts. Die alte Leistungsfähigkeit würde sich vielleicht bei vollem Gebrauch, so schwer er auch falle, wieder einstellen. Eventuell müsse noch mal operiert werden, sagten die Doktoren.
Ganz traute ich den Sprüchen nicht, tat aber, was ich sollte. Übrigens fühlte sich der Arm von oben bis unten taub an.
Melitta trug einen Koffer und eine Reisetasche. Die Kinder waren uns weit voraus.
"Was mich jetzt interessiert, sind nicht diese ollen Kamellen", sagte Melitta, "ich war nämlich auch kein großes Licht. Mich interessiert deine Mutter."
"Da mach dich auf was gefasst", sagte ich. Den Rest des Weges schwiegen wir.
Mutter stand vor der Hauswand und versuchte, mit einem Bootshaken die Schwalbennester unter dem Dachvorsprung abzustoßen. Ich kannte das. Jedes Jahr, wenn die Schwalbenbrut ausgeflogen war, focht Mutter ihren Kampf mit den Nestern aus, aber im kommenden Frühjahr benutzten die Schwalbenpaare die verbliebenen Reste zum Neuaufbau ihrer Nester. Solange die Viecher brüteten, ließ meine Mutter die Nester unberührt. Obwohl sie uns bemerkt haben musste, ließ sie sich nicht stören. Über einem dunklen Kleid trug sie ein Umschlagtuch mit Fransen. Gelbweiß wie gehechelter Flachs schimmerte ihr dünnes, straff gekämmtes Haar. Ihre Nase war stark nach oben gebogen, nicht nur deshalb galt sie als hochnäsig. Wegen einer zu kurzen Oberlippe schien ihr Mund zu einem Lächeln geöffnet, aber sie lächelte selten. Presste sie die Lippen zusammen, dann entstand ein dünner scharfer Strich. Stahlblau glänzten ihre Augen unter großen dreieckigen Lidern. Ich bin mir nie ganz klar darüber gewesen, was vorzuziehen, ihr Lächeln oder ihr geschlossener Mund. Im Grunde kam es auf eins heraus.
Endlich, als wir fast schon in der Haustür standen, machte Mutter einen kleinen Schritt auf uns zu. Sie heftete ihren Blick auf Melitta, ließ ihr verwirrendes Lächeln sehen und erreichte, dass die Junge sie zuerst grüßte.
"Herzlich willkommen", sagte meine Mutter. Ihr Gruß klang weder herzlich, noch enthielt er einen leisen Ton, der Brücken schlagen will.
Ich hatte alles vorausgesehen.
Melittas Gesicht zuckte, aber sie beherrschte sich.
"Tag, Mudder", sagte ich.
Sie stellte den Bootshaken weg, wischte sich die Hände an einem Tuch ab und gab mir ihre knochige harte Hand. Ihr Blick suchte in meinen Augen, glitt zu Torsten und wanderte hinüber zu der halb erwachsenen Anna.
"Das ist eine gelungene Überraschung", sagte Mutter.
Dann nahm sie Torsten den Campingbeutel ab und strich ihm leicht über den Kopf. Er duckte sich wie ein Küken, über das der Schatten eines Habichtes fällt. Anna stellte sich außer Reichweite und löste den Riemen ihres Beutels selber. Mutter übersah es.
"Sollen wir hier eigentlich stehen bleiben?", fragte Anna patzig.
"Nein", sagte meine Mutter, hielt Melitta die Hand hin, als fiele es ihr erst jetzt ein, diese fremde Frau zu begrüßen, und wir betraten das Haus.
"Das hättest du mir sagen müssen", murmelte sie mir unwirsch zu, als wir in der Diele standen.
Ich hatte ihr nichts gesagt oder nicht alles gesagt. Ich lag im Krankenhaus in Rostock. Unzufrieden mit dem Heilverlauf, umlungerten mich ein paar Doktoren. Ihnen genügte mein kaputter Arm nicht, sie zapften mir Blut aus Venen, Ohrläppchen, Fingerspitzen, um herauszukriegen, was mir sonst noch fehlte. Das alles wäre zu ertragen gewesen, ohne diese ruinierende Diät, die mir verordnet worden war. Nach Alter und Größe übergewichtig, in diesem Punkt waren sich die Doktoren einig. Was Orkan und Eisgang nicht vermocht hatten, das brachten sie innerhalb weniger Wochen fertig. Meine eigene Mutter erkannte mich nicht wieder.
Sie saß an meinem Bett, ließ ihre schweren Augendeckel langsam herunter und hinauf und befühlte meinen Arm. Der Gips war runter, mein Arm operiert und bloß noch verbunden.
Sie fragte nach dem Zweck der Operation, da es sich doch nur um einen Bruch gehandelt habe, und ich sagte, die Sehnen und Nerven hätten geflickt werden müssen.
"Das hätte ich nicht machen lassen", sagte Mutter missbilligend.
Mein Fall brachte sie auf allerlei Geschichten über Unfälle anderer Leute. Was sie amüsierte, erzählte sie stets in Plattdeutsch.
"Wi sitten da bisamm bi Magows, un ick guck nachn Haben, da buten is dat as swart as de Nacht. Na, segg ick to min Möddersch, Tört und Schlagsahn, dat is nu vörbi. Nix wi to Hus. Magows wiern ja woll ook to Bed gahn, up mal wierd dat düster. Wat denkst du, Ole? Is dat Dach up dat Hus fallen un nix passiert!"
Da hielt ich es für angezeigt, ihr von Melitta zu erzählen, ohne die Kinder zu erwähnen.
"Ach", sagte Mutter verblasen, "wo kann man das Mädchen denn sehen?"
"Im Gerichtssaal."
Nachdenklich erwiderte sie, es sei eben schwer, in einem Lande redlich zu bleiben, wo alles durch Gesetze geregelt werde.
Ich winkte mit der gesunden Linken ab. "Was hat sie denn angestellt?", fragte Mutter.
"Sie hat nichts angestellt. Sie ist Richter."
"Ach? Richter? Ein Mädchen?" Sie ließ eine Pause eintreten.
Gespannt studierte ich ihr langes energisches Gesicht, erwartete noch andere Fragen, aber Mutter sagte nach einer Weile: "Du solltest dich mit Imke wieder vertragen, Olaf. Du hast doch einen großen Sohn."
Das war alles, was ich zu dem Fall Melitta von Mutter zu hören bekam.
Ich sagte so etwa, nu lass das mal Mutter, wir sind jahrelang auseinander, der Junge ist groß, ich muss ja auch mal zur Ruhe kommen, und schließlich hast du das deine getan, um uns auseinanderzubringen, jetzt ist das allens zu spät.
"Heute denk ich eben anders darüber", sagte sie.
Ich drehte mich zur Seite, wie man sich zur Seite drehen kann mit einem verbundenen Arm. Meine Mutter ging.
Später schickte sie dann überraschend die Einladung, Melitta mit eingeschlossen, der wir jetzt nachgekommen waren.
Wir hätten den Urlaub besser zu Hause verbringen sollen. Das wurde mir klar, als wir ins Wohnzimmer traten. Hinter dem nur für drei Personen gedeckten Tisch, einem ovalen Vehikel mit gedrechselten Beinen, stand unser altes Sofa mit einem Aufbau darüber. An den Wänden hingen Ölbilder. Segelschiffe waren darauf mit sorgfältig ausgepinselter Takelage, kabbeliger See und großen leserlichen Schriftzügen, dem Namen des Eigners, dem Baujahr, alles weniger kunstfertig als peinlich genau gemalt. Auf Kunst legte meine Mutter auch keinen Wert. Zu den Bildern stand sie in sachlicher Beziehung, sei es, dass sie den Eigner gekannt, sei es, dass ein Mitglied ihrer weitverzweigten Familie einen Part an dem betreffenden Schiff besessen hatte. Beinahe bis zur Jahrhundertwende war den Frachtenseglern noch eine kurze Zeit beschieden gewesen; daran hatten die Johannsens ihren Anteil gehabt.
In dem Vertiko befand sich eine Sammlung exotischer Kinkerlitzchen, für welche alle Seeleute eine Schwäche haben. Lackschachteln, Sandelholzfächer, die nie ein Mensch im Norden gebrauchte, Ketten aus Korallenstücken, Muscheln, präparierte Fische. Das Prunkstück der Sammlung aber war eine meterhohe Vase aus Muscheln, ein wahres Monstrum. Auch die Buddelschiffe fehlten nicht. Neben der alten Standuhr mit den riesigen Messinggewichten hing das Patent meines Vaters, vergilbt und gerade noch lesbar.
Für mich waren es Familienerinnerungen, überschattet durch andere Erfahrungen im Beruf wie im Leben. Die Bilder und Sammlungen interessierten mich auch genau nur so viel, als sie Erinnerung waren. Für Mutter war alles noch Gegenwart.
Torsten betrachtete den Trödel mit großen Augen, auch Anna musterte verstohlen die ihr neue Umgebung. Befriedigt von der Wirkung ihres Museums, versprach Mutter den Kindern, ihnen bei Gelegenheit alles zu zeigen. "Jedes Stück da hat seine Geschichte", behauptete sie.
"Leider bringen meine Söhne heute gar nichts mehr mit."
"Richard lässt dich immerhin grüßen", sagte ich, "er will sich mal blicken lassen, während wir hier sind."
"Er will sich schon ein halbes Jahr lang blicken lassen", sagte Mutter, "nämlich wegen dieses Hauses. So bald kriegt er mich aber hier nicht raus, es sei denn mit den Füßen zuerst." Und mit einem schlauen Blick zu Melitta: "Fürchtet ihr euch allein mit mir? Soll er deshalb herkommen?" Trocken sagte sie: "Ich kenne meine Söhne. Kaum erwachsen, machten sie sich davon."
"Wegen des Hauses?", fragte ich. "Was heißt das denn?"
"Das lass dir man von ihm selber vertellen." Mutter schüttete Kaffeebohnen in eine Handmühle; ihre großen harten Hände drehten mühelos die Kurbel. Ich bemerkte, dass Torsten aufmerksam zusah; sicher hatte er noch nie eine Handmühle in Betrieb gesehen.
"Kommt das Geld richtig an, das ich dir schicke?"
"Wie soll es nicht ankommen", sagte Mutter. "Weshalb fragst du?"
"Weil ich nie was davon höre", sagte ich.
"Soll ich mich für jeden Groschen bei dir bedanken, Ole?", fragte sie. "Übrigens brauchst du mir gar nichts zu schicken. Ich komme auch ohne das aus, und du wirst ja jetzt zu knabbern haben."
"Wieso? Wieso sollte ich zu knabbern haben?"
"Na, ich habe jedenfalls, was ich brauche, und werde keinem von euch zur Last fallen."
Sie goss heißes Wasser auf den Kaffee in ihrer alten blau gemusterten Kanne, schnitt Kuchen auf und verteilte die Stücke auf unsere Teller.
"Wo sollen wir schlafen?", fragte ich.
"Oben, wo sonst? Ich habe mit zwei Personen gerechnet, nicht mit vier. Bettwäsche habt ihr mit? Ihr müsst sehen, wie ihr zurechtkommt."
Beim Auspacken in den Kammern schlug ich vor, wieder abzureisen, ich tat es Melittas wegen. Sie setzte sich auf das bezogene Bett und machte ein nachdenkliches Gesicht.
"Wir werden sehen", sagte sie entschlossen, "abreisen können wir immer noch. Die Kinder haben sich auf den Ausklang ihrer Ferien an der See gefreut. Ich habe nicht erwartet, mit offenen Armen aufgenommen zu werden, und du hättest ihr natürlich von den Kindern erzählen müssen. So geht es ja wirklich nicht."
"Anders wäre es noch weniger gegangen", sagte ich, "ich kenne meine Mutter und die drei Wochen können uns sehr lang werden."
"Also, abgemacht, bleiben wir?", fragte Melitta.
"Einverstanden, solange du es aushältst."