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Morgendämmerung

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Die ersten Vögel zwitschern in den Bäumen, als Ferdinand auf dem Weg zur Wohnstelle den Platz vor dem Neubau der ‘Municipality’ überquert. Es ist still im Dorf. Die Menschen schlafen noch, und die Hunde und Katzen machen es ihnen nach. Ferdinand schließt die Tür auf und streift die verschwitzten Sandalen von den Füßen. Er setzt sich auf den Terrassenabsatz und zündet eine Zigarette an. Im Geiste sieht er die junge Frau hilflos im Bett der ‘Intensiv’-Station liegen, zu schwach, um über das, was vorgefallen ist, zu weinen. Sie liegt kraftlos da und weiß vielleicht gar nicht, dass sie schwanger ist. Willenlos überlässt sie sich dem Schicksal, dem Arzt und den Schwestern, die Entscheidung über Leben und Tod zu treffen.

Es ist ein Phänomen der Zeit, dass junge Menschen trotz der Unabhängigkeit und Freiheit nicht glücklich sind. Sie bedrohen das Leben anderer Menschen und nehmen sich selbst das Leben. Sie tun es mit Messern, wenn sie wie die Verrückten in die Brustkörbe und Bäuche stechen. Sie tun es mit Pangas, die sie wie Schwerter schwingen, wenn sie auf Köpfe einschlagen und sie spalten, als müsse das Holz kleingehackt werden. Sie tun es mit Schusswaffen, die von den Exilanten ins befreite Land gebracht wurden. Die Kalaschnikows und andere Waffen kamen mit genügend Munition zurück, um das Schießen nach der Unabhängigkeit weiter zu betreiben.

Es ist daher ratsam, einem Mann, der bewaffnet aus dem Exil zurückgekommen war, nicht auf die Nerven zu gehen. Je dümmer er ist, desto größer ist die Gefahr der Verrohtheit, dass er Gebrauch von der Waffe macht. PLAN (People’s Liberation Army of Namibia)-Kämpfer wurden in den Familien voll integriert, was bei ehemaligen Koevoet-Angehörigen die Ausnahme ist. Es gibt in fast jeder Familie eine Waffe, mit der geschossen und getötet wird. Vergeblich hat die Regierung die PLAN-Kämpfer aufgerufen, sämtliche Schusswaffen abzugeben. Viele sind dem Aufruf nicht gefolgt, was bedeutet, dass man sich nach der Unabhängigkeit Namibias, wie in anderen afrikanischen Ländern, mit einer Schusswaffe sicherer fühlt.

So ist in den ersten Jahren der Unabhängigkeit viel an menschlichem Vertrauen erstochen, zerhackt und erschossen worden. Es ist unbegreifich, wenn einer jungen, werdenden Mutter in den Bauch geschossen wird, was leider kein Einzelfall ist. Außer der Mordrate von Schwarzen an Schwarzen ist auch die Selbstmordrate in der schwarzen Bevölkerung nach der Unabhängigkeit steil angestiegen. Junge Menschen hängen sich an den Bäumen auf. Ihre Körper hängen respektlos und baumeln von Fliegen umschwärmt sinnlos daher. Es trifft die Familien in der jungen Freiheit schwer. Sie können den Grund nicht begreifen, warum es geschieht. Zudem kommen die Morde, die die Schwarzen an den Weißen begehen. In diesen Fällen entkommen die Mörder meist der Strafverfolgung.

Die Zeichen der Zukunft stehen nicht so gut, wie es vor der Unabhängigkeit erhofft worden war. Die Menschen haben nicht den Trost und die Zuversicht gefunden, die sie zum Neubeginn in der Freiheit brauchen. Junge Menschen finden ihre Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllt. Sie finden keine Arbeit, auch dann nicht, wenn sie einen Schulabschluss haben. Sie sehen aber, wie die gutbezahlten Posten an diejenigen gehen, die ihre Beziehungen zu Ministern, Staatssekretären und Parlamentariern haben, die der regierenden Partei angehören. Opportunismus und Vetternwirtschaft haben von Beginn an Löcher in die Vertrauenswürdigkeit des jungen Staates geschlagen. Die oben leben in Saus und Braus, da wird abgesahnt. Und für die große Masse der Menschen unten bleibt wenig oder gar nichts übrig. Ein Sack Maismehl kostet etwa soviel, wie ein Rentner im Monat an Rente bezieht. Da bleibt die Frage, wie sich damit leben lässt.

Die Folge sind Prostitution und Kriminalität, denn von der Luft allein lässt sich nicht leben. Die, die als Sekretäre, Direktoren, Schreiberlinge oder Sekretärinnen an den Schreibtischen in den klimatisierten Büros des aufgedunsenen Verwaltungsapparates des Staates sitzen und dort auf Staatskosten privat telefonieren, sich die Nägel lackieren und auf die nächste Teepause mit belegten Brötchen warten, schauen auf die herab, die es zu diesem Status nicht geschafft haben und weiter auf der Straße sitzen. So haben sich die Bande der Höchst- und Hochbezahlten zu den schmerzlich Unterbezahlten, was die Rentner als ‘senior citizens’ sind, drastisch gelockert. Da sind die Fäden des Vertrauens und der Zusammengehörigkeit gerissen, vor allem zu jenen Alten, die für die Unabhängigkeit die großen Opfer gebracht haben. Daran haben bislang die großen Lippenbekenntnisse der großen Führer wenig beziehungsweise gar nichts geändert.

Die Straßen füllen sich mit kurzberockten Mädchen mit den prallen Brüsten und Gesäßen. Hinter ihnen stehen, kommen und gehen die jungen Männer, die die Fotoapparate den Besuchern von den Hälsen und die Handtaschen von den Armen und aus den Händen reißen. Sie reißen und zerreißen noch viel mehr und greifen im Vorübergehen den Ahnungslosen in die Taschen und stehlen die Geldbörsen. Als Zuhälter sind sie gnadenlos. Sie nehmen und sahnen ab, schlagen beim ersten Widerwort ins Gesicht und bumsen jeden Widerstand weich. Dabei sind die Gefängnisse seit der Unabhängigkeit hoffnungslos überfüllt.

Nach Jahren der Frustration kehren Mädchen und junge Frauen aus der Stadt in ihre Dörfer im Norden zurück. Einige bringen das HI-Virus mit. Es sind jene, die es wissen, und die anderen, die es nicht wissen. Männer stecken junge Mädchen mit dem Virus an, die sich sexuell hergeben, und jene, die sich nicht wehren können. Es ist absehbar, wann aus dem kontaminierten ‘Teich’ das verseuchte Meer wird. Es wird Folgen haben, die in der Vielzahl der Zusammensetzungen nicht absehbar sind. Heimkehrer in der überwiegenden Zahl sind dankbar, wieder den gewohnten Mahangu-Papp zu bekommen und einen sicheren Schlafplatz zu haben. Ohne Widerspruch gehen sie aufs Feld, hacken den Boden, sehen nach den Ziegen und holen Wasser von den Brunnen. Sie tun, was ihre Mütter und Großmütter getan haben. Mit dem HI-Virus kommen allerdings neue Herausforderungen auf die Familien zu. Das besonders dann, wenn die jungen Mütter kräftemäßig verfallen und an Aids sterben. Dann muss die Großmutter mit ihrer kleinen Rente die Enkelkinder ernähren und aufziehen. Glück ist, wer von den elternlosen Kindern noch eine Großmutter hat.

Ferdinand stellt sich unter die Brause und macht sich frisch. Er ist abgespannt und müde. Doch ist an Schlaf, wie in so vielen Nächten, nicht zu denken. Die Hähne krähen in halbstündlichen Abständen den Morgen ein, und die Sonne schickt ihre ersten Strahlen über den Horizont. Es ist Donnerstag, und Ferdinand muss ohne den philippinischen Kollegen zurecht kommen, der an diesem Morgen mit seiner Frau nach Windhoek fährt, um seine beiden Töchter mit Beginn der Schulferien von der Konventschule abzuholen. Ferdinand zieht seine Sachen an, ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und eine weiße Hose, und trinkt eine Tasse Instant-Kaffee. Er drückt die Zigarette auf der Untertasse aus und zieht die Sandalen an. Er verschließt die Eingangstür und steckt das Vorhängeschloss in die Gittertür. Er nimmt den kurzen Weg zum Hospital. Sonnenstrahlen ziehen durchs Laubwerk der Bäume und tauchen die Ostwand des neuen städtischen Verwaltungsgebäudes in grelles Licht. Vögel zwitschern den morgendlichen Wechselgesang und erfreuen sich auf ihre ‘gregorianische’ Art über den Anbruch des Tages. Ihre Gesänge erinnern an die kurzen Klavierstücke von Maurice Ravel, der sagte, dass es vor allem die singenden Vögel sind, die ihn zum Komponieren motivieren.


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