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Von der chirurgischen Bürde

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Auf dem OP-Tisch liegt ein zwölfjähriger Junge mit einem Knochensarkom im linken Oberschenkel. Der birmanesische Kollege mit dem fernöstlichen Schlafzimmerblick beziehungsweise dem tiefhängenden rechten Oberlid leitet die Narkose ein. Dr. Ferdinand hat die Hände gewaschen und kommt im grünen OP-Kittel in den OP. Der Junge schläft. Die OP-Schwester hat das Bein mit der braunen Desinfektionslösung gesäubert und den übrigen Körper mit sterilen Tüchern abgedeckt. Sie hält dem Operateur das Skalpell entgegen.

Ferdinand ist in Gedanken versunken. Innerlich entschuldigt er sich bei dem Jungen, dass er ihm das Bein abschneiden muss. Dann sieht er im tiefem Schmerz auf den verstümmelten Jungen, wenn er das abgeschnittene Bein in den Händen hält. Die seelische Belastung ist besonders groß, wenn er einem Kind den Arm oder das Bein abschneiden muss. Ferdinand sieht in der Sekundenmeditation auf die Hand der OP-Schwester. Dann fasst er das Skalpell und beginnt die Operation mit dem Fischmaulschnitt der Haut.

Die durchtrennten kindlichen Gefäße bluten unschuldiges Leben ins OP-Feld. Die großen Gefäße werden abgeklemmt, durchtrennt und ihre Enden unterbunden. Die Muskelansätze werden vom Knochenschaft gelöst und die Weichteile nach oben zurückgeschoben und hinter dem Weichteilteller zurückgehalten. Weit oben wird der Knochenschaft mit der oszillierenden Säge durchtrennt. Dann hält Ferdinand das kindliche Bein in den Händen. Beim Anblick des verunstalteten kindlichen Körpers und des abgetrennten Beines kommen ihm die Tränen. Er hat dem Jungen die physische Integrität verstümmelt und ihm damit die natürliche Lebensfreude für immer weggenommen. Ferdinand übergibt das Bein einer Schwester, die es in einem ausgebreiteten grünen Tuch in Empfang nimmt und auf dem Boden in eine doppelte Papierlage einwickelt.

Im Geist bittet er das schlafende Kind erneut um Entschuldigung, dass er an ihm eine so grässliche Operation ausgeführt hat. Ein kurzer Stumpf bleibt zurück, an dem die kleineren Blutungen koaguliert werden. Die scharfen Kanten des Knochenstumpfes werden glatt gefeilt, und die beiden großen Beinnerven werden unterhalb der Leiste durchtrennt. Dann vernäht Ferdinand schichtweise die Weichteillefzen über dem Stumpf und wickelt den Verband an.

Der Narkosearzt zieht den Atemtubus aus der Luftröhre des Kindes und setzt ihm die Atemmaske für den Sauerstoff aufs Gesicht. In der stillen Anteilnahme aller, die an der Operation beteiligt waren, wird der Junge vom OP-Tisch auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren. Es ist Ausdruck des tiefen Mitgefühl, dass es mehr Hände gibt als nötig sind, um den Jungen vom OP-Tisch auf die Trage zu heben.

Es gibt eine kurze Teepause. Der kleine Teeraum ist gefüllt. Die kubanischen Kollegen sitzen auf den durchgesessenen Polsterstühlen und trinken den Kaffee mit viel Zucker. Sie schweigen und schauen den gegenübersitzenden Kollegen zu, wie sie den Zucker in den Kaffee einrühren und schluckweise die Tassen leeren. Über dem Schweigen hebt sich das Verlorene in den Gesichtern ab. Es ist menschliches Frachtgut, das darauf wartet, abgeholt zu werden. Auf keinem Gesicht gibt es die Glätte der Zufriedenheit. Vielmehr sind es die Folien der menschlichen Ratlosigkeit und Unsicherheit, die den Gesichtern aufgeklebt sind. Auf einigen liegen die erstarrten Züge der Resignation, als sei die Freiheit im und fürs Leben eine Utopie und der Lebenswert nicht mehr als eine imaginäre Größe. So bewegt sich der Fortschritt asymptotisch und das nur schwer erkennbar. Aber ohne Menschlichkeit bleibt er eine Farce. Dann ist jeglicher Fortschritt das makabre Kunststück der Lüge, die schmerzt.

Der ukrainische Narkosearzt kommt in den Teeraum. Er sieht an Ferdinand vorbei und geht zur kleinen Durchreiche, wo er sich die Tasse mit Tee füllt und den Zucker einrührt. Dem Durchreisegesicht hat er die steife Maske des Unberührbaren mit der Nichtansprechbarkeit aufgesetzt. Mit den arrhythmischen Paroxysmen des Augenzwinkerns bemüht er sich, die randvolle Tasse auf die zerkratzte schmale Tischplatte zu setzen, was ihm misslingt. Währenddessen irrt Dr. Ferdinand zwischen Fortschritt und Fortschrittsdenken hin und her. Beim Anlegeversuch der gedachten Asymptoten verliert er die Orientierung, dass es zum vorzeitigen Aus des Fortschritts kommt.

Das Sein oder Nichtsein vom Seinwollen oder Nichtseinwollen zu trennen, unterliegt einem strengen Denkprozess, der kein Ende hat. Zu oft liegen irgendwelche Trümmer von wertlosen, aber auch wertvollen Dingen, wie es die Integrität ist, herum und blockieren als Stolpersteine den Weg. Die Einheit von Mensch und Kosmos ist entweder zerfranst oder geplatzt. Jedenfalls fällt der Mensch nach unten durch. Er krampft an der Daseinsschwere als Folge der mangelnden Vorstellungskraft und der permanenten Unvernunft.

Dabei liegt der schöpferische Geist dicht dem weiten Schleier der unverstandenen Freiheit auf, die mit dem Mangel an Verstand auch weiterhin nicht zu begreifen ist. So bleibt die Einbildung im Käfig der Umnachtung hängen. Es bedarf der irritierenden Offenheit und des drängenden Mutes, sich bis zu diesem Selbstgeständnis, was dem Selbstverständnis am nächsten kommt, vorwärts zu bewegen und am Gespräch des Menschseins über Lebenssinn und Verantwortung aktiv teilzunehmen.

Die Bürde des Chirurgen ist dazu angetan, sich an solchen Gesprächen zu beteiligen. Das um so mehr, wenn Arme und Beine an Kindern amputiert werden.


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