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Was leere Kleiderhaken noch erzählen

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Der letzte Patient auf der OP-Liste ist ein älterer Mann, der sein genaues Alter nicht kennt. Er hat das rechte Bein durch eine Landmine verloren. Wegen einer diabetischen Fußgangrän wird ihm nun das linke Bein entfernt. Die Operation macht aus dem Mann einen Zwerg, der zur Fortbewegung des verbliebenen Körperrumpfes auf das Brett mit den vier Rollen angewiesen sein wird. Der Patient wird auf die Trage gehoben und in den Aufwachraum gefahren. Ferdinand dankt dem Team für die gute Mitarbeit und verlässt den OP.

Im Umkleideraum hängen nur seine Sachen an einem Haken. Die übrigen Haken und eingeschlagenen Nägel zum Aufhängen der Sachen sind leer. Beim Abnehmen von Hemd und Hose schaut Ferdinand in die Vergangenheit zurück, als an den leeren Haken die Uniformen der jungen Leutnants und die anderen Uniformen mit den breiten großsternigen Epauletten und den roten Längsstreifen an den Hosen der hohen Offizierschirurgen hingen. Diese Offiziere kamen dienstags und freitags vom Militärlazarett in Ondangwa, um am Hospital schwierige Operationen durchzuführen und mit den jungen Leutnants die akademische Saalrunde zu machen. Freitags gab es noch die akademische Stunde ab zehn Uhr, in der die Professoren in Uniform Vorlesungen über chirurgische Themen von praktischer Relevanz gaben.

Unter den Uniformen steckten hervorragende Ärzte, die von Patienten und Schwestern verehrt wurden trotz der allgemeinen Abneigung gegen die Uniformträger der südafrikanischen Besatzer. Da gab es den jungen Dr. van der Merwe, der bei der Arbeit am Menschen auf seine Uniform keine Rücksicht nahm. Oft verließ er gipsbekleckert den orthopädischen Behandlungsraum. Der andere hervorragende Arzt war der junge Kollege, der mit Verstand und Herz bei der Arbeit an den kranken und verletzten Menschen war. Dieser Kollege schrieb in seiner Freizeit an einem Buch über die Probleme der Rassentrennung in einer Liebesbeziehung im Südafrika der weißen Apartheid. Auch der hohe Offizier, der der Chirurgie am Kalafong-Hospital in Pretoria vorstand, war ein beseelter Arzt als Chirurg und damit ein Vorbild in den harten Zeiten der Not und des Krieges mit den unmenschlichen Auswüchsen der Verrohung und den großen Leiden der Menschen in ihrer Rechtlosigkeit.

Sicher waren die uniformierten Ärzte, die das menschliche Gesicht der echten Anteilnahme an den Nöten der Menschen der schwarzen Haut über ihre Uniform setzten, die Ausnahme, aber es hat diese Ärzte gegeben, und sie sollen als leuchtende Beispiele in der Erinnerung unvergessen bleiben.

Ferdinand hat das Zivile angezogen und verlässt den Umkleideraum. Er geht zum Untersuchungsraum 4 im ‘Outpatient department’, um vor der Mittagspause noch Patienten zu sehen, die sich auf den Wartebänken stauen. Es ist ein heißer Tag. Die alte, ratternde Klimaanlage schafft es nicht mit der erforderlichen Kühlung. Das ist auch nach der Unabhängigkeit so geblieben. Die Klimaanlagen sind alt. Manche tun es überhaupt nicht. Ärzte und Schwestern, die hautnah am Patienten arbeiten, um sie zu untersuchen und zu behandeln, müssen weiter schwitzen. Dazu kommen die scharfen Schweißgerüche. In dieser Hinsicht hat sich das Alte mit seinen Mängeln geradlinig über die Zeitschranke hinweg ins Neue verlängert.

Nach der Unabhängigkeit ist auch geblieben, dass der Verwaltung ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Das ist im Gegensatz zu den medizinischen Abteilungen, wo der ihnen gebührende Stellenwert entweder weiter übersehen oder weiter nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Arbeit am kranken Menschen hat weiterhin im Schweiße des Angesichts und des Körpers zu erfolgen. Ganz gegensätzlich dazu sind die klimatisierten Büros des ärztlichen Direktors, des Superintendenten und der übrigen Verwaltung. Die gut gekühlten Räume sind auch mit bequemen Polsterstühlen und Schreibtischen ausgestattet. Dort werden die Tee- und anderen Pausen pünktlich eingehalten. Jeder der beiden Spitzenärzte der Verwaltung hat zudem eine Sekretärin, die ihnen den Tee mit dem Sandwich servieren. Die Papierkritzeleien auf den Schreibtischen mit dem Zusammenzählen, Abziehen oder Malnehmen von Zahlen gehen weiter. Taschenrechner werden auch bei kleinen Zahlenoperationen benutzt. Weiter geht das Führen privater Telefongespräche und anderer Dinge auf Kosten der Allgemeinheit, die es vor der Unabhängigkeit in diesem Ausmaß nicht gegeben hat.

Die monatliche Verteilung der Lohnstreifen war von großer Bedeutung geblieben. Was neu war an den ‘Pay’-Tagen, waren die Warteschlangen, die sich schon früh morgens vor den Fenstern der Ausgabe bildeten. Für diese Streifen wurde die Arbeit in den Krankensälen und anderswo im Hospital für eine Stunde und mehr unterbrochen. Die Gesichter der Wartenden zeigten keinerlei Skrupel, dass in dieser Zeit die Arbeit an den Patienten vernachlässigt wurde.

Das Argument, dass das Schwitzen den Arbeitsstress erhöhte und deshalb gesundheitsschädlich war, war so alt, wie es Menschen in der Politik und der Verwaltung gab, die diesbezüglich für sich selbst vorgesorgt haben. Dass es außer ihnen noch Menschen gab, die die harte Arbeit unter den extremen Bedingungen taten, das hatte für die Klimatisiert-Privilegierten eine nur geringe oder gar keine Bedeutung. Vielmehr trachteten die Privilegierten zielstrebig nach immer neuen Privilegien. Das brachten sie fertig ungeachtet der Armut, die sich unter den Menschen unten ausbreitete. Bei der Privilegierung und dem Streben nach dem Mehr gab das eingerahmte Präsidentenfoto hinter dem Schreibtisch an der Wand die nötige Rückendeckung. Das Foto konnte auch an der Vorderwand hängen, das mit dem Präsidenten einen ständigen Blickkontakt signalisierte. Es verwunderte nicht, wenn von den Privilegierten der Wunsch ausging, mit dem Präsidenten im ständigen Sprechkontakt zu stehen, auch dann, wenn es durchs Telefon war. Je näher man am Präsidenten war, desto höher gingen die Erwartungen nach größeren Privilegien.


Die Beobachtung fasste Dr. Ferdinand in drei Punkten zusammen:

1 Es besteht ein Mangel an Ärzten. Es gibt zu wenig Ärzte, die gewillt und kompetent sind, direkt und verantwortlich am kranken Menschen zu arbeiten. Die ärztliche Arbeit verlangt die volle Konzentration und den ganzen Menschen. Abwegige Gedanken sind bei der ärztlichen Arbeit zu unterlassen. Abwegig sind alle opportunistischen Übungen und Anstrengungen, die darauf abzielen, einen höheren Posten mit der höheren Bequemlichkeit im vollklimatisierten Büro mit separatem Telefonanschluss und eigener Sekretärin zu erklimmen. Das geschieht auch im Wissen, dass bei dem höheren Gehalt für die weniger anstrengende Arbeit am Schreibtisch ein Dienstwagen und ein komfortables Haus zur Verfügung gestellt werden und weitere Vergünstigungen noch hinzukommen. Diese ‘Turnübungen’ führen von der direkten Arbeit am Patienten weg, dem zu helfen es die ursprüngliche Absicht war, über das Studium der Medizin den Beruf des Arztes zu ergreifen.

1 Der Arzt hat seine Leistungen am Patienten weiter zu erschwitzen, vorausgesetzt dass er die harte Arbeit bei der permanenten Überforderung weiter durchzuhalten gewillt ist und auch durchhält und diese Arbeit nicht aus gesundheitlichen oder anderen Schwitzgründen an den Nagel hängt.


1 Der Patient hat ungeachtet der politischen Schwankungen und Ambitionen des Arztes im Zentrum des ärztlichen Denkens und Handelns zu bleiben. Der Patient verdient die kompetente Medizin, die über die Anwendung der technischen Geräte hinausgeht. Der Patient verdient in der Achtung vor seiner Würde die Medizin mit dem menschlichen Antlitz.


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